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Protest in Jerewan, um auf die dramatische Lage in Bergkarabach aufmerksam zu machen. (Still aus der Arte-Doku)

Nicht verhältnismäßig

In Uganda droht einem schwulen Mann die Todesstrafe, in Bergkarabach droht ein Genozid und in Berlin droht eine Autobahn durchs Wohngebiet. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW35

Montag, 28. August

Einem 20-Jährigen droht in Uganda die Todesstrafe wegen „schwerer Homosexualität“. Wie verschiedene Medien am Montag berichteten, wurde gegen den Mann Anklage erhoben.  Der Angeklagte wurde gegen Mitternacht am 15. August zusammen mit einem 41-Jährigen auf einem Sportplatz in der ostugandischen Stadt Soroti von der Polizei festgenommen. Der ältere Mann sei noch am selben Tag wieder freigelassen worden. Die Behörden behaupten, es handle sich um einen Menschen mit Behinderung, der aufgrund seines „geistigen Zustands“ nicht in der Lage gewesen sei, sein Einverständnis zu sexuellen Handlungen zu geben. Damit begründet die Staatsanwaltschaft den „erschwerten“ Straftatbestand, für den der Angeklagte zum Tode verurteilt werden könnte. „Den Beschuldigten allein aufgrund seiner vermeintlichen sexuellen Orientierung einer Straftat anzuklagen, die mit der Todesstrafe geahndet werden kann, ist ein eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht. Uganda muss nicht nur das Anti-Homosexualitätsgesetz aufheben, sondern auch dafür sorgen, dass die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen gegen LGBTI+ in Uganda geahndet werden“, sagte Tigere Chagutah, Regionaldirektor für das östliche und südliche Afrika bei Amnesty International. Seit das Anti-Homosexualitätsgesetz in Uganda im Mai verabschiedet wurde, wurden mindestens fünf Menschen angeklagt, berichtet das „Human Rights Awareness and Promotion Forum“ (HRAPF) aus Uganda. Dazu kommt ein Anstieg der Übergriffe auf queere Personen. HRAPF zählte im Juni und Juli insgesamt 149 Fälle von Gewalt gegen LGBTQIA+.

Das Bündnis „Queere Nothilfe Uganda“ sammelt Spenden für Betroffene.

Dienstag, 29. August

Die Berliner Staatsanwaltschaft hat das Verfahren gegen Rammstein-Frontmann Till Lindemann eingestellt. Für dessen Anwälte und Fans ist das ein Triumph, sie feiern es wie einen Freispruch. Doch in Wahrheit besagt die Einstellung des Ermittlungsverfahrens nur, dass es keine strafrechtlich verwertbaren Belege für die mutmaßlichen Taten gibt. Von einem Beweis der Unschuld kann keine Rede sein. Die Betroffenen haben es schlicht vorgezogen, anonymisiert mit Journalist*innen statt mit der Staatsanwaltschaft zu sprechen. Christina Clemm, Strafverteidigerin, die gerade das Buch „Gegen Frauenhass“ veröffentlicht hat, erklärt im Deutschlandfunk, warum: „es gibt natürlich seit Aufkommen dieser Vorwürfe unglaubliche Angriffe auch gegen Betroffene (…) auf juristischer Ebene, aber auch im Netz, in der Öffentlichkeit werden sie beschimpft, werden sie als Lügnerinnen dargestellt, drohen ihnen erhebliche juristische und auch finanzielle Konsequenzen. Deswegen gibt es natürlich große Sorge auf Seiten von Betroffenen“. Warum sollte sich eine Betroffene diesem Terror aussetzen? Die Wahrscheinlichkeit, dass es ernsthafte juristische Konsequenzen für Till Lindemann und dessen mutmaßliche Mitwisser*innen gibt, ist verschwindend gering. Der Kriminologe Christian Pfeifer erklärte 2019: „Von Hundert Frauen, die vergewaltigt werden, erlebt nur etwa eine einzige eine Verurteilung (…) Das liegt daran, dass 85 Prozent der Frauen keine Anzeige machen, und dann gibt es folglich auch keine Verurteilungen. Und von den 15 Prozent die übrig bleiben, werden letztendlich nur 7,5 Prozent der Täter verurteilt. Das ist indiskutabel.“ Die Aussicht, von der Öffentlichkeit zerfleischt und Anwält*innen zerlegt zu werden, ist nicht attraktiv, vom Wiederaufleben lassen erlittener Traumata ganz zu schweigen. Und auch die Juristin Christina Clemm sieht die gerichtlichen Klärung der Causa Lindemann nicht als die entscheidende Konsequenz. Sie sagt: „wichtiger ist für mich tatsächlich, diese Strukturen anzugucken, also zum einen zu gucken, was gibt es für Strukturen, die Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe fördern, das andere ist was gibt es für Strukturen, die Frauen mundtot machen, wenn sie darüber berichten und warum sieht eigentlich niemand mal wirklich hin, deckt auf, sagt wir wollen in einer solch frauenverachtenden Atmosphäre, in einer solch misogynen Gesellschaft nicht leben.“

