Der misogyne Massenmord von Sydney ist offiziell nicht ideologisch motiviert, in Deutschland steigt die Zahl der Angriffe auf Journalist*innen und auch auf obdachlose Menschen, Dortmunds Polizei bedauert die Tötung eines 16-Jährigen nicht und Deutschland kriegt einen „Veteranentag“. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW16
Montag, 15. April
Im vergangenen Wochenrückblick habe ich kurz über das Messerattentat in einem Einkaufszentrum in Sydney berichtet. Ein 40 Jahre alter Mann hatte dort gezielt Frauen angegriffen, fünf der sechs Todesopfer sind weiblich. Unter den zwölf Verletzten waren ein neun Monate altes Mädchen (dessen Mutter getötet wurde) und weitere neun Frauen. Am Montag berichtete auch die Tagesschau über das möglicherweise misogyne Motiv des Attentäters. Denn Überwachungsvideos der Tat würden zeigen, wie der Täter mit einem langen Messer bewaffnet überwiegend Frauen verfolgte. Die Polizeipräsidentin des Bundesstaats New South Wales, Karen Webb, sagte, der Täter habe sich „auf Frauen konzentriert und Männer gemieden“, die Videos sprächen „für sich selbst“. Trotzdem ist die Polizei sich sicher, dass sie „einen terroristischen Hintergrund“ ausschließen könnten und es keine Hinweise auf eine „Ideologie als Antrieb“ gäbe. „Die Polizei hat sich geirrt. Das Motiv war Terrorismus“, schreibt die Journalistin Mona Eltahawy in einem sehr lesenswerten (englischsprachigen) Essay auf ihrem Blog. Mit der Kategorisierung der Gewalttat als ideologiefrei, als geradezu alltäglich, wird sie zu einer, die wir weniger ernstnehmen sollen. „Der Angreifer tötete nicht genug Männer, um seinen Amoklauf als Terrorismus zu bezeichnen„, schreibt Mona Eltahawy, „denn wenn wir ehrlich betrachten, was Terrorismus ist, dann ist es die Gewalt einer Gruppe von Männern gegen eine andere Gruppe von Männern, und der Rest von uns ist nur Hintergrundrauschen“. Die Ideologie des Täters, die die Polizei sich weigert zu sehen, sei das Patriachat, erklärt Eltahawy. Und die misogyne Gewalt ist deren politischer Ausdruck. Das Patriarchat sozialisiere Männer in dem Glauben, ein Anrecht auf die Aufmerksamkeit und Zuneigung von Frauen zu haben, so Eltahawy. Zurückweisung, wie zum Beispiel die Weigerung, einem Mann die eigene Telefonnummer zu geben, oder nicht zurückzulächeln, könne für Frauen ein Todesurteil bedeuten. Vollstreckt würde das Todesurteil von Männern wie dem Attentäter von Sydney. Und es kann jede beliebige Frau treffen, einfach weil sie Frauen sind. Der Vater des Täters von Sydney wandte sich nach dem Amoklauf an die Presse, er wisse, warum sein Sohn vor allem Frauen ins Visier genommen habe: „Weil er eine Freundin wollte, keine sozialen Fähigkeiten hat und völlig frustriert war“, zitiert die Tagesschau. Ich frage mich, ob es jemals eine Frau gegeben hat, die loszog, um Männer abzustechen, weil sie unfreiwillig Single war.
Dienstag, 16. April
Die Zahl der Angriffe auf Journalist*innen steigt. Das European Centre for Press and Media Freedom (ECPMF) zählte im vergangenen Jahr 69 gewalttätige Übergriffe gegen Pressevertreter*innen in Deutschland. 2022 waren es 56 Fälle. Vor der Corona-Pandemie war die Zahl noch bedeutend niedriger, in den Jahren 2015 bis 2019 kam es jährlich im Durschnitt zu 23 Vorfällen. Doch auch nach den „Spaziergängen“ von Impfgegner*innen und Pandemie-Leugner*innen, werden Medienschaffende weiterhin bedroht und angegriffen: „Die Annahme, dass mit der Marginalisierung der Querdenker:innen-Bewegung und dem damit gekoppelten abnehmenden Versammlungsaufkommen auch die Zahl der Angriffe auf Journalist:innen in Deutschland sinkt, hat sich nicht bestätigt“, heißt es beim ECPMF. Der MDR berichtete am Dienstag darüber, dass sich 30 % der Angriffe in Sachsen ereigneten, und spricht von einer zunehmenden Medienfeindlichkeit. Patrick Peltz, Co-Autor der ECPMF-Studie, erklärt: „Medienfeindlichkeit äußert sich nicht mehr nur in den mittlerweile zum Alltag von Journalistinnen und Journalisten gehörenden Lügenpresse-Rufen, Beleidigungen und Bedrohungen, sondern seit vier Jahren auch in einer erhöhten Zahl gewalttätiger Übergriffe auf Journalistinnen und Journalisten.