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Semaj Billingslea ist das 31. Todesopfer transfeindlicher Gewalt in den USA dieses Jahr. (Illustriert von mir)

Brüder und Brutalität

In Italien regiert eine Faschistin, in den USA wird der 31. Mord an einer trans Person in diesem Jahr gezählt und in Deutschland wird profiliert und profitiert statt protestiert. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive #KW39.

Montag, 26. September

Am Montag war klar: Italien wird zukünftig von einer Faschistin regiert. Giorgia Meloni und die „Fratelli d’Italia“ sind nicht einfach ein „Rechtsbündnis“, sie sind straight up Faschos. Das Logo der Partei zeigt die grün-weiß-rote Flamme, die über dem angedeuteten Grab Mussolinis. Dessen Leitspruch „Dio, patria e famiglia“ (Gott, Vaterland und Familie) ist auch der von Giorgia Meloni. Im Juni sprach die 45-Jährige vor den Anhänger*innen der rechtsextremen spanischen Schwesterpartei „Vox“. Sie sagte: „Vermittlung ist nicht möglich – man sagt ja oder nein. Ich sage: Ja zur natürlichen Familie; Nein zur LGBT-Lobby; Ja zur sexuellen Identität; Nein zur Gender-Ideologie; Ja zum Leben; Nein zur Kultur des Todes; Ja zu den christlichen Werten; Nein zur islamistischen Gewalt; Ja zur Souveränität des Volkes; Nein zu den Brüsseler Bürokraten; Ja zu sicheren Grenzen; Nein zur Masseneinwanderung. Hoch lebe Spanien, hoch lebe Italien, hoch lebe das Europa der Patrioten!“ Kein Grund zur Besorgnis, findet die FAZ: „Mit den Wahlen vom Sonntag ist Italien zur politischen Normalität zurückgekehrt“, hieß es am Montag, Meloni sei „nicht die Teufelin“. Es habe zwar „einen Rechtsruck gegeben, aber keine politische Erdbebenkatastrophe“. Manche Deutsche denken nach wie vor, dass Faschismus ein Hakenkreuz haben muss.

Dienstag, 27. September

Nachdem Friedrich Merz am Montagabend bei „Bild TV“ vom „Sozialtourismus“ ukrainischer Geflüchteter gesprochen hatte, ruderte der CDU-Chef am Dienstag auf Twitter zurück und bezeichnet seine Wortwahl als „unzutreffende Beschreibung eines in Einzelfällen zu beobachtenden Problems“. Nice try, Fritz, aber der Schaden ist entstanden, du hast gesagt, was du gesagt hat. Dass er das nicht so einfach „zurücknehmen“ kann, weiß auch Merz ganz genau. Wer denkt, da sei auch nur irgendwas unbedacht geschehen oder herausgerutscht, muss unglaublich naiv sein oder sehr sehr gutgläubig. Es ist zum einen die alte Fascho-Strategie, die Grenzen des Sagbaren auszuloten und zu schauen, wie weit man gehen kann. „Sozialtourismus“ war das Unwort des Jahres 2013, das rutscht nicht versehentlich heraus. Zum anderen ist es bewusste Zielgruppenansprache. Was Merz bei „Bild TV“ sagt, orientiert sich an der Mehrheitsmeinung derer, die „Bild TV“ konsumieren. Denn hier erntet der CDU-Vorsitzende zustimmendes Brummen statt Widerstand. Eine „Entschuldigung“ auf Twitter (wo wiederum in erster Linie Journalist*innen und selbsternannte Intellektuelle mitlesen) ist dementsprechend genauso sehr Zielgruppenansprache. Und apropos „Entschuldigung“: Merz Tweet hat mit der Bitte um Entschuldigung so viel zu tun wie seine Partei mit sozialer Gerechtigkeit. „Wenn meine Wortwahl als verletzend empfunden wird, dann bitte ich dafür in aller Form um Entschuldigung“, twitterte er. „Wenn“ seine „Wortwahl“ als „verletzend empfunden wird“, „dann“ sind diese empfindlichen Schneeflocken verdammtnochmal selbst schuld.

Mittwoch, 28. September

Am Mittwoch wurde bekannt, dass der 33-jährige Schwarze trans Mann Semaj Billingslea eine Woche zuvor in Jacksonville, Florida, ermordet wurde. Er wurde vor einem Motel in Argyle Forest angeschossen und schwer verletzt, er starb kurz darauf in Krankenhaus. In der Pressemitteilung des Büros des Sheriffs von Jacksonville wird er als „Frau“ bezeichnet. Es ist der dritte Mordfall an einer trans Person in Florida in diesem Jahr. In den USA wurden seit Jahresbeginn mindestens 31 trans oder gender non-confirming Menschen getötet, teilte die Human Rights Campaign (HRC) am Mittwoch mit. Tori Cooper, Direktorin für Community Engagement der „Transgender Justice Initiative“ bei HRC sagte: „Mein Herz ist bei Semajs Angehörigen, mit denen wir gemeinsam trauern. Wir werden weiterhin seinen Namen sagen und sein Leben ehren, das so voller Liebe und Freude war. Wir kämpfen jeden Tag für eine Welt, in der trans Menschen mit dem menschlichen Anstand und der Würde behandelt werden, die wir verdienen.“

