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Margarete Stokowski sprach diese Woche in der Bundespressekonferenz über Long Covid. (Illustration von mir.)

Die Niedertracht hat Oberwasser

Der BND rekrutierte gezielt NS-Verbrecher, in Bratislava verübt ein 19-Jähriger ein queerfeindliches Attentat, der braune Mob fällt über Margarete Stokowski her und TERFs werden bei „Kontraste“ entlarvt. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive #KW41.

Montag, 10. Oktober

Nachdem bei den Landtagswahlen in Niedersachsen die AfD ein zweistelliges Ergebnis eingefahren hat, hätte ich am Montag eigentlich mehr Alarmismus erwartet. Aber nö, nichts dergleichen. Wir haben uns offenbar daran gewöhnt, dass ein nicht unerheblicher Teil der wahlberechtigten Bevölkerung mit rechtsextremen Positionen zumindest einverstanden ist. 10,9 Prozent wählten die AfD, die Partei konnte ihr Ergebnis im Vergleich zu den letzten Wahlen fast verdoppeln. Für die breite Masse der Medien ist das ein willkommener Anlass mal wieder das Märchen der „Protestwahl“ zu erzählen. Bei der Tagesschau heißt es etwa „90 Prozent sahen in der AfD die einzige Partei, mit der sie ihren Protest gegenüber der vorherrschenden Politik ausdrücken konnten“. Ja und? Alles halb so wild deshalb? Im Gegenteil, wenn ihr mich fragt. Denn dass es für rund 350.000 Menschen in Niedersachen überhaupt eine Option ist, eine rechtsradikale Partei zu wählen, ist alles andere als ein Grund zur Entwarnung. Und es bedeutet auch, dass 10 Prozent der Menschen, die der AfD ihre Stimme gaben, das nicht aus „Protest“ taten, sondern voller Überzeugung. Immerhin fast 40.000 Menschen.

Vielleicht lag es an der Berichterstattung zur Landtagswahl, dass eine Meldung von Montag etwas untergegangen ist: „BND rekrutierte gezielt NS-Verbrecher“, lautete die Headline der Tagesschau. In einer zehnjährigen Studie beschäftigte sich der Historiker Gerhard Sälter mit den NS-Biografien zahlreicher Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) und kam zum Ergebnis, dass 10-20 Prozent der BND-Mitarbeiter „Blut an den Händen“ hatten. „Und das bedeutet nicht, dass diese einfach irgendwo NSDAP-Mitglieder waren, sondern sie haben sich aktiv und zum Teil auch leitend an Mordaktionen beteiligt“, so Sälter. Die NS-Verbrecher hätten sich zudem nicht einfach beim BND eingeschlichen, sondern seien gezielt angeworben worden. Reinhard Gehlen, der ab 1956 Chef des Bundesnachrichtendienstes war, „habe nach dem Krieg gezielt ehemalige SS- und Gestapoleute aus dem NS-Terrorapparat angeworben“, heißt es im Bericht der Tagesschau. So viel zur „Entnazifizierung“ in der Bundesrepublik.  

Dienstag, 11. Oktober

Am Dienstag berichtete die taz von einem gewalttätigen Übergriff eines Johanniter-Mitarbeiters aus Brandenburg an der Havel auf einen Lieferfahrer. Der 39-jährige Nelson Mbugu lieferte am Abend des 5. Septembers eine McDonalds-Bestellung zur Regionalgeschäftsstelle der Johanniter Unfall-Hilfe. Dort nahm ein 40 Jahre alter Rettungssanitäter die Bestellung zunächst entgegen. Es fehlten jedoch Pommes und der 40-Jährige rastete aus. Die taz beschreibt die Gewalttat: Der Sanitäter griff ins Auto des Lieferfahrers und versucht die Schlüssel abzuziehen, was ihm nicht gelingt, stattdessen greift er Mbugus linken Arm und reißt ihn aus dem Fenster. Nelson Mbugu sagt: „Ich konnte nichts machen, ich war angeschnallt, ich war in einem Käfig“. Der Sanitäter soll ihm dann direkt in die Augen gesehen und sich „mit beiden Händen und seinem vollen Gewicht auf Mbugus ausgestreckten Arm“ gestemmt haben.  Mbugu hört ein Knacken, dann kommt der Schmerz. Später wird im Krankenhaus diagnostiziert: Spiralbruch im Oberarm. Mbugu wird stundenlang operiert und bekommt eine Metallplatte eingesetzt. Mehrere Zeug*innen sollen am Fenster der Johanniter-Geschäftsstelle gestanden haben, niemand kam Nelson Mbugu zur Hilfe, den Rettungswagen rief ein Kollege vom Lieferservice, der kurz nach der Tat hinzukam, um die fehlenden Pommes zu bringen. Bis heute haben sich die Johanniter nicht bei Nelson Mbugu gemeldet.

