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Von Herzen Gratulation zum Buchpreis, Kim de l'Horizon! (Illustration von mir.)

Verschwörende Einhörner

Kim de l’Horizon erhält den Deutschen Buchpreis und dann Personenschutz, in Zürich greifen Nazis eine Vorlesestunde für Kinder an, Scholz und von der Leyen feiern eine Faschistin und in Dortmund tötet die Polizei erneut einen Menschen. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive #KW42.

Montag, 17. Oktober

In Frankfurt wurde am Montag der Deutsche Buchpreis verliehen. Erstmals erhielt eine nicht binäre Person diese wichtige Auszeichnung, nämlich Kim de l’Horizon für den Roman „Blutbuch“. (Bisherige Preisträger*innen: acht Frauen und neun Männer.) Das sind wunderbare Nachrichten, der Preis ist so verdient! Das Blutbuch ist nicht nur literarisch extrem gelungen, künstlerisch-experimentell und trotzdem durchgängig verständlich und „lesbar“, sondern es ist auch eine Geschichte, die die Existenz, das Leben und Fühlen einer nicht binären, genderqueeren, Person in den Mittelpunkt stellt. Ich habe noch nie etwas gelesen und so gefühlt wie das „Blutbuch“. Ich bin so glücklich darüber, dass die Buchpreis-Jury diesen Roman zu würdigen wusste. Gerade in der oft als eher konservativ geltenden Literaturbranche ist das nicht selbstverständlich und die teilweise empörten Stimmen in den sozialen Medien machen den Mut dieser Entscheidung nochmal deutlicher. Kims bloßes Dasein ist ein Affront für die, die besessen vom Aussehen der Genitalien alles in Mann oder Frau einteilen wollen, Kims prächtige Kleidung, das Make-Up, die Art zu sprechen und zu gehen lassen rechtskonservative Springer-Knechte vor Wut kochen, Kims Weigerung, in das Schema derer zu passen, die das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht als unverrückbar, als alles formende Bestimmung verstehen, ist für viele unverzeihlich. Der Preis, den Kim dafür zahlt, kimselbst zu sein, ist Gewalt, physisch und verbal, Verächtlichmachung, Abwertung und offener Hass. Die Kommentarspalten der Medienhäuser fluteten über mit empörten Angriffen und wieder einmal waren es erstaunlich viele Frauen, die Kims Existenz bespuckten und belächelten. Ein „Mann im Kleid“ sei Kim, ein „schnurrbarthipster, der sich durch Pronomen in der Bio in den Feminismus einzecken will“, dem „die neueste Erfindung des Patriarchats ein zusätzliches Privileg in die Hände legt: sich durch Sprechakt der Unterdrückerrolle entziehen und daraus sogar noch Profit zu schlagen“. Kims „Privileg“ ist übrigens, dass Kim auf der Buchmesse nun Personenschutz erhält, weil der Verlag von ernsthaften Drohungen berichtet. Kim de l’Horizon hat in der NZZ einen langen Text veröffentlicht, in dem es um zwei Schläge geht, die Kim trafen, einer ins Gesicht, von einem Mann in Berlin und einer durch eine Aussage des Schweizer Bundesrats Ueli Maurer. Maurer sagte in einer Pressekonferenz anlässlich seines angekündigten Rücktritts: „Ob meine Nachfolgerin eine Frau oder ein Mann ist, ist mir egal. Solange es kein ‹Es› ist, geht es ja noch.“ Kim de l’Horizon schreibt in dem NZZ-Text: „Was euch eint, ist das Feindbild. Was euch eint, ist der Hass auf Körper wie den meinen. Was, frage ich euch, ist so schlimm an meinem Körper, dass ihr ihn schlagen und aktiv von politischer Führung ausschliessen möchtet? Was habe ich euch getan? Was, ihr um euch schlagenden Männer, seht ihr in mir, das euch dermassen bedroht?“

