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Glückwunsch, Annie Ernaux! (Illustration von mir)

Bisschen Flair, viele Faschos

Annie Ernaux gewinnt einen rückwärtsgewandten Preis, Passau lockt einen Iraner in eine Falle, wieder ein Toter nach Polizeigewalt und kaum Gegenproteste gegen die Nazis in Berlin. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive #KW40.

Montag, 3. Oktober

Neue Woche, nächster Femizid. In der Nähe von Aschau im Chiemgau (Bayern) wurde am Montagmorgen die Leiche einer 23-Jährigen gefunden, die zuvor mit Freund*innen in einer Diskothek gefeiert hatte. Die Ermittlungskräfte gehen von einer gewaltsamen Tötung aus, ein Sexualdelikt kann nicht ausgeschlossen werden. Schon einen Tag zuvor, am frühen Sonntagmorgen, wurde in Schmelz (Saarland) die Leiche einer 34-jährigen Frau in deren Wohnung gefunden, die durch „massive Gewalteinwirkung gegen den Hals“ getötet wurde. Die Polizei nahm den 43 Jahre alten Lebensgefährten der Getöteten fest. Die Hintergründe der Tat sind noch unklar.

Dienstag, 4. Oktober

Mit einer Lüge wurde ein 41-jähriger Iraner in die Ausländerbehörde Passau gelockt, wo bereits zwei Polizisten warten, um ihn in Abschiebehaft zu nehmen. Reza R. wurde schriftlich zugesichert, dass seine neue Stelle, er wollte eine Ausbildung in der Pflege beginnen, in seine Duldung eingetragen werden sollte. Er erhielt eine E-Mail, in der ihm eine Sachbearbeiterin schrieb: „Die Beschäftigung wird dann direkt bei dem Termin eingetragen.“ In Wahrheit sollte der Mann aber in den Iran abgeschoben werden. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll: Wie unmenschlich muss es in Bayerns Amtsstuben zugehen, dass ein Mensch mit bürokratischen Mitteln in einen Hinterhalt gelockt wird, um ihn in ein Land abzuschieben, in dem die schwersten Unruhen seit Jahren herrschen? Wie kalt muss das Herz derer sein, die so einen Plan entwickeln und umsetzen? Reza R. sollte am 1. Oktober eine Ausbildung bei einem Pflegedienst in München beginnen. „Nur die Erlaubnis vom Amt hat noch gefehlt“, sagte die Leiterin des Pflegedienstes zur Presse. Die Abschiebung immerhin konnte gestoppt werden. Der Bayerische Flüchtlingsrat twitterte am Mittwoch: „Wir erwarten dass R. sofort eine Arbeitserlaubnis erhält & ein Abschiebestopp in den Iran verhängt wird!“

Auch am Dienstag:

Die asiatischen Winterspiele 2029 werden in Saudi-Arabien stattfinden. Ja, richtig gelesen: Winterspiele in einem Wüstenstaat. Aber hey, wenn das so weitergeht, können wir bald Badeurlaub in der Arktis machen.

Mittwoch, 5. Oktober

Ein weiterer Beweis dafür, dass sich transfeindliche Gesetze nicht auf trans Personen beschränken, wurde diese Woche im US-Bundesstaat Florida erbracht. Einem Bericht der Palm Beach Post zufolge, könnte die Software, in der Schülerinnen ihre Zyklusdaten digital erfassen müssen, dazu verwendet werden, das Verbot der Teilnahme von trans Schülerinnen an sportlichen Wettkämpfen durchzusetzen. In Florida müssen Sportschüler*innen ihren Schulen detaillierte medizinische Informationen preisgeben, um an den Wettkämpfen teilnehmen zu können. In anderen Bundesstaaten reicht dafür ein ärztliches Attest. In Florida werden die Schülerinnen seit zwanzig Jahren nach ihrem Zyklus gefragt, u.a. danach, wann die erste Regelblutung war, wann die letzte und wie viel Zeit normalerweise zwischen dem Beginn einer Periode und dem Beginn der nächsten liegt. Fünf Fragen, die mit „FEMALE ONLY“ überschrieben sind, beziehen sich auf die Menstruation. Die Datenschutz-Expertin Alejandra Caraballo twitterte: „Diese Fragen zur Menstruation werden auf jeden Fall dazu verwendet, trans Sportlerinnen zu outen und die Einhaltung des staatlichen Gesetzes zu erzwingen, das sie ausschließt.“ Joan Waitkevicz, Präsidentin des Palm Beach County Democratic Women’s Club, äußerte gegenüber der Palm Beach Post die Bedenken, dass „die individuelle Menstruationsgeschichte nicht allgemein zugänglich gemacht werden sollte“, da die Daten im Fall eines gesetzlich verbotenen Schwangerschaftsabbruchs gegen die Person verwendet werden könnten. „Das ist Anti-Choice- und Anti-Trans-Politik in einem“, erklärte Waitkevicz.