Donnerstag, 29. September

Am Donnerstag stand in Berlin der palästinensische Geflüchtete Hamid N. vor Gericht. Die Anklage lautete auf Körperverletzung und schweren Landfriedensbruch während einer Demo anlässlich des Nakba-Tags im Mai 2021. Ein Polizist sagte aus, er habe Hamid N. dabei beobachtet, wie dieser „einen großen schweren Gegenstand in Richtung anderer Polizist:innen geworfen“ haben soll, berichtet das Onlinemagazin Perspektive. Dieser „große, schwere Gegenstand“ ist in den Schilderungen von bezeugenden Polizisten mal der „Sockel einer Bake“, mal eine „Gemüsekiste“. So oder so, die Richterin verurteilte den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten auf Bewährung, weil ihrer Ansicht nach selbst eine leere Gemüsekiste „auch einen Aortenriss“ hätte verursachen können. Ja, ähm klar, bei Cops in voller Schutzmontur ist das sehr wahrscheinlich. Der eigentliche Skandal ist hier aber nicht das Urteil, sondern überhaupt die Anklage. Denn Hamid N. war bei besagter Demo nicht Täter, sondern Opfer. Ein Video zeigt, wie er von einem Cop (der später als Hauptzeuge gegen ihn aussagte) per Faustschlag gegen die Schläfe niedergeschlagen wird. Hamid N. meldete sich kurz nach dem Vorfall aus dem Krankenhaus und gab an, der Schlag habe ein Schädel-Hirn-Trauma, den Bruch der Schädel-Kalotte sowie Hämatome verursacht. Vor Gericht diese Woche sprach er über die erfahrene Polizeigewalt und gab an, bis heute unter „Traumata, Angstzuständen, Schlafstörungen, womöglich Blutansammlungen im Kopf und zeitweiser Taubheit auf einem Ohr“ zu leiden. Die Anwält*innen des Angeklagten kommentierten das Urteil so: „Es ist eine harte Strafe für eine Sache, wo es keinen Verletzten gibt außer dem Verurteilten und auch nicht klar geworden ist, ob er t2atsächlich einen Gegenstand geworfen hat“.

Auch am Donnerstag

Der Oberste Gerichtshof in Indien entschied am Donnerstag, einen Tag nach dem weltweiten Safe Abortion Day, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Familienstand ein Recht auf Abtreibung bis zur 24. Schwangerschaftswoche haben. Bislang waren legale Schwangerschaftsabbrüche nur verheirateten Frauen vorbehalten. Das Gericht entschied außerdem, dass der Begriff „Frau“ nicht nur „cis-gender-Frauen“ einschließt sowie, dass Ärzt*innen nicht länger Behörden über Abtreibungen bei Minderjährigen informieren müssen. Weiterhin wurde erstmals durch den Obersten Gerichtshof sexualisierte Gewalt innerhalb der Ehe anerkannt. Das Urteil vom Donnerstag erlaubt Schwangerschaftsabbrüche nach einer Vergewaltigung durch den Ehemann. „Wir wären nachlässig, wenn wir nicht anerkennen würden, dass Gewalt in der Partnerschaft eine Realität ist“, sagte Richter Dhananjaya Y. Chandrachud laut taz.