Um ganz offen zu sein, einige Passagen in Kims NZZ-Text haben mich gestört, ich verstehe nicht, warum es erwähnenswert war, über einen vermeintlichen „Migrationshintergrund“ des ersten Schlägers zu spekulieren und es gefällt mir nicht, dass Kim das Narrativ des „unsicheren Täters“ bedient, wenn Kim schreibt „Wer wirklich überlegen ist, der muss nicht zuschlagen und nicht unterdrücken“. Ich finde den Sklaverei-Vergleich vollkommen unangemessen und auf Twitter wurde ich auf weitere Stellen aufmerksam, die zu kritisieren sind. Aber, und das ist hier (für mich) entscheidend: Kim hat den historischen Moment der Aufmerksamkeit genutzt, um eine Lebensrealität denen näherzubringen, die vielleicht bis zur Buchpreisverleihung nicht mal wussten, dass nicht binäre Menschen existieren. Deshalb finde ich folgende Passage aus Kims Text auch besonders wichtig: „Es gibt keine Gender-Ideologie, keine Queer-Propaganda, kein Netzwerk von sich verschwörenden Einhörnern, die die Weltmacht erlangen wollen. Es gibt Menschen wie mich, die vor allem in loser Community zueinanderhalten, weil wir angefeindet, geschlagen und getötet werden. Aber ich spreche nicht für diese Community, weil es auch darin keinen Konsens gibt.“

Dienstag, 18. Oktober

Im US-Bundesstaat Idaho wird derzeit ein Gesetz diskutiert, das öffentliche Drag-Performances landesweit verbieten soll. Dieses Vorhaben erfolgt inmitten einer von rechts orchestrierten Panikmache gegen die „Drag Queen Story Hour“ (DSH), eine Veranstaltungsreihe, bei der eine Drag-Queen Kindern aus Kinderbüchern vorliest. Auf der Webseite der DSH erklärt der Verein das Konzept so: „Die DSH greift die Fantasie und das Spiel mit der Geschlechterfluidität der Kindheit auf und bietet Kindern glamouröse, positive und unverblümte queere Vorbilder. An Orten wie diesem können Kinder Menschen sehen, die sich über starre Geschlechtergrenzen hinwegsetzen, und sich eine Welt vorstellen, in der alle ihr authentisches Selbst sein können!“ Das ist natürlich zu viel für konservative von rechts bis ganz rechts. Die Veranstaltungen werden immer wieder von Rechtsextremen angegriffen. Wie MSNBC berichtet, schüren queerfeindliche Social Media Kanäle Panik und machen Stimmung gegen die DSH. „Diese Accounts berichten über eine Veranstaltung irgendwo im Land, und lokale Konservative und Extremisten wie die Proud Boys tauchen auf, um die Teilnehmer einzuschüchtern. Konservative Politiker haben sich daran beteiligt, die Kontroverse aufzublähen, um für Empörung und Wählerstimmen zu sorgen, und das potenzielle Gesetz in Idaho passt genau in dieses Schema“, schreibt MSNBC. Das liest sich wie eine Blaupause dessen, was am vergangenen Sonntag in Zürich passierte. Im „Tanzhaus“ fand eine Vorlesestunde mit Drag Queens statt. Neun Nazis blockierten die Straße vor dem Veranstaltungsort, zündeten Bengalos und skandierten Parolen. Im Tanzhaus selbst versuchten Störer ein Transparent zu entrollen, konnten aber von Besucher*innen daran gehindert werden. Eine rechtsextreme Gruppierung bekannte sich zu dem Überfall und postete Bilder der Aktion auf Social Media. Den Beifall gab es von anderen Nazis in den Kommentaren: „Starke und mutige Aktion (…) Die Genderideologie ist eine kranke und menschenfeindliche Idee, die sich gegen die natürliche Lebensordnung stellt, kleine Kindergehirne vergiften will und die Familie abschaffen möchte“, heißt es da zum Beispiel. Dass das leider nicht nur wirre Fantasien von rechten Trollen im Internet sind, zeigt das Gesetzesvorhaben in Idaho. Die Züricher Nazis wurden offenbar durch einen Artikel in der rechten Zeitung „Weltwoche“ auf die Vorlesestunde aufmerksam, darin heißt es: „Aktivistische Ideologen schrecken heutzutage vor nichts zurück. Auch nicht vor Kindern.“ Rechtskonservative Kräfte sind global vernetzt, ihre faschistische Agenda ist in vollem Gange. Der weltweit zu beobachtende antifeministische Backlash ist beunruhigend und wir sollten unbedingt vermeiden, diese Bestrebungen zu verharmlosen.