Mittwoch, 30. August

In Hamburg tötete ein 83-Jähriger seine 81 Jahre alte Ehefrau und anschließend sich selbst. Das Hamburger Abendblatt spricht von einer „Tragödie“ und spekuliert: „Es ist oft die pure Verzweiflung, die Menschen zu so einer, oft einvernehmlich begangenen Tat treibt.“ Oft einvernehmlich, nunja, das ist allenfalls eine Vermutung. Denn Belege gibt es dafür keine. Was hingegen belegt ist: Geschlechtsbasierte Gewalt führt in Deutschland jeden dritten Tag zur Tötung einer Frau durch ihren Partner oder Ex-Partner. Wenn die Getöteten lebensälter sind, werden die Femizide häufig eher achselzuckend zur Kenntnis genommen und dabei spielt Misogynie (sowie Ageismus) eine Rolle. Wenn eine „alte Frau“ stirbt, sei das ja kein Verlust, so die Logik, welchen Wert hat sie denn schon? Jungen Frauen wird ein gewisser gesellschaftlicher Wert zugesprochen (sie bekommen Kinder und ziehen sie groß, bzw. sind dazu potenziell in der Lage). Seniorinnen hingegen sind ohnehin fast unsichtbar, wenn überhaupt in der Rolle der gütigen Großmütter akzeptiert. Wird eine Rentnerin von ihrem Partner getötet, interessiert es schlicht niemanden (außer vielleicht die Angehörigen). Dabei ist Gewalt gegen Seniorinnen keineswegs selten. Die Initiative „bff – Frauen gegen Gewalt e.V.“ zitiert aus einer europäischen Studie zu Partnergewalt aus dem Jahr 2010, nach der über 9% der 60- bis 74-jährigen Frauen, die in einer Paarbeziehung leben, in ihrer aktuellen Partnerschaft körperliche und/oder sexualisierte Gewalt erfahren. Bei den über 75-Jährigen sind es 2,6 %. Unterstützung gibt es für diese Betroffenengruppe kaum.

Content Hinweis Suizid: Ich schreibe hier normalerweise nicht direkt zum Thema Selbsttötung, da mir bewusst ist, dass das Thema nicht nur belastend ist, sondern auch entsprechende Gedanken triggern kann. Wenn Du Unterstützung brauchst oder eine Person zum Reden, kann ich Dir sehr empfehlen, Dich an die Telefonseelsorge in Deutschland zu wenden unter 0800 111 0 111 oder das Info-Telefon Depression unter 0800 3344533.

Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass das Paar in Hamburg einvernehmlich handelte und ihrem Leben gemeinsam ein Ende setzte. Aber das wissen wir eben nicht. Was wir wissen: Der Mann tötete die Frau, in dem er ihren Herzschrittmacher mit Magneten manipulierte, und anschließend sich selbst. Menschen haben ein Recht auf selbstbestimmten(!) Suizid. Wenn sich eine Person dazu entscheidet, ihr Leben zu beenden, sollten ihr dafür sichere und legale Wege offenstehen.

Donnerstag, 31. August

Am Donnerstag verkündeten Bundesärztekammer und Paul-Ehrlich-Institut die Neuregelung der Zulassung zur Blutspende. Doch die neuen Richtlinien sind keineswegs weniger diskriminierend als die bisher gültigen. Die Ampel-Koalition hat die Beendigung der Diskriminierung schwuler Männer und trans Personen bei der Blutspende im Koalitionsvertrag festgeschrieben und beauftragte die Bundesärztekammer, eine neue Regelung zu treffen. Doch diese ist gescheitert. Sven Warminsky vom Vorstand der Deutschen Aidshilfe erklärte dazu: „Die neuen Regeln sind weder wissenschaftlich evident noch beenden sie die Diskriminierung. Die Bundesärztekammer hat es geschafft, die meisten schwulen Männer weiterhin auszuschließen, ohne dies klar zu benennen. Die neue Regelung hält sogar noch weitere potenzielle Spender*innen unnötig von der Spende ab“. Zukünftig sind alle Menschen von der Blutspende ausgeschlossen, die den letzten vier Monaten Analverkehr mit neuen Partner*innen hatten, Geschlechtsverkehr mit HIV-positiven Menschen hatten sowie pauschal Sexarbeiter*innen und deren Kund*innen. Eine wissenschaftliche Grundlage gibt es für diese Regelungen nicht. Es wird überhaupt nicht berücksichtigt, dass weder die Anzahl der Sexpartner*innen noch die ausgeübten Praktiken einen Einfluss auf das Ansteckungsrisiko mit dem HI-Virus haben, sondern einzig und allein die angewandten Schutzmaßnahmen, wie Kondome oder PrEP. „Geschlechtsverkehr mit HIV-positiven Menschen darf kein Ausschlussgrund mehr sein. Unter wirksamer HIV-Therapie – heute der Regelfall – gibt es beim Sex kein Übertragungsrisiko. Das hat gerade die WHO ausdrücklich bekräftigt“, stellt die Deutsche Aidshilfe fest und weist außerdem darauf hin, dass unter Sexarbeiter*innen HIV nicht häufiger ist als in der Gesamtbevölkerung. Kurz gesagt, die Neu-Regelung durch die Bundesärztekammer ist Schrott und außerdem: „Angebliche Monogamie ist keine verlässliche Schutzmethode“.

