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Sarah Everard ist tot. Ich bin wütend, ich bin traurig, ich bin es so leid. (Illustrationen von mir)

Wie viele noch?

Sarah Everard ist tot, die Royals sind rassistisch und gleich zwei prominenten Männern wird Sexismus und übergriffiges Verhalten vorgeworfen. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW10

Montag, 8. März

Der 8. März ist „Internationaler Frauentag“, oder wie ich ihn inzwischen nenne: Feministischer Kampftag. Denn unter den patriarchalen Strukturen leiden bei weitem nicht nur Frauen. Während der Kapitalismus den „Frauentag“ nahezu vollständig verschlungen hat und uns mit geschenkten Rosen und Rabatten zu besänftigen sucht, steht der feministische Kampftag für Wut, Protest und FLINTA*-Solidarität. Angesichts der herrschenden Verhältnisse reichen unsere Kämpfe über den der 8. März hinaus. Jeder Tag ist feministischer Kampftag! Denn das Patriarchat ist jeden Tag. Täglich müssen wir uns gegen Ungerechtigkeiten wehren, Benachteiligung im Job, sexistische Sprüche im Fußballstadion, flintafeindliche Schlagzeilen, misogyne Kommentare über unser Aussehen, unseren Kleidungsstil, unseren Beziehungsstatus, unsere Reproduktionsentscheidung, unser Verhalten, unser Sein.

Wir kämpfen gegen stereotype Rollenbilder, gegen patriarchale Erwartungen, gegen die ungleiche Verteilung von Care Arbeit und Mental Load, gegen fragile Männlichkeit, gegen toxische Dudes. Wir kämpfen, wenn wir wieder und wieder auf die gleichen Sachen hinweisen müssen, auf all-male Panels, auf das generische Maskulinum in Formularen, auf fehlende Optionen für nicht binäre Menschen, auf die Diskriminierung von Schwestern mit Kopftuch, auf Rassismus und Antisemitismus, auf die Unsichtbarmachung von Menschen mit Behinderung, auf Rom*nja-Feindlichkeit, auf den Ausschluss von Sexarbeiter*innen und die toxische Heteronormativität.

Wir kämpfen, wenn wir cis Männer fragen, wieviele nicht-männliche Vorbilder sie haben, wenn Fußballnationalspielerinnen nur einen Bruchteil von dem verdienen, was die Männer bekommen. Wenn „Gender-Reveal-Parties“ veranstaltet werden, um die Genitalien von Ungeborenen zu verkünden. Wenn Magazine uns erklären, wie wir „Ihn“ befriedigen sollen, wenn Heidi Klum das Selbstbild minderjähriger Mädchen zerstört. 

Jeden Tag treffen wir Vorkehrungen zu unserem Schutz, gehen nicht mehr Joggen, wenn es dunkel ist, steigen in der Tram ganz vorne ein, um im Notfall an die Fahrer*innenkabine klopfen zu können. Wir überlegen nicht nur, ob wir uns selbst gefallen in einem Outfit, wir fragen uns, welche Sprüche es wohl provozieren könnte. Wir senden das Nummernschild und einen Livestatus an Freund*innen, wenn wir Mitfahrgelegenheiten nutzen, wir verabreden Dates mit Männern nur an öffentlichen Orten. 

Foto: Celestine Hassenfratz

FLINTA sein im Patriarchat heißt jeden Tag kämpfen. Ich habe deshalb den Montag genutzt um zu feiern. Ich habe die vielen großartigen Freundinnen gefeiert, die ich das Glück habe zu kennen. Ich habe die Vorbilder gefeiert, die mich empowern, die mich zum Weiterkämpfen inspirieren.. Ich habe mit Maske und Abstand am Demonstrationszug durch Berlin-Mitte teilgenommen und alle meine Geschwister gefeiert, die mit mir auf der Straße waren, laut und wütend, herzlich und solidarisch.

*FLINTA steht für Frauen, Lesben, Inter-, non-binäre, Trans- und a-Gender-Personen.

