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In Berlin forderten rund 300 Menschen eine Überarbeitung des geplanten Selbstbestimmungsgesetzes.

Ein großer Schritt

Mexiko entkriminalisiert Abtreibungen, in Berlin fordern 300 Menschen ein neues Selbstbestimmungsgesetz und Bahar Aslan hat Erfolg vor Gericht. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW36

Montag, 4. September

Die Woche begann mit einem versuchten Femizid in meiner Nachbarschaft. In Berlin-Karlshorst stach ein 32-jähriger Mann in der Nacht zu Montag mit einem Küchenmesser auf seine schlafende Ehefrau ein und würgte seine sechsjährige Tochter. Mutter und Kind konnten sich aus der Wohnung befreien und befinden sich im Krankenhaus. Am Dienstag wurde bekannt, dass bereits am Samstag zuvor ein 24-Jähriger eine 57 Jahre alte Frau in einer Unterkunft für wohnungslose Menschen in Göppingen getötet haben soll. Der Täter soll mehrfach auf das Opfer eingestochen haben. Kurz darauf wurde er in seiner Wohnung in einem Nachbarort festgenommen. In Lichtenau-Holtheim (NRW) ershoss am Mittwoch ein 56 Jahre alter Mann, der Jäger gewesen sein soll, seine 50-jährige Ehefrau und anschließend sich selbst. Das „Westfalen-Blatt“ nennt das einen „innerfamiliären Konflikt“ und ich möchte einfach nur schreien. Am Freitag tötete ein 33-Jähriger eine 30 Jahre alte Frau mit einem Messer in einem Geschäft in der Innenstadt von Wiesloch (NRW). Der Täter soll kurz zuvor aus dem Psychiatrischen Zentrum Nordbaden geflohen sein, wo er nach einem Urteil des Landgerichts Heidelberg untergebracht wurde, so die Polizei. In Verden (Niedersachsen) griff in der Nacht von Freitag auf Samstag ein 31-Jähriger eine gleichaltrige Frau mit einem Messer an und tötete sie in deren Wohnung. Laut Polizei handelt es sich bei dem Täter um den Lebensgefährten oder Ex-Partner der Getöteten.

Dienstag, 5. September

Bahar Aslan, die wegen eines Tweets über rassistische Netzwerke in der Polizei von der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung (HSPV) in Gelsenkirchen gefeuert wurde, hat sich erfolgreich vor Gericht gewehrt. Im Mai hatte die Autorin und Dozentin getwittert: „Ich bekomme mittlerweile Herzrasen, wenn ich oder meine Freund*innen in eine Polizeikontrolle geraten, weil der ganze braune Dreck innerhalb der Sicherheitsbehörden uns Angst macht. Das ist nicht nur meine Realität, sondern die von vielen Menschen in diesem Land.“ Es folgte eine massive Hetzkampagne, u.a. geführt von der Bildzeitung, der Gewerkschaft der Polizei und zahlreichen rechten Trollen auf Twitter. Die Hochschule schloss sich diesen an und entzog der Dozentin den Lehrauftrag.  Die 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen entschied am Dienstag, „dass der Widerruf eines Lehrauftrages im Fach ‚Interkulturelle Kompetenz‘ voraussichtlich rechtswidrig ergangen ist“ und erklärte: „Damit kann die Antragstellerin ihren Lehrauftrag an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen (HSPV) vorläufig – bis zu einer Entscheidung über die Klage gegen den Widerruf – ausüben“. Eine endgültige Entscheidung steht allerdings noch aus. Bahar Aslan, die bei ihrer Klage von der Gesellschaft für Freiheitsrechte unterstützt wurde, sagte: „Die Entscheidung zeigt, dass der Rechtsstaat funktioniert. Es war rechtswidrig, mich als Lehrbeauftragte wegen einer kritischen Äußerung zu Rechtsextremismus in der Polizei abzusetzen. Jetzt muss die inhaltliche Debatte dort weitergehen, wo sie hingehört: In den Hochschulen, in der Gesellschaft.“