Mittwoch, 19. Oktober

Elnas Rekabi, die am Sonntag in Süd-Korea an einem Kletterwettbewerb ohne Kopftuch teilgenommen hatte, und daraufhin als vermisst galt, kehrte am Mittwoch nach Teheran zurück. Dort wurde sie von jubelnden Massen empfangen. Ihr öffentlicher Auftritt ohne Kopftuch wird als Unterstützung der Revolutionsbewegung im Iran verstanden, auch wenn die 22-Jährige später ein Statement auf Instagram veröffentlichte, in dem sie sagt, sie sei versehentlich ohne Kopftuch geklettert. Die BBC geht davon aus, dass diese Erklärung vom Regime erzwungen wurde und berichtet weiter, Elnas Rekabi sei schon direkt nach dem Wettkampf von iranischen Offiziellen der Pass und das Smartphone weggenommen worden.

Auch am Mittwoch

Wieder ist ein Mensch durch Polizeigewalt gestorben. Wieder war das Opfer psychisch krank. In Dortmund, wo vor Kurzem erst der 16-jährige Mouhamed Dramé von Polizeikugeln durchsiebt wurde, töteten die Cops am Mittwoch einen 44 Jahre alten obdachlosen Mann. Der Getötete soll paranoid-schizophren gewesen sein und unter Betreuung gestanden haben, Die Staatsanwaltschaft gab dem ND gegenüber an, er habe zudem ein „schwer vorerkranktes Herz“ gehabt und es gäbe „Anhaltspunkte zumindest für eine erhebliche Alkoholintoxikation“. Ein Anwohner hatte am Mittwochmorgen die Polizei gerufen, weil der Mann auf der Straße randaliert und gegen Autos geschlagen haben soll. Die vier beteiligten Cops konnten den Mann offenbar nicht direkt überwältigen und setzten eine Elektroschockpistole ein, die „seit mehr als einem Jahr testweise zur Grundausstattung der Dortmunder Polizei gehört“, wie das ND schreibt. Trotzdem sei die Todesursache noch nicht geklärt, die Staatsanwaltschaft prüft das nun, machte aber schon mal klar: „Im Rahmen der durchgeführten Obduktion konnte eine Kausalität zwischen dem Einsatz des Distanzelektroimpulsgerätes und dem Todeseintritt nicht sicher festgestellt werden.“

Donnerstag, 20. Oktober

In Groß Strömkendorf bei Wismar in Mecklenburg-Vorpommern ist eine Unterkunft für geflüchtete Menschen niedergebrannt. Die Polizei geht von Brandstiftung und einem politischen Hintergrund aus. Zum Glück blieben die 14 Bewohner*innen und drei Angestellten im Gebäude unverletzt. Am Montag zuvor waren Hakenkreuze am Haus entdeckt worden.

In der Nacht zu Donnerstag wurde in Lörrach eine 60-Jährige getötet. Ermittlungen zufolge soll ein 34-jähriger Familienangehöriger die Frau erschlagen haben. Laut Polizei schlug der Tatverdächtige mutmaßlich mehrmals mit einem Gegenstand gegen den Kopf der Frau.

Ebenfalls am Donnerstag hat in Berlin vermutlich ein 82-jähriger Mann seine 83 Jahre alte Ehefrau getötet. Der Rentner soll sich selbst bei der Polizei gemeldet und die Tat gestanden haben.

Bereits am vergangenen Samstag tötet mutmaßlich ein 30-Jähriger eine 31 Jahre alte Frau in einem Mehrfamilienhaus in der Altstadt von Dresden.

Auch am Donnerstag

Nachdem er seinen Verleger kritisiert hat, verlor Hanno Hauenstein am Donnerstag seinen Job als Leiter des Kulturressorts der Berliner Zeitung. Hauenstein hatte auf Twitter erklärt, dass er es „falsch“ findet, den ungarischen Fascho-Präsidenten Victor Orbán zu Gesprächen einzuladen. Es war ziemlich klar, dass er damit auch seinen Chef kritisierte, Holger Friedrich, den Unternehmer, der 2019 die Berliner Zeitung aufgekauft hatte. Das Unternehmen bestreitet natürlich, dass die Entscheidung, Hanno Hauenstein zu degradieren, mit dessen Kritik an Friedrich zu tun hat. Er „darf“ auch weiter im Ressort arbeiten, es eben nur nicht mehr leiten. Friedrich, der neben Orbán auch mit dem Chefredakteur des rechten Blattes „Cicero“ plauderte, hatte schon in der Vergangenheit Sympathien für Wladimir Putin geäußert.