Mittwoch, 12. Oktober

Am Mittwoch machte Julia Klöckner mit einem Tweet Stimmung gegen die medizinische Versorgung von trans Kindern. „Das ist doch irre – sollte das kein Fake sein: Bundesregierung empfiehlt sehr jungen, unsicheren Menschen Pubertäts-Blocker“, twitterte die ehemalige CDU-Landwirtschaftsministerin mit einem Screenshot von der Internetseite „Regenbogen-Portal“, die von der Bundesregierung betrieben wird (übrigens auch schon, als Klöckner noch Ministerin war. Mit exakt gleichem Inhalt). Der Screenshot zeigt einen Ausschnitt der Unterseite zu „Jung und trans-geschlechtlich“ in Leichter Sprache, dort heißt es „Bist du noch sehr jung? Und bist du noch nicht in der Pubertät? So kannst du deinen Arzt / deine Ärztin fragen, ob dir Pubertätsblocker vielleicht helfen könnten.“ Also eine „Empfehlung“ für Pubertätsblocker sieht anders aus. Und selbst wenn: Sogenannte Pubertätsblocker, die eingesetzt werden, um ein (verfrühtes) Einsetzen der körperlichen Veränderungen während der Pubertät zu verhindern, werden nicht „einfach so“ Kindern verabreicht. Im Gegenteil, sie werden erst nach umfassenden Diagnosen verschrieben. Außerdem können Pubertätsblocker ganz einfach wieder abgesetzt werden, die körperliche Entwicklung geht dann einfach da weiter, wo sie mit den Blockern unterbrochen wurde. Die Blocker verschaffen trans Kindern mehr Zeit, um sich über die eigene Geschlechtsidentität klar zu werden. Wenn sie sich später entscheiden, körperlich zu transitionieren, können Hormone gegeben werden, sollten sie sich dagegen entscheiden, werden die Blocker einfach wieder abgesetzt und die Natur nimmt ihren Lauf. Es ist wirklich kein so großes Ding, aber Konservative erzählen gern Schauermärchen über diese vermeintlich mysteriösen Pubertätsblockern, um bei denen Angst zu schüren, die auch glauben, dass die Pharmaindustrie hinter dem „Trans-Trend“ steckt.  

Auch am Mittwoch

Am Mittwochabend verübte ein 19-Jähriger einen queerfeindlichen Anschlag auf eine Gay-Bar in Bratislava. Der Angreifer erschoss zwei Personen vor dem LGBT-Treffpunkt in der slowakischen Hauptstadt und verletzte eine weitere schwer. Der Täter, der sich nach den Schüssen offenbar suizidierte, kündigte seine Tat im Internet an. Er soll sich u.a. positiv auf andere rechtsextreme Terroristen bezogen haben und „eine Art Manifest“ veröffentlicht haben, das voller Hass auf queere und trans Personen ist. Wie das ZDF berichtet, hatte er für das Attentat „offenbar die Pistole seines Vaters verwendet, der in der Vergangenheit für eine rechtspopulistische Kleinpartei kandidiert haben soll“.

Donnerstag, 13. Oktober

Am Donnerstag tötete in Dresden mutmaßlich ein 29-jähriger Mann seine 31-jährige Bekannte mit einem Messer. Als die Polizei ihn festnehmen wollte, sprang er aus einem Fenster im fünften Stock und starb. Es war nicht der einzige Femizid diese Woche. Bereits am Montag wurde in Witten (NRW) eine 65 Jahre alte Frau tot aufgefunden. Laut Ermittlungskräften wurden „eindeutige Hinweise auf ein Tötungsdelikt festgestellt“. Ein 63 Jahre alter Mann wurde ein paar Tage später als tatverdächtig verhaftet. Am Mittwoch wurde in Eberswalde (Brandenburg) eine 39 Jahre alte Frau mutmaßlich von ihrem gleichaltrigen Nachbar getötet. Ebenfalls am Mittwoch soll ein 42-Jähriger in Barth (Mecklenburg-Vorpommern) seine Frau mit einem Messer getötet haben. Medienberichten zufolge soll der Mann „blutbeschmiert“ durch die Stadt gelaufen sein. In der Asylunterkunft, in der Mann und Frau lebten, fand die Polizei die Leiche der Frau. Das Ehepaar soll drei Kinder gehabt haben, die zum Tatzeitpunkt aber anderweitig untergebracht waren. In Bad Schwartau (Schleswig-Holstein) wurde am Freitagmorgen die Leiche eine 37-jährige Frau in einem Imbisslokal gefunden. Laut Rechtsmedizin wurden „Spuren massiver Gewalteinwirkung gegen den Kopf, den Hals, den Oberkörper und die Arme der Frau festgestellt“. Tatverdächtig ist der Ehemann der Getöteten.