Mittwoch, 6. September

Am Mittwoch organisierte ich mit vier anderen die Kundgebung „Unsere Selbstbestimmung zu unseren Bedingungen“ auf der Wiese vor dem Bundestag. Rund 300 Menschen kamen, um gegen die aktuelle Version des geplanten Selbstbestimmungsgesetzes zu protestieren, die die Ampel-Koalition kürzlich im Kabinett verabschiedet hatte. Verschiedene Redner*innen äußerten auf der Bühne zahlreiche Kritikpunkte am Entwurf und forderten eine vollständige Überarbeitung. Gleich zu Anfang sprach Alexa über den parlamentarischen Entstehungsprozess des Gesetzes und machte deutlich, wie sehr die Grünen darin verstrickt waren, das ursprünglich fortschrittliche Vorhaben in eine absolute Farce zu verwandeln. Für die Partei ist es nichts weiter als ein queeres Feigenblatt, um die eigene neoliberale Politik in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Außerdem hörten die Teilnehmenden eine Rede einer inter* Person, die lieber anonym bleiben, aber darauf aufmerksam machen wollte, wie sehr das geplante Gesetz inter* Personen schadet und endogeschlechtliche Perspektiven zentriert: „Seit Januar werden wir Zeug*innen von einer Abschwächung tatsächlicher Selbstbestimmung und Einlassungen auf Argumente aus dem trans*feindlichen, vor allem trans*misogynen Kulturkampf – Hausrechtsregelungen, Vertragsfreiheit, Frauensauna, Spielraum zur biologistischen Reglementierung im Sport. Dass der Diskurs dank der rückgratlosen deutschen Politiker*innen von anti-trans*Narrativen bestimmt wird, wirft Inter*Personen völlig vor den Bus!“ Eli sprach darüber, wie sie als detransitionierende Person auf das Gesetz und die Debatten darum blickt und Minzgespinst machte deutlich, was das Gesetz für trans Personen mit Behinderung bedeuten wird, die sich in gesetzlicher Betreuung befinden. Von Casa Kuá, einem Kollektiv von BIPoC trans* und nicht-binären Personen, gab es eine Rede in der u.a. die Perspektive von nicht-deutschen und asylsuchenden trans Personen Raum hatte. Sie fordern: Es ist von entscheidender Bedeutung, BIPoC, Asylsuchende und andere Minderheitsgruppen aktiv in den Gesetzgebungsprozess einzubeziehen und ihre Perspektiven ernsthaft zu berücksichtigen. Diese Gemeinschaften sind oft von Diskriminierung, Ungleichheit und struktureller Benachteiligung betroffen, was bedeutet, dass Gesetze und politische Entscheidungen, die sie nicht ausreichend berücksichtigen, die bestehenden Ungerechtigkeiten weiter verstärken können. Ihre Erfahrungen und Bedürfnisse müssen gehört und respektiert werden, um sicherzustellen, dass Gesetze gerecht, inklusiv und effektiv sind.“ Alle Reden könnt ihr hier auf Deutsch und Englisch nachlesen. Amy Crush und der trans Chor Berlin rundeten das Bühnenprogramm ab. Trotz Presseeinladungen gab es keine Medienberichterstattung, mit Ausnahme eines einminütigen Berichts im Hauptstadt TV (ca. ab Minute 3:50), die leider davon sprachen, Berliner „Verbände“ hätten den Protest organisiert, während wir doch in Wahrheit explizit die Arbeit der Verbände kritisierten. Aber gut, man kann nicht alles haben.

Donnerstag, 7. September

Der Oberste Gerichtshof in Mexiko hat Abtreibungen entkriminalisiert. „Die Erste Kammer des Gerichts hat entschieden, dass das Rechtssystem, das die Abtreibung im Bundesstrafgesetzbuch unter Strafe stellt, verfassungswidrig ist, da es die Menschenrechte von Frauen und gebärfähigen Personen verletzt“, teilte das Gericht in den sozialen Medien mit. Ein „großer Schritt“ findet die „Informationsgruppe für Ausgewählte Reproduktion“ (Gire), die vorm Obersten Gericht Klage eingereicht hatte. Zukünftig können weder die ungewollt schwangere Person noch das medizinische Personal für Schwangerschaftsabbrüche bestraft werden. Die Tagesschau berichtet, dass nach dem Urteil öffentliche Krankenhäuser im ganzen Land nun das Recht auf kostenlose Abtreibung gewähren müssen. Damit wird Mexiko zum sicheren Hafen für US-Amerikaner*innen, denen der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen massiv erschwert wurde, nachdem der Supreme Court das Recht auf Abtreibungen letztes Jahr gekippt hatte. Auch in Deutschland sind Abtreibungen nach wie vor verboten und nur unter bestimmten Voraussetzungen straffrei.