Freitag, 30. September

Die Proteste im Iran gehen auch in der zweiten Woche nach dem Tod der 22-jährigen Kurdin Zhina Amini weiter. Da das iranische Regime den Zugang zum Internet einschränkt und Demonstrant*innen aus Angst vor Verhaftung ihre Smartphones zu Hause lassen, sehen wir hier weniger emotionalisierende Bilder als noch zu Anfang der Proteste. Leider trägt das Fehlen dieser Bilder auch zur Gewöhnung bei, wir vergessen zwischendurch einfach, was im Iran und Ostkurdistan vor sich geht. 92 Menschen sind nach Angaben der Menschenrechtsorganisation „Iran Human Rights“ durch Polizeigewalt (oder wie es der Tagesspiegel ausdrückt „im Zuge des Vorgehens der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten“) getötet worden. Die Tagesschau berichtete am Freitag mit Bezug auf Amnesty International, der Iran setze „vorsätzlich tödliche Gewalt ein, um die Proteste niederzuschlagen“. Foto und Videomaterial würden dieses Vorgehen belegen. Ein Befehlshaber der Streitkräfte in der Provinz Masandaran habe zudem „seine Untergebenen in einem der Papiere angewiesen, ‚gnadenlos, bis hin zur Verursachung von Todesfällen, gegen jede Art von Unruhen durch Randalierer und Anti-Revolutionäre vorzugehen‘“, heißt es im Bericht. Während Menschen im Iran sterben oder ihre Angehörigen und Freund*innen durch brutale Gewalt verlieren, wird der Protest hierzulande romantisiert oder als PR-Vorlage instrumentalisiert. Der Inbegriff des Girl-Boss-Kapitalismus, „The Female Company“ (TFC), die u.a. Periodenprodukte vermarktet, hat das Foto der getöteten Zhina Amini auf Instagram gepostet, allerdings mit dem eigenen Firmenlogo mitten auf dem Bild. Im dazugehörigen Text hieß es, „Was die letzten Tage im Iran abgegangen ist, ist so unglaublich powerful“. Man möchte die weißen „Boss Babes“ hinter TFC am liebsten schütteln und ihnen in ihre feinporigen Gesichter schreien, dass das kein Inspirations-Theater für deutsche „Feministinnen“ ist, sondern ein radikaler Protest für Freiheit, für den Menschen ihr verdammtes Leben geben!!!! Argh, ich werde schon wieder wütend. Kommen wir zu denjenigen, denen die Proteste als PR-Vorlage willkommen sind: Politiker*innen. Zahlreiche Fotos wurden diese Woche auf Social Media gepostet, auf denen Abgeordnete von CSU bis Grüne ihre „Solidarität“ mit den iranischen Demonstrierenden ausdrücken. Ich würde lachen, wenn die Situation nicht so bitterernst wäre, aber ehrlich: Dorothee Bär und Julia Klöckner mit „Frauen, Leben, Freiheit“ Plakaten am Brandenburger Tor – zynischer wird’s nicht. Der Slogan ist einer, den kurdische Kämpfer*innen seit Jahrzehnten rufen: „Jin, Jiyan, Azadi“. Kurd*innen, die in Deutschland unter dem Stichwort „Ausländerextremismus“ kriminalisiert werden, deren Symbole vom CDU-geführten Innenministerium 2017 fast restlos verboten wurden. (Liste der verbotenen Symbole) Aber auch die Abgeordneten der Grünen, die über „unglaublich mutige Frauen und Männer“ im Iran twittern, an deren Seite sie angeblich „solidarisch“ stehen, sind in meinen Augen heuchlerisch. Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock schwieg tagelang, diese Woche forderte sie auf Twitter: „die iranischen Behörden müssen ihr brutales Vorgehen unverzüglich einstellen“.  Die Journalistin Gilda Sahebi schreibt in einem Kommentar für die taz: „Deutschland fasst das iranische Regime traditionell mit Samthandschuhen an. (…) Deutschland will (…) die Geschäfte mit dem Iran noch weiter ausbauen. Das Land hat riesengroße Gas- und Erdölvorkommen.“

Samstag, 1. Oktober

In Berlin-Hohenschönhausen hat mutmaßlich ein 50-jähriger Mann seine 44 Jahre alte Ehefrau vor den Augen der zwei Kinder erstochen. Das Paar soll aus der Ukraine stammen und lebt seit wenigen Monaten in der Unterkunft für geflüchtete Menschen in der Wollenberger Straße. Die beiden Töchter wurden der Obhut des Jugendamts übergeben.

Sonntag, 2. Oktober

Am 2. Oktober 1904 sagte Generalleutnant Lothar von Trotha im von Deutschland besetzten Gebiet „Deutsch-Südwestafrika“ (heute Namibia): „Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu Ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen.“ Der von 1904 bis 1908 kostete Schätzungen zufolge bis zu 95.000 Herero und Nama das Leben. Die Deutsche Bundesregierung weigerte sich lange, das Verbrechen als Völkermord anzuerkennen. Erst 2016 wurde der Genozid auch als solcher bezeichnet. Doch die deutsche Entschuldigung fehlt bis heute. An „Versöhnungsabkommen“ mit Namibia sind Herero und Nama kaum bis gar nicht beteiligt. In Deutschland wissen die wenigsten über die Verbrechen der deutschen Kolonialzeit Bescheid. Kolonialismus ist nicht verpflichtender Bestandteil der Lehrpläne. Die meisten machen Abitur, ohne jemals in der Schule vom Völkermord gehört zu haben. Ich bin froh um engagierte Wissenschaftler wie Dr. Jürgen Zimmerer, die immer wieder auf die deutschen Verbrechen aufmerksam machen und die performativen Gesten der Regierung nicht schlucken. In Deutschland sind übrigens bis heute Straßen nach Lothar von Trotha benannt.

Das wars für heute mit dem Wochenrückblick. Wie immer: Danke fürs Lesen. Wenn Du kannst und willst, gibt es via PayPal die Möglichkeit, ein Trinkgeld dazulassen. Oder du wirst heute Fördermitglied auf Steady und hilfst mir dabei, meine Arbeit dauerhaft zu finanzieren.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Gina

    Danke, für deine so wichtige Arbeit!

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