Freitag, 14. Oktober

Am Freitag war Margarete Stokowski zu Gast in der Bundespressekonferenz. Sie sprach dort über ihre Long Covid Erkrankung, tägliche Kopfschmerzen, Fatigue, Konzentrationsschwierigkeiten, Wortfindungsstörungen und Schwindel, und seitdem trendet ihr Name auf Twitter. Kübelweise wird dort Hass und Häme ausgeschüttet. Von den versprengten Impfgegner*innen, die behaupten Long Covid sei nicht real und Margarete Stokowski leide unter „Impfschäden“, habe ich nichts anderes erwartet. Erschreckend finde ich aber, mit welcher Inbrunst sich die Springer-Medien auf das Thema stürzen und nachweisen wollen, dass Margarete Stokowski ja gar nicht wirklich krank sei, weil sie sich seit Beginn der Erkrankung u.a. hat tätowieren lassen, einen Bananenbrot gebacken hat und sich die Nägel lackiert. Die Niedertracht hat Oberwasser dieser Tage. Und es ist ein Schlag ins Gesicht aller chronisch Kranken, die sich regelmäßig anhören müssen, „so krank ja nicht sein zu können“, wenn sie ganz normale Dinge tun. Wir Depressiven kennen alle den Satz: „Aber du wirkst gar nicht depressiv.“

Auch am Freitag

SZ und Correctiv haben eine größere Recherche über Partnerschaftsgewalt im Profi-Fußball veröffentlicht: „Es geht um körperliche und psychische Gewalt, um organisiertes Schweigen, um öffentlichen Druck und subtile Bedrohung.“ Nicht nur die Ex-Partnerin von Jérôme Boateng erhebt schwere Vorwürfe gegen den ehemaligen deutschen Nationalspieler. Gleich mehrere Frauen, die anonym bleiben, sprechen über die Gewalt, die sie in Beziehungen mit bekannten Fußballern erlebt haben und über da Netzwerk aus Vereinen, Anwälten und Beratern, die ihre „Cash-Cows“ schützen.

Samstag, 15. Oktober

In Bonn fand am Wochenende der Bundesparteitag der Grünen statt. Für ein paar nimmermüde TERFs ein Anlass, gegen das geplante Selbstbestimmungsgesetz zu protestieren. Unter ihnen Eva Engelken, selbst Grünen-Mitglied und Autorin des Buches „Trans*innen? Nein, danke!“, das nicht nur voller Transfeindlichkeit, sondern auch in bester Schwurbelmanier über eine große Verschwörung munkelt. „Eva Engelkens Buch bedient zielsicher die üblichen Codes antisemitischer Ideologie“, stellt der Journalist Silvio Duwe fest, der u.a. auch mit Eva Engelken für einen Beitrag im ARD-Magazin „Kontraste“ gesprochen hat und sie dort mit den Falschbehauptungen in ihrem Buch konfrontiert. Der Kontraste-Beitrag ist wirklich sehenswert, er macht mir Hoffnung, dass die (verbale, psychische und physische) Gewalt, der trans Menschen in Deutschland ausgesetzt sind, ernster genommen wird. Den TERF in Bonn stellten sich übrigens stabile Antifaschist*innen entgegen. Danke, dass ihr da wart!

Sonntag, 16. Oktober

Apropos Bundesparteitag der Grünen. Die Partei, die für Klimaschutz gewählt wurde, hat heute mit knapper Mehrheit ein Räumungsmoratorium für Lützerath abgelehnt. Sie stimmten dem Deal zwischen Robert Habeck und RWE zu, der den längeren Betrieb zweier Kohlekraftwerke erlaubt und mit dem die Abbaggerung des Ortes Lützerath verbunden ist.

In der Nacht zu Sonntag kam es im iranischen Gefängnis Evin in Teheran zu einem Brand. Anwohnende haben zudem Schüsse und Explosionen gehört. In Evin sind viele der klügsten Köpfe des Irans inhaftiert, Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Aktivist*innen, aber auch viele der überwiegend jungen Menschen, die jüngst bei den Protesten gegen das Regime verhaftet wurden.

Das wars für heute mit dem Wochenrückblick. Wie immer: Danke fürs Lesen. Wenn Du kannst und willst, gibt es via PayPal die Möglichkeit, ein Trinkgeld dazulassen. Oder du wirst heute Fördermitglied auf Steady und hilfst mir dabei, meine Arbeit dauerhaft zu finanzieren.

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