Freitag, 8. September

Am Freitagabend ereignete sich in Marokko ein schweres Erdbeben, das mindestens 2.100 Menschen tötete und tausende verletzte. „Einige der am schlimmsten betroffenen Gebiete sind recht abgelegen und bergig und daher schwer zu erreichen“, erklärte die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC). Hunderte Menschen gelten bis heute als vermisst. Laut der WHO sind mehr als 300.000 Menschen direkt vom Erdbeben und den Folgen betroffen. Der Seismologe Frederik Tilmann vom Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ) nannte es im tagesschau24-Interview „Das stärkste gemessene Erdbeben in Marokko“. Karima Ben Brahim, Leiterin des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in NRW at einen Moneypool organisiert für die direkte Erdbebenhilfe in den ländlichen Regionen im Süden Marokkos um Agadir und Taroudant. Hier könnt ihr spenden.

Samstag, 9. September

Am 9. September 2000 wurde Enver Şimşek an seinem mobilen Blumenstand in Nürnberg von den rassistischen Rechtsterroristen des sogenannten „NSU“ erschossen. Zwei Tage später starb er an den Verletzungen. Das Bündnis „Tag der Solidarität“ veröffentlichte auf Twitter die folgenden Worte von Semiya Şimşek über ihren Vater:

„Mein Vater ist am 04.12.1961 in Isparta geboren. Mit 38 Jahren ist er durch einen rassistischen Anschlag von uns gegangen. Er war das erste Mordopfer des NSU. Ich war damals 14 und mein Bruder 12 Jahre alt. Mein Vater war ein liebevoller Mensch. Er war zu meiner Mutter immer respektvoll und liebevoll. Dies erkenne ich auch anhand der Liebesbriefe, die sie sich aus der Ferne schrieben. Zu uns Kindern war er fürsorglich. Er kämmte mir meine Haare ohne dass es weh tat. Er liebte es mit der Großfamilie zusammen zu sein und zu grillen. Ich habe ihn als sehr fleißigen Menschen in Erinnerung. Er arbeitete viel, schlief manchmal nur ein paar Stunden, um seine Familie zu versorgen. Nicht nur die Kernfamilie, sondern auch seine Geschwister und Mutter, die in der Türkei lebten. Ich habe mit ihm nur 14 Jahre zusammen leben und genießen können. Ich bin stolz, seine Tochter sein zu dürfen.“

Auch am Samstag

In Halle an der Saale (Sachsen-Anhalt) wurden mehrere Menschen nach Verlassen des Christopher Street Days (CSD) beleidigt und mit Tritten und Schlägen angegriffen. Eine 41 Jahre alte Person wurde schwer verletzt und in ein Krankenhaus gebracht worden. Schon während der Parade war es zu Störungen aus der rechtsextremen Szene gekommen.

Sonntag, 10. September

Der Wochenrückblick fiel heute (ausnahmsweise) mal kurz aus. Ich habe nicht so viel Energie reingesteckt und hoffe, dass ihr trotzdem etwas daraus mitnehmen konntet. Darüber, dass die ARD der rechtsextremen AfD-Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel eine prominente Plattform im „Sommerinterview“ gegeben hat, möchte ich nichts weiter sagen, sondern nur kurz Danger Dan zitieren (den ich nicht uneingeschränkt supporte, aber dessen Worte hier ein sehr passendes Schlusswort bilden): „Faschisten hören niemals auf, Faschisten zu sein , man diskutiert mit ihnen nicht, hat die Geschichte gezeigt“.

Das wars für heute, ich danke euch wie immer fürs Lesen. Wer kann und will: via PayPal gibt es die Möglichkeit, ein Trinkgeld dazulassen. Oder du wirst heute Fördermitglied auf Steady und hilfst mir dabei, meine Arbeit dauerhaft zu finanzieren.

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