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Wohnen ist Menschenrecht! Foto von mir. Plakat von dwenteignen.de

Wolle checkt’s nicht

Der Berliner Volksentscheid für mehr bezahlbaren Wohnraum geht in die entscheidende Phase, Frankreich stellt Studierenden gratis Menstruationsprodukte zur Verfügung und Wolfgang Thierse fühlt sich diskriminiert. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW8

Montag, 22. Februar  

Mit der neuen Woche startete auch die zweite, entscheidende, Phase des Volksbegehrens „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Der Volksentscheid soll den Berliner Senat dazu bewegen, ein Gesetz zur Vergesellschaftung von Wohnungen privater Wohnungsgesellschaften (mit mehr als 3.000 Wohnungen) zu erlassen sowie deren Überführung in eine Anstalt öffentlichen Rechts.

Hier könnt ihr nachlesen, warum eine Enteignung richtig und wichtig ist. Und wenn ihr in Berlin Wahlberechtigt seid: bitte unterschreibt!

Dienstag, 23. Februar

Frankreich wird zukünftig Studierenden Menstruationsprodukte gratis zur Verfügung stellen.  In Wohnheimen und in Gesundheitszentren von Hochschulen sollen 1.500 Automaten aufgestellt werden, aus denen Binden und Tampons kostenlos bezogen werden können, erklärte Hochschulministerin Frédérique Vidal am Dienstag. Der französische AStA-Verband hatte eine Studie durchgeführt, nach der von über 6.500 Befragten ein Drittel angab, finanzielle Unterstützung für den Kauf zu benötigen. Die Kommentarspalten unter Artikeln zum Thema sind, wie erwartet, voll mit Männern, die jammern, gratis Menstruationsartikel seien „unfair“ den Männern gegenüber. Dass Klopapier auf öffentlichen Toiletten kostenlos ist, finden sie natürlich „selbstverständlich“.

Mittwoch, 24. Februar

Mit der Kampagne „Grundgesetz für Alle“ setzen sich etwa 60 Organisationen dafür ein, die sexuelle Identität in Artikel 3 des Grundgesetzes aufzunehmen. „Im Bundestag wird zurzeit eine Änderung des Artikels 3 beraten. Das ist die Gelegenheit, endlich das Diskriminierungsverbot zum Schutz von sexueller und geschlechtlicher Identität zu erweitern“, heißt es im Aufruf.

Hier könnt ihr die Petition unterzeichnen.

https://twitter.com/annewill/status/1364646679492907016?s=20

Nochmal Mittwoch:

In der taz ist ein Portrait der ersten trans Stadträtin im brasilianischen São Paulo erschienen. Erika Hilton, 28 Jahre alt, wurde vergangenen November mit 50.508 Stimmen ins Amt gewählt, so viele Stimmen holte keine brasilianische Stadträtin jemals zuvor. Sie wurde gefeiert, doch von vielen auch gehasst. Allein im ersten Monat ihrer Amtszeit zeigte sie mehr als 50 Morddrohungen an. Weltweit ist Transfeindlichkeit ein großes Problem, so auch in Brasilien. Hier sind zwar trans Personen so sichtbar wie fast nirgendwo in der Welt, doch die Lebenserwartung von trans Frauen liegt bei nur 35 Jahren. 175 trans Frauen wurden 2020 ermordet – ein Anstieg um 41 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Nicht zuletzt der rechtsradikale Präsident Bolsonaro heizt die Gewalt gegen trans Menschen weiter an. Erika Hilton sagt: „Wenn wir die Plätze verlassen, die uns gesellschaftlich zugewiesen sind und Machtpositionen einnehmen, werden wir automatisch Ziel von Angriffen“.

Auch am Mittwoch

In Schifferstadt (Rheinland-Pfalz) soll ein 31-jähriger Mann seine 60-jährige Mutter und deren Zwillingsschwester mit einem Messer angegriffen haben. Seine Tante starb durch einen Messerstich in den Hals, die Mutter überlebte und musste notoperiert werden.

In Neustadt / Weinstraße soll ein 81-Jähriger seine 72 Jahre alte Ehefrau getötet haben. Die Polizei wurde am Mittwoch von Nachbar*innen alarmiert, die einen Streit gehört hatten. Die schwer verletzte Frau verstarb kurz nach dem Eintreffen der Einsatzkräfte. Polizei und Staatsanwaltschaft gehen von einem Tötungsdelikt aus.