Freitag, 1. September

Ein Thema, das in unserer Aufmerksamkeit viel zu kurz kommt, ist die Situation in Bergkarabach. Schon Mitte August warnten internationale Expert*innen vor einem drohenden Genozid an der überwiegend armenischen Bevölkerung in der Region, die von Armenien und Aserbaidschan beansprucht wird. Zur Geschichte des sogenannten „Konflikts“, der seit Jahrzehnten für großes Leid unter der betroffenen Menschen sorgt, findet ihr hier eine übersichtliche Zusammenfassung. Am Freitag veröffentlichte der Spiegel eine Reportage aus Bergkarabach (Paywall) mit dem Titel „Wir werden den Winter nicht überleben“. Die Regierung des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew reduziert seit Monaten schrittweise die Versorgung der Menschen in Bergkarabach und kontrolliert die einzige Versorgungsroute aus Armenien, den Latschin-Korridor. Auch Hilfskonvois mit Lebensmitteln, Medikamenten, Hygieneartikeln und Babynahrung werden blockiert. Die Vizepräsidentin des Landtags von NRW, Berîvan Aymaz, fand am Freitag deutliche Worte: „Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das vor den Augen der Weltöffentlichkeit begangen wird… Nicht zuletzt die Lehre aus unserer Geschichte verpflichtet uns, nicht ein weiters Mal ein Verbrechen gegen das armenische Volk stillschweigend hinzunehmen!“

Samstag, 2. September

In Berlin haben am Samstag mehrere Tausend Menschen gegen den Ausbau der A100 demonstriert. Die Autobahn soll nach Plänen des Bundesverkehrsministeriums mitten durch den am dichtesten besiedelten Bezirk Berlins führen. (Mit 14.416 Einwohner*innen pro Quadratkilometer zählt Friedrichshain-Kreuzberg sogar zu den am dichtesten besiedelten Orten in Europa.) Dafür sollen nicht nur Grünflächen und dringend benötigter Wohnraum weichen, sondern auch mindestens fünf Clubs im direkten Umfeld des Ostkreuzes. Anstatt, dass auf den rund 70 Hektar, die für den Weiterbau der A100 reserviert sind, Wohnungen gebaut werden, lässt die Stadt die Flächen seit Jahren brach liegen. Nach Berechnungen des ium-Instituts für Urbane Mobilität könnten statt der Autobahn ca. 8.800 Wohnungen für bis zu 22.000 Menschen entstehen. Ein CDU-geführter Senat und ein Verkehrsminister von der FDP bilden aktuell die absolute Horrorkombi für die Zukunft der Hauptstadt. Fahrradwege sollen zurückgebaut, wertvolle Naherholungsgebiete wie die Wuhlheide dem Autobahnausbau geopfert und die A100 durchs Wohngebiet geführt werden. Es ist zum Auswachsen. Während Städte wie Paris, Oslo oder Barcelona auf eine autofreie Zukunft der Städte setzen, werden in Berlin Lärm und Gestank aktiv vorangetrieben.

Sonntag, 3. September

Markus Söder hat sich entschieden, an seinem Wirtschaftsminister und Vize-Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger festzuhalten. Eine Entlassung sei „nicht verhältnismäßig“. Ich habe keine Lust, mich hier schon wieder mit dem antisemitischen Dreck auseinanderzusetzen, den Aiwanger verbreitet hat („mutmaßlich“) und habe hier stattdessen eine nicht abschließende Liste von Dingen, die ich „nicht verhältnismäßig“ finde:

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