Dienstag, 9. März

Die britischen Royals haben eine Erklärung abgegeben in Reaktion auf das TV-Interview von Oprah Winfrey mit Meghan Markle und Prinz Harry. Das Ehepaar hatte über ihre Erlebnisse in der Königinnenfamilie gesprochen, u.a. erzählten sie davon, dass sich die Windsors besorgt gezeigt hätten, dass der damals noch ungeborene Sohn zu dunkel geraten könnte. Auch habe es von Seiten der Familie generell kaum Unterstützung für Meghan gegeben. Die heute 39-Jährige habe sich alleingelassen und hilflos gefühlt und ernsthafte Suizidgedanken gehabt. Vor allem die Boulevardpresse hetzte von Anfang an in rassistischer und misogyner Weise gegen Meghan. Auch hierzulande wurde der Rassismus der Medien immer wieder deutlich, wenn es zu Berichterstattung über die Duchess of Sussex kommt.

Das für mich einzig bemerkenswerte an der Aufregung um das Interview ist die (gespielte?) Überraschung über den Rassismus der Royal Family. I mean… Eine Familie, die seit Jahrhunderten von der Kolonialisierung, Unterdrückung, Ausbeutung und Entrechtung ihres „Commonwealth“ profitiert, die der white supremacy buchstäblich die Krone aufgesetzt hat, ist rassistisch! Breaking News! Was kommt als nächstes: „Schrecklicher Verdacht: War Ted Bundy ein Frauenfeind?“

Mittwoch, 10. März

Auf Zeit Online ist eine lesenswerte Recherche von Alice Bota und Lena Sambuk erschienen. Sie handelt von „der Macht der Männer und der Ohnmacht der Frauen in einem Land, in dem es bis heute kein Gesetz gibt, das vor häuslicher Gewalt schützt. Und sie handelt von der Frage, was drei Teenager dazu bringt, ihren eigenen Vater zu töten“. Die Autorinnen zeichnen die Geschichte von drei Schwestern in Russland nach, die wegen der Tötung ihres Vaters vor Gericht stehen. In einem Land, in dem das Sprichwort „Schlägt er dich, dann liebt er dich“ noch weit verbreitet ist, sorgt der Fall für eine kleine Erosion. Die Gesellschaft ist gespalten, viele fordern die Freilassung der Schwestern, Krestina, Angelina und Maria, die zum Tatzeitpunkt gerade mal 19, 18 und 17 Jahre alt waren.

Donnerstag, 11. März

Die Europäische Union hat sich selbst zur Freiheitszone für queere Menschen erklärt. Ein entsprechender Antrag im EU-Parlament wurde mit großer Mehrheit angenommen. „Juchu“, jubeln die Leute, die trotz Frontex-Einsätzen und Moria immer noch stolz ihren blauen EU-Hoodie tragen und einfach alles wegignorieren, was ihrem eurozentrischen Selbstbild von Freiheit und Demokratie Kratzer verpassen könnte. Solange die EU Menschen abschiebt und an den Außengrenzen in Lagern kaserniert, will ich von ihrer Heuchelei nichts wissen, auch nicht, wenn diese in Regenbogenfarben angemalt wird. Ich habe ja eh den Verdacht, dass dieser Move nur davon ablenken soll, dass die EU diese Woche den Weg für Waffenexporte freigemacht hat. Zukünftig kann die EU „militärisches Gerät wie Handfeuerwaffen, Geschütze, Haubitzen oder Kanonen an Länder in Krisenregionen liefern“. Dafür wurde ein hübsch klingendes Paket geschnürt, das unter dem Namen „European Peace Facility“ (EPF) ein „Instrument zur Stärkung der Kapazitäten von Drittstaaten sowie regionalen und internationalen Organisationen in Militär- und Verteidigungsfragen“ sein soll. Als Trägerin des Friedensnobelpreises weiß die EU ja schon längst, dass die Flüchtlingsabwehr am besten in den Herkunftsländern stattfinden sollte. Wenn die Menschen dort erschossen werden, sorgen sie nicht auf den griechischen Inseln oder in Bosnien für unschöne Bilder.

Die Femizide der Woche

In Schwalbach in Hessen wurde am Donnerstagabend eine 59-jährige Frau getötet. Tatverdächtig ist ein 25-Jähriger, der die Frau in mit mehreren Messerstichen tödlich verletzt haben soll. Die Tat hat sich in der Wohnung eines 59-jährigen Mannes ereignet, der mit Täter und Opfer bekannt gewesen sein soll. Die Polizei konnte den Tatverdächtigen nach einer umfangreichen Fahndung vor der Wohnung seiner Eltern stellen. „Obwohl er zwei Schwerter in der Hand hatte, gelang es den Polizisten, ihn nach einem Handgemenge zu überwältigen und festzunehmen“, heißt es in der FAZ.