Freitag, 21. Oktober

Sahra Wagenknecht hält die Grünen „für die heuchlerischste, abgehobenste, inkompetenteste und gemessen am Schaden, den sie verursachen, auch die gefährlichste Partei im Deutschen Bundestag“. Wer hier regelmäßig mitliest, weiß, dass ich alles andere als ein Fan der Grünen bin und bei „heuchlerischste“ würde ich wahrscheinlich sogar mitgehen (siehe bspw. Annalena Baerbock, die Waffendeals mit Saudi-Arabien als Instrument gegen Kinderarmut hinstellt), aber dieses billige Grünen-Bashing macht Wagenknecht ja nicht, weil sie inhaltlich etwas zusagen hat, sondern nur, um sich zum wiederholten Male Applaus von ganz rechts abzuholen. Dass die AfD nicht die „gefährlichste Partei im Deutschen Bundestag“ für Wagenknecht ist, sollte niemanden überraschen, der auch nur einen Bruchteil dessen gehört / gelesen hat, was die 53-Jährige in den letzten Monaten(!) von sich gegeben hat. Sahra geht full fascho mittlerweile und das aus simplem Machtkalkül. Dass sich ihre Parteigenoss*innen nun darin überschlagen, sich von der jüngsten Aussage zu distanzieren, war so erwartbar wie es unglaubwürdig ist. Die Linke hat viel zu lange von Wagenknechts Populismus profitiert (oder geglaubt, davon zu profitieren), als dass ich die Distanzierungsversuche der Partei jetzt noch abkaufen würde.

Samstag, 22. Oktober

Italien hat seine erste Präsidentin! Feministinnen aller Länder liegen sich feiernd in den Armen. Nein, natürlich nicht, den Giorgia Meloni ist eine verdammte Faschistin. Dass sie eine Frau ist, macht sie nicht weniger faschistisch oder gefährlich. Nachdem die Führerin der Nazipartei „Fratelli d’Italia“ am Samstag ihren Amtseid abgelegt hatte, gratulierten ihr unter anderem Ursula von der Leyen, die nochmal hervorhob, dass Meloni die „erste Frau auf diesem Posten“ („first woman to hold the post“) ist. Die Präsidentin der Europäischen Kommission twitterte weiter, dass sie sich „auf die konstruktive Zusammenarbeit (…) bei den Herausforderungen, denen wir gemeinsam begegnen“ freut. Ich wette, sie meint damit das Töten der Geflüchteten im Mittelmeer, was denkt ihr?! Aber auch der deutsche Kanzler, Olaf Scholz, gratulierte der Faschistin (sogar in ihrer Muttersprache!) und schob ebenfalls sein Vorfreude hinterher: „I look forward to continueworking closely together with Italy in EU, NATO and G7“. Ja, das glaube ich Dir aufs Wort, Olaf. Vielleicht bekommst Du ein paar heiße Tipps, wie du deinen Kopf noch aus der Wire-Card-/Cum-Ex-Schlinge ziehst oder kannst deine Erfahrung mit der Brechmittelfolter teilen, die du angeordnet hast und an deren Folgen der 19-jährige Achidi John 2001 gestorben ist.

Etwas gutes ist am Samstag aber auch passiert:

In Berlin gingen rund 80.000 Menschen in Solidarität mit den Revolutionär*innen im Iran auf die Straße.

Sonntag, 23. Oktober

Ich habe gerade kurz auf die aktuellen Hochrechnungen der Wahlen in Tübingen geschaut und bin komplett bedient. Nach Auszählung von 55 von 74 Wahlbezirken kommt der rechtspopulistische Amtsinhaber auf 52,7 Prozent. Boris Palmer wird also aller Voraussicht nach als Oberbürgermeister wiedergewählt werden. Damit wäre dann auch der letzte Beweis erbracht, dass man in Deutschland ganz offen rassistisch sein kann und der (wahlberechtigten) Mehrheit ist’s egal. Ich drücke trotzdem noch weiter die Daumen, dass dieser Clown die Wahl verliert. Dann würde er sich nämlich ein für alle Mal aus der Politik zurückziehen, so die Verheißung.

Das wars für heute mit dem Wochenrückblick. Wie immer: Danke fürs Lesen. Wenn Du kannst und willst, gibt es via PayPal die Möglichkeit, ein Trinkgeld dazulassen. Oder du wirst heute Fördermitglied auf Steady und hilfst mir dabei, meine Arbeit dauerhaft zu finanzieren.

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