Donnerstag, 6. Oktober

Am Donnerstag wurde in Deutschland der nächste Fall tödlicher Polizeigewalt bekannt. Wieder war das Opfer psychisch krank, auch dieses Mal war das Opfer Schwarz. Kupa Ilunga Medard Mutombo wurde am 14. September durch Polizist*innen so schwer verletzt, dass er wenige Tage später mutmaßlich an den Folgen der Gewalt im Krankenhaus starb. Der Bruder des Verstorbenen wandte sich an die Opferberatungsstelle ReachOut in Berlin, die am Donnerstag eine Pressemitteilung veröffentlichte. Darin heißt es:

„Am 14.09.2022 befand sich Kupa Ilunga Medard Mutombo in einem betreuten Wohnheim in Spandau für seelisch und psychisch krank gemachte Menschen. Er sollte in ein Krankenhaus verlegt werden. Für die Überführung wurden 3 Polizeibeamte, ein Arzt und ein Krankenwagen gerufen. Als Kupa Ilunga Medard Mutombo seine Tür öffnete und die Polizei sah, geriet er in Panik und wollte seine Tür vor Angst vor der Polizei wieder schließen. Die Polizeibeamt*innen wendeten massive brutale Gewalt gegen ihn an, warfen ihn auf dem Boden, fixierten ihn, folglich blutete er aus dem Gesicht. Einer der Polizeibeamt*innen wischte das Blut aus Kupa Ilunga Medard Mutombo’s Gesicht mit einer Decke weg. Eine*r weitere*r Beamte*r drückte ihm ein Knie in seinen Nacken. Mindestens 13 weitere Polizeibeamt*innen betraten das Wohnheim und ließen niemanden in sein Zimmer. Einem Zeugen zufolge sagte ein Polizist, Kupa Ilunga Medard Mutombo würde nicht mehr atmen. Obwohl ein Arzt und ein Krankenwagen vor Ort waren, dauerte die Wiederbelebung mehr als 20 Minuten.“

Auch am Donnerstag

Annie Ernaux wird mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Eine erfreuliche Nachricht für die französische Schriftstellerin, verdient hat sie die Auszeichnung allemal. Gleichzeitig kann ich nicht ausblenden, dass dieser Preis rückwärtsgewandt, ungerecht und elitär ist. Rund eine Millionen Euro erhält der*die Preisträger*in, eine Summe, mit der viele Autor*innen lange sorgenfreier arbeiten könnten. Doch statt mit dem Geld Literatur zu fördern, bekommt es eine Einzelperson, die ohnehin Millionen hat (bspw. Bob Dylan) oder ein Genozid-Leugner (Peter Handke). Die Kriterien, wer ausgezeichnet wird, sind vollkommen intransparent. Mit Demokratie hat es rein gar nichts zu tun. Aber Hauptsache die Nobelstiftung spart Steuern. Sogenannte „Wohltätigkeit“ ist ein Thema für sich und ich will hier jetzt nicht abschweifen, aber meines Erachtens wird es Zeit, dass wir aufhören Stiftungen zu fördern, die nach eigenem Gutdünken Almosen verteilen und stattdessen endlich die Reichen angemessen besteuern. Bevor ich weiter abschweife, möchte ich euch den Kommentar von Denis „Alter Lustmolch“ Scheck nicht entgehen lassen, der im Interview mit der Tagesschau über Annie Ernaux Folgendes zu sagen hatte: „Ernaux ist eine kleine, fragile Frau, die aber einen wunderbaren Schalk im Nacken hat, die einen auch in ihrem Alter durchaus ein erotisches Flair umgibt, die ein humoristisches Aufblitzen, ein Zwinkern im Auge hat und die sich vor nichts und niemanden fürchtet. Mit anderen Worten: Annie Ernaux ist etwa so, als dürfte man Pippi Langstrumpf kennenlernen – ich habe mich spontan in sie verliebt.“ Ihr seht: Man kann eine weltberühmte Schriftstellerin sein und wird trotzdem von irgendwelchen Dudes nach seinem „erotischen Flair“ bewertet. Wann immer Denis Scheck irgendwo Thema ist, muss ich daran denken, dass er 2013 mit Schuhcreme im Gesicht im Fernsehen auftrat [CN für den Link: Blackface und unzensiertes N-Wort], um für den Erhalt des N-Worts in deutschen Kinderbüchern zu kämpfen.