Ein weiterer Femizid ereignete sich in Chemnitz. Hier fanden Mitarbeiter*innen eines Pflegediensts am Freitagmorgen die Leiche einer 89-jährigen Frau. Die Polizei geht von einem Tötungsdelikt aus und nahm den 84-jährigen Ehemann der Frau fest.

Freitag, 12. März

Am Freitag wurde es Gewissheit: Sarah Everard wurde getötet. Die 33-Jährige wurde seit dem 3. März vermisst, nachdem sie auf dem Heimweg spurlos verschwand. Die Londonerin war auf dem Weg nach Hause, telefonierte noch mit ihrem Freund und wurde von einer Überwachungskamera gefilmt, dann nichts mehr. Bis am Freitag die Polizei vermeldete, dass es sich bei einer gefundenen Leiche um Sarah handelt. Dringend tatverdächtig ist ein 48-jähriger Polizist, der die Frau entführt und getötet haben soll.

https://twitter.com/fanvonfu/status/1370480287717732355?s=20

Sarah Everard ist eine von vielen Frauen, für die das Grauen Realität wurde. Jedes Mädchen lernt, dass es gefährlich ist, nachts allein unterwegs zu sein. Es gibt vermutlich keine weiblich gelesene Person, die nicht diese Angst kennt. Wir sind es gewohnt, Vorkehrungen zu treffen: Wir vermeiden es, nächtliche Wege allein zu gehen und wenn doch, täuschen wir Telefonate vor, wir halten den Schlüsselbund in der Faust, lassen uns abholen, nehmen wenn möglich lieber das Auto als den Bus, laufen Umwege, weil diese besser beleuchtet sind, tragen flache Schuhe, um notfalls rennen zu können und so weiter. Es ist so normal, dass viele noch nie darüber nachgedacht haben, dass es so nicht sein müsste. Es ist so normal, dass die Londoner Polizei in Reaktion auf das Verschwinden von Sarah Everard Frauen empfahl, nachts nicht mehr rauszugehen – zu deren eigener Sicherheit, versteht sich. Wäre es da nicht sinnvoller, eine nächtliche Ausgangssperre für Männer zu verhängen? Schließlich geht die Gefahr eindeutig von Männern aus. Für Frauen sowieso, aber auch für andere Männer. Wenn wir Frauen raten, im Dunkeln nicht mehr raus zu gehen, geben wir denjenigen die es trotz Warnung tun, im Falle eines Übergriffs eine Mitschuld. Das muss aufhören! Es wird Zeit, dass wir den Fokus weg von den Frauen und weiblich gelesenen Personen nehmen und auf die Männer richten! Wer sind die Täter? Es sind Brüder, Söhne, Ehemänner, Väter, Kollegen, Nachbarn. Sie sind Teil der Gesellschaft. Natürlich ist nicht jeder Mann ein Täter, aber so gut wie jeder Täter ist ein Mann. Darüber müssen wir sprechen. Erst wenn wir die systemische Dimension von männlicher Gewalt thematisieren, wenn wir anerkennen, dass Femizide keine Einzelfälle sind, dann haben wir eine Chance, voranzukommen. Ich will nicht, dass Mädchen in Angst aufwachsen und auch noch glauben, dass sei „eben so“. Ich will, dass wir anfangen das Problem ernst zu nehmen und gemeinsam an Lösungen arbeiten.

Wir müssen aufhören, Männer aus der Verantwortung herauszuhalten. Es reicht einfach nicht, kein Täter zu sein und dafür noch Applaus zu erwarten. Männer müssen aktiv dazu beitragen, die Straßen für uns alle sicherer zu machen. Ich wünsche mir, dass alle Männer, die das hier lesen sich selbst reflektieren und ehrlich darüber nachdenken, wie wir das Problem angehen können. Ich wünsche mir, dass sie anfangen, mit anderen Männern darüber zu reden, warum es „normal“ ist, dass Frauen Angst haben.

Ich bin es leid, auf die zarten Gefühle von Männern Rücksicht nehmen zu müssen, wenn ich darüber spreche, dass es für weiblich gelesene Personen eine reale Gefahr ist, vergewaltigt und getötet zu werden. Ich will nicht jedes Mal wieder bei den Basics beginnen und meine Energie darauf verschwenden, fragilen Männeregos zu versichern, dass ich selbstverständlich nicht sie persönlich meine. Ich will nicht um die Solidarität von cis Männern betteln müssen und auf Samtpfoten herumschleichen, um sie nicht zu verprellen.