Keine Woche ohne Femizide. Es wird Zeit, dass die Tötung von und die Gewalt gegen Frauen als strukturelles Problem angesehen wird.

Donnerstag, 25. Februar

Donnerstag, die II.

In einem Gastbeitrag in der FAZ beklagte der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, die „Identitätspolitik“ würde „zum Grabenkampf werden, der den Gemeinsinn zerstört“. Da der Beitrag nur Abonnent*innen zugänglich ist, habe ich ihn nicht gelesen. Ich habe stattdessen das Interview gehört, dass er aus diesem Anlass am Donnerstag dem Deutschlandfunk gegeben hat. „Wolle“, wie der Sozialdemokrat auch genannt wird, holt darin zum Rundumschlag aus. Er vollführt eine gefährliche Gleichsetzung, wenn er sagt, „auf der einen Seite“ stünden die Rechten, die das „Nationale als die zentrale Kategorie nennen und damit Vorstellungen von Homogenität, also von Ausschließung betreiben“ und „auf der anderen Seite“ würden Menschen „vom Diskurs ausgeschlossen“, die „unliebsame Ansichten haben, die einem nicht passen“. Der 77-Jährige nennt diesen feinsten Hufeisen-Take „Beobachtungen, die mich beunruhigen“, ich nenne es Relativierung von Rechtsextremismus.

Ich muss mich selbst bremsen, um an dieser Stelle nicht zu weit auszuholen und jeden Satz von Wolfgang Thierse auseinanderzunehmen. Ich beschränke mich an dieser Stelle auf einen kurzen Kommentar, der, wie mir klar ist, nicht ausreichend sein kann, um die Problematik dieser Diskursverschiebung umfassend zu verdeutlichen. Wolfgang Thierse beklagt sich, dass er als „alter weißer heterosexueller Mann“ ausgegrenzt würde, ihm Sprechverbote erteilt würden. Wolfgang Thierse, der in der FAZ einen ausführlichen Gastbeitrag schreiben kann, der ein langes Interview im Deutschlandfunk gibt, dessen Bücher und Schriften verlegt werden, der mit Auszeichnungen (unter anderem dem Bundesverdienstkreuz) überschüttet wurde, der der Präsident des fucking Bundestags war – dieser Wolfgang Thierse fühlt sich diskriminiert und ausgegrenzt. Er ignoriert konsequent die gesellschaftlichen Realitäten. Er ignoriert, wer in den Chefredaktionen sitzt, in den Vorständen, wer Professuren, Macht, Geld und Einfluss hat. Er ignoriert die rassistische Dominanzgesellschaft, schlimmer noch: er lässt es erscheinen, als seien Rassismus und Rassismuskritik nur die zwei Seiten derselben Medaille. Okay, werft mir Küchenpsychologie vor, aber ich sage euch, was ich glaube: Wolfgang Thierse ist Zeit seines Lebens mit dem Selbstbewusstsein, „einer von den Guten zu sein“, durch die Welt gelaufen. Er hat sich gegen Rechtsextremismus engagiert und als Katholik sogar ein kleines bisschen für Schwule. Als Sozialdemokrat hält er sich wahrscheinlich für einen Linken. Seine Privilegien als weißer Mann hat er nie hinterfragt (kein Ding, Wolle, das haben die wenigsten!) und jetzt – plötzlich – wird diesem selbsternannten „Gutmenschen“ vorgeworfen, rassistisch zu sein (z.B. deshalb, weil er die Kritik an der rassistischen Praxis des Blackfacings als „kulturfeindlich“ bezeichnet hat). Das kann Wolfgang Thierse nicht auf sich sitzen lassen. Das ist ein Angriff! Das ist Spaltung! Das ist Cancel Culture!

Die „Identitätspolitik“, vor der Wolfgang Thierse so eine Angst hat, ist übrigens nicht neu. Nur ist eben das, was er gewohnt ist, die Identitätspolitik weißer Männer. Wolfgang Thierse will nicht als „alter, weißer Mann“ bezeichnet werden, weil er es gewohnt ist, nicht benannt zu werden. Er ist es gewohnt, die Norm zu sein und dass das, was er sagt automatisch als „neutral“, „sachlich“, „vernünftig“, „objektiv“ bewertet wird. Im Interview mit dem Deutschlandfunk sagt er bezeichnender Weise: „Aber unsere Tradition seit der Aufklärung ist doch die, nicht die Betroffenheit, nicht das subjektive Empfinden darf entscheidend sein, sondern das vernünftig begründende Argument, das muss uns miteinander verbinden, das muss den Diskurs strukturieren.“  Wer sagt’s ihm?