https://twitter.com/LaVieVagabonde/status/1578278610531938304?s=20&t=FDJM2TxuuRm1-6twCLB2Hg

Freitag, 7. Oktober

Der Europarat hat Deutschland dafür kritisiert, die „Istanbul-Konvention“ nicht ausreichend umzusetzen. Es wurden „gravierende Defizite beim Schutz von Frauen und Mädchen vor geschlechtsspezifischer Gewalt“ festgestellt, berichtete die ZEIT am Freitag. Nicht nur ist das Gewaltschutz- und Beratungsangebot im ländlichen Raum ungenügend, auch in den Städten seien die Wartelisten oft zu lang. Gefordert wird u.a., dass alle Betroffenen von häuslicher bzw. Partnerschaftsgewalt kostenlosen Zugang zu speziellen Unterkünften haben sollen und dass Schulungsangebote ausgebaut werden, um Opfer von häuslicher Gewalt besser erkennen zu können. Außerdem wird Deutschland aufgefordert, geschlechtsspezifischen Tötungen zu analysieren, um institutionell besser vorbeugen zu können. „Insgesamt fehle bislang ein nationaler Aktionsplan, wie ihn die Istanbul-Konvention eigentlich vorsehe“, heißt es.

Auch am Freitag

Das Regime im Iran, das seit Wochen massiv gegen die protestierende Bevölkerung vorgeht, hat am Freitag offiziell die angebliche Todesursache der 22-jährigen Zhina (Mahsa) Amini bekannt gegeben. Darin behaupten die Herrscher, Amini sei nicht infolge der Polizeigewalt gestorben, sondern habe eine „organische Vorerkrankung“ gehabt. Deutsche Medien, die den derzeit stattfindenden feministischen Protesten im Iran kaum Berichterstattung einräumen, haben diese dreiste Lüge der Mullahs teilweise unkommentiert übernommen. Auch als Anfang der Woche bewaffnete Schergen des Regimes, aka Polizei und „Sicherheitskräfte“, die Sharif-Universität in Teheran angriffen, blieb es in Deutschland weitestgehend ruhig. Solidarität gibt es hierzulande eben in erster Linie für weiße Menschen, wenn überhaupt.

Samstag, 8. Oktober

Was waren das noch Zeiten, als Nazis in Berlin kaum einen Fuß auf den Boden bekommen haben. Blockaden, Gegenproteste – es war klar, dass wir den Faschos den Tag versauen. Tja, schön war’s, aber das ist ganz offensichtlich Geschichte. Am Samstag konnten rund 10.000 Neonazis und ihre Verbündeten durch Berlin spazieren. Geschätzte Anzahl der Gegendemonstrant*innen: 1.400. Ich nehme mich da selbst nicht raus. Ich hatte am Samstag Schicht in der Buchhandlung und habe einfach ~gehofft~, dass es genug stabile Antifaschist*innen gibt, die den Naziaufmarsch nicht unwidersprochen lassen. Falsch gedacht. Für uns muss dieser Samstag eine Lehre sein: Wir brauchen aktiven antifaschistischen Widerstand und wir müssen ihn selber machen.

Sonntag, 9. Oktober

Nicht nur in Niedersachsen wurde heute gewählt, auch in Cottbus. Momentan sieht es so aus, als könnten wir nochmal aufatmen: die Stadt wird voraussichtlich keinen AfD-Bürgermeister haben.

Das wars für heute mit dem Wochenrückblick. Wie immer: Danke fürs Lesen. Wenn Du kannst und willst, gibt es via PayPal die Möglichkeit, ein Trinkgeld dazulassen. Oder du wirst heute Fördermitglied auf Steady und hilfst mir dabei, meine Arbeit dauerhaft zu finanzieren.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Bert Kaesser

    Vielen Dank für Deinen Wochenrückblick. Zum Thema „Wohltätigkeit“ fällt mir der geniale Satz von Pestalozzi ein: „Wohltätigkeit ist das Ersaufen des Rechts im Mistloch der Gnade“ (Johann Heinrich Pestalozzi)
    Besser kann man es nicht ausdrücken!
    Liebe Grüße

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