Ich will einfach nur nach Einbruch der Dunkelheit spazieren gehen ohne Angst!

Samstag, 13. März

Zehn Frauen haben eine Beschwerde gegen Klaus Dörr bei Themis, der Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt, eingereicht. Dörr, der die Berliner Volksbühne seit 2018 interimsmäßig leitet, werden zahlreiche Vorwürfe gemacht, die taz zitiert aus einem Brief von Themis an die Senatsverwaltung für Kultur, Arbeitgeberin von Klaus Dörr: „enge, intime, körperliche Nähe und Berührungen, erotisierende Bemerkungen, anzügliche Witze, sexistische Sprüche, Aufforderung zum Tragen von hochhackigen Schuhen, stierende Blicke, unverhohlenes Anstarren auf die Brust, unangemessene SMS, Upskirting, also heimliches Fotografieren unter den Rock, drohende Gebärden und verbale Einschüchterungen, ein vergiftetes Betriebsklima, in dem Mit­ar­bei­te­r*in­nen gegeneinander ausgespielt werden, Diskriminierung aufgrund des Alters der Betroffenen, Unterstützung bzw. Ermöglichung eines männlichen Überlegenheitsgefühls in Machtpositionen.“

Verena von Waldow, die heute Dramaturgin ist und am Schauspiel Stuttgart Assistentin des Intendanten war, sagt, Klaus Dörr habe ihr bei einer der vielen Premierenfeiern gesagt: „Du bist eine scheiß Assistentin, aber jeder will dich ficken.“ Er habe sie zudem zu einer Privatreise nach Griechenland eingeladen. Sie sagt: „Wir wussten alle, dass verschiedene Leute davon betroffen sind, Schauspielerinnen, Assistentinnen, Praktikantinnen auch leider. Für manche war das ein Scherz, und für manche war es richtig unangenehm, weil er auch derjenige war, der Verträge geschlossen hat, mit dem man verhandelt hat.“

Eine andere Mitarbeiterin der Volksbühne, die 63-jährige Silvia Rieger, sagt über Klaus Dörr: „Er erniedrigt die Leute, macht sie fertig, sodass sie entweder gehen oder nie wieder sagen, was sie denken.“ Sie fügt hinzu: „Es ist bei ihm auch Hass auf Frauen.“

Was der sehr lesenswerte taz-Artikel vor allem deutlich macht: die Strukturen an deutschen Theatern fördern den Machtmissbrauch und lassen damit sexualisierte Gewalt florieren. Prekär beschäftigte Schauspieler*innen, die in nahezu totaler Abhängigkeit von Regisseuren (in der Regel männlich) und Intendanten (ebenfalls überwiegend männlich) stehen.

Und wo wir schon bei übergriffigen Chefs sind

Julian Reichelt hat am Samstag den Axel-Springer-Konzern um seine Beurlaubung gebeten. Dem Chef aller BILD-Redaktionen (BILD, bild.de, Bild-TV) wird wiederholtes Fehlverhalten gegen Frauen vorgeworfen. Der Spiegel, der zuerst über die Vorwürfe berichtete, schreibt von „Machtmissbrauch und die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen“. Ist hier jemand überrascht?

Sonntag, 14. März

In Berlin haben heute Menschen gegen die Räumung des Obdachlosen-Camps an der Rummelsburger Bucht demonstriert. Das Camp war ein Rückzugsort für marginalisierte Menschen, vor allem Rom*nja, aber auch einige wohnungslose trans Menschen, die hier friedlich miteinander lebten.

Die Räumung Anfang Februar kam unangekündigt. Mitten in der Nacht rückten die Cops an und vertrieben die Menschen aus ihrem Zuhause. Nur eine weiterer Aktion des rotrotgrünen Senats zur Durchsetzung von Kapitalinteressen.

Dann waren da noch Wahlen heute:

Das Crowdfunding läuft auch noch!

Wir sind immer noch in der Crowdfunding-Phase unseres Buch-Projektes „Von hier aus gesehen“. Wenn ihr es nicht schon längst getan habt, unterstützt uns gerne mit einem Betrag eurer Wahl. Wir haben ein paar schöne Dankeschöns vorbereitet. Schaut euch einfach­­­ um: https://www.startnext.com/vonhieraus

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