Freitag, 26. Februar

In Nigeria wurden erneut hunderte Mädchen von der radikal-islamistischen Terrormiliz Boko Haram verschleppt. Nach Polizeiangaben stürmten die Männer ein Internat im Bundesstaat Zamfara und entführten 317 Mädchen. „Wir sind wütend und traurig über diese weitere brutale Attacke auf Schulkinder in Nigeria“, sagte UNICEF-Vertreter Peter Hawkins.

In Nepal wird derzeit ein Gesetz diskutiert, das die Reisefreiheit von Frauen massiv beschränken würde. Der Entwurf sieht vor, dass Frauen unter 40 das Einverständnis ihrer Familien brauchen, um allein ins Ausland zu reisen. In der Praxis bedeutet das: Die Zustimmung von Vätern oder Ehemännern, die in den Familien das Sagen haben. Außerdem ist vorgesehen, dass die Frauen eine teure Lebensversicherung abschließen, eine Hotelbuchung und ein bezahltes Rückflugticket vorlegen müssen. Angeblich soll diese Einschränkung die Arbeitsmigrantinnen vor Ausbeutung unter anderem in Indien, den Golfstaaten, Malaysia oder China schützen. Das Problem ist real: „Wir kennen zahlreiche Fälle, in denen Frauen eingesperrt, geschlagen, vergewaltigt oder ermordet wurden“, sagt Mona Sherpa von der Hilfsorganisation Care. Sie und andere Aktivist*innen für Frauenrechte fordern schon lange besseren Schutz für die Arbeitsmigrantinnen, allerdings nicht durch die Beschneidung von Freiheitsrechten durch die patriarchale Regierung. „Nach  jahrelangem Druck von uns haben sie sich überhaupt erst bewegt. Doch statt einen schlüssigen und durchdachten Plan vorzulegen, der den Frauen Hilfe anbietet, kommen sie damit“, sagt Sherpa.

Samstag, 27. Februar

Am Samstag haben Mitarbeiter*innen und Unterstützer*innen des Neuen Deutschlands gegen die drohende Schließung der linken Tageszeitung zum Jahresende demonstriert.

Die Partei „Die LINKE“, die als Mitgesellschafterin zu einem großen Teil an der Finanzierung des ND beteiligt ist, will nach Auskunft des Bundesschatzmeisters, Harald Wolf, eine Veränderung der Eigentümerstruktur prüfen. Die einzige Möglichkeit, das ND zu retten, scheint derzeit die Überführung in ein Genossenschaftsmodell zu sein. Verdi beklagt die „fehlende Kommunikation“ seitens der Linkspartei gegenüber den rund 100 Mitarbeiter*innen und erklärte: „Auch wenn es in der Belegschaft schon früher den Wunsch gab, die Strukturen des ND zu verändern und eine Genossenschaft teils als Chance angesehen wird, die redaktionelle Unabhängigkeit der Zeitung zu stärken: Die Genossenschaft darf nicht die ‚Billiglösung‘ sein.“

Sonntag, 28. Februar

In Berlin fand heute ein „Frauenmarsch“ statt. Allerdings war es kein emanzipatorischer, feministischer, sondern ein Zusammenschluss esoterischer Impfgegner*innen, selbsternannter „Querdenker*innen“ und antisemitischer Querfrontler*innen.

Der Blog Friedensdemo-Watch hat sich die Organisatorinnen der Veranstaltung genauer angesehen: „die angekündigten Redner:innen verdienen alle ihr Geld mit esoterisch-spirituellen Angeboten insbesondere für Frauen und bedienen sich dabei an anderen Kulturen, wie in einem Kolonialwarenladen. Ihr Frauenbild ist biologistisch und reduziert Frauen auf Instinkte in den Bereichen Fruchtbarkeit und Mutterschaft.“

Der Blogartikel lohnt sich sehr: „Was sich auf den ersten Blick liest, wie eine diverse Veranstaltung für Frauenrechte, entpuppt sich schon auf den zweiten Blick als Demo von Coronamaßnahmen- und Impfgegner:innen.“

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