“ Einer dieser Übergriffe ereignete sich vor zwei Jahren im Dresdner Stadtteil Laubegast, wo am 13. Februar 2022 wie jeden Sonntag Menschen gegen die Pandemiepolitik der Regierung demonstrierten. Weil es gleichzeitig auch der Jahrestag der Bombardierung Dresdens im 2. Weltkrieg war, dokumentierten zwei junge Journalist*innen den Aufmarsch, an dem auch bekannte Neonazis teilnahmen. Vorsorglich hatten sie Begleitschutz dabei, da es im Vorfeld bereits immer wieder zu bedrohlichen Situationen gekommen war. Am Tattag löste sich plötzlich eine Männergruppe aus der Demonstration und rannte auf die Reporter*innen zu und attackierten sie u.a. mit einem Fahrradschloss. Zwei der Angreifer stehen derzeit in Dresden vor Gericht. Einer davon, ein 45 Jahre alter „Teilzeit-Hausmeister“ und Personenschützer wurde noch am ersten Prozesstag gegen eine Geldauflage entlassen, das Verfahren wurde eingestellt. Und das, obwohl eines der Hauptopfer noch gar nicht ausgesagt hatte. „Geldauflage von 1.000€ für die Verfahrenseinstellung – so viel kostet es wohl, um ansonsten straffrei mit einem Neonazi-Mob Journalisten zu jagen und auf Begleitschützer*innen einzutreten“, kommentierte das damals betroffene Medien- und Rechercheteam die Entscheidung des Gerichts, ein „Bitteres Signal der Justiz nach einem der heftigsten Angriffe der letzten Jahre auf Medienschaffende in Deutschland.“
Mittwoch, 17. April
Das schwedische Parlament verabschiedete am Mittwoch ein Gesetz, das es trans Personen ab 16 Jahren ermöglicht, den amtlichen Geschlechtseintrag zu ändern. Zuvor lag das Mindestalter bei 18 Jahren. Auch geschlechtsangleichende Operationen sind zukünftig ab 16 Jahren möglich, allerdings braucht eine minderjährige Person die Zustimmung eines Vormunds, eines Arztes und des Nationalen Gesundheits- und Sozialamtes. Die zuvor vorausgesetzte Diagnose der Geschlechtsdysphorie als „psychische Störung“ entfällt aber. Das Gesetz wurde mit 234 Ja- und 94 Nein-Stimmen angenommen. Schweden war 1972 das erste Land weltweit, das die Änderung des amtlichen Geschlechtseintrags ermöglichte, die Vereinfachung des Verfahrens löste jedoch eine heftige Debatte aus, wie wir sie in Deutschland ja zuletzt auch verfolgen konnten. Die rechtsextremen Schwedendemokraten lehnten das Gesetz ab, deren Vorsitzender Jimmie Akesson erklärte, es sei „bedauerlich, dass ein Vorschlag, der eindeutig nicht von der Bevölkerung unterstützt wird, so leichtfertig angenommen wird“. Tatsächlich zeigt eine diese Woche veröffentlichte Umfrage, dass fast 60 % der Schwed*innen das Gesetz ablehnten, nur 22 % sind dafür. Ein Beleg dafür, wie auf dem Rücken von trans, inter und nicht-binären Menschen Stimmung gemacht wird. Dass fast 60 % ein Gesetz ablehnen, dass sie überhaupt nicht betrifft, zeugt davon, wie populistisch die Debatte geführt wird. Johan Hultberg, Abgeordneter der Regierungspartei erklärte: „Die große Mehrheit der Schweden wird die Gesetzesänderung nicht bemerken, aber für eine Reihe von transgender Personen macht das neue Gesetz einen großen und wichtigen Unterschied“. Peter Sidlund Ponkala, Vorsitzender des schwedischen LGBT-Verbands, RFSL (Riksförbundet för homosexuellas, bisexuellas och transpersoners rättigheter), sagte: „Es ist ein willkommener Schritt in die richtige Richtung, um die Rechte von transgender Personen zu stärken, und eine Anerkennung für alle, die seit Jahrzehnten auf ein neues Gesetz gewartet haben“, trotzdem ist das neue Gesetz kein echtes Selbstbestimmungsgesetz, wie es vom Verband seit Jahren gefordert wird. Der Verband wird sich weiterhin dafür einsetzen, dass die legale Änderung des Geschlechtseintrags per Selbstauskunft möglich wird und dass das Recht der Menschen auf rechtliche Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität in vollem Umfang respektiert wird.
Auch am Mittwoch
In Dortmund läuft derzeit der Prozess gegen die Polizeibeamt*innen, die letztes Jahr gemeinschaftlich den 16-jährigen Mouhamed Dramé erschossen haben. Der junge Geflüchtete aus dem Senegal saß im Hof einer Jugendhilfeeinrichtung und war in psychisch labilem Zustand. Er soll sich ein Messer an den Bauch gehalten haben. Es ging keine Gefahr von ihm aus, doch die Polizei griff ihn ohne Vorwarnung mit Pfefferspray an und schoss anschließend mit einem Taser und nahezu gleichzeitig mit einem Maschinengewehr auf den Jungen. Fünf Schüsse trafen ihn unter anderem im Gesicht und in den Bauch. Der Dienstgruppenleiter sagte am Mittwoch vor Gericht, der Einsatz sei „gut gelaufen“. Auch sein Kollege, der den Taser abfeuerte zeigte kein Bedauern.
Donnerstag, 18. April
In Monrovia, der Hauptstadt von Liberia, wurde ein US-amerikanischer Missionar freigesprochen, dem ein brutaler Mordversuch an seiner jungen liberianischen „Zweitfrau“ vorgeworfen wird. Der Fall ist ein Lehrstück kolonialrassistischer Gewalt und wie diese die Gerechtigkeit mit Füßen tritt. Lucas Richard, ein weißer christlicher Missionar, arbeitete in Liberia an einer Schule, wo er Jessica Lloyd begegnete. Obwohl er verheiratet ist, seine Frau ist ebenfalls Missionarin, begann er eine Beziehung mit Jessica, heiratete sie in einer traditionellen Zeremonie. Als er im September letzten Jahres erfuhr, dass sie von ihm schwanger war, injizierte er Jessica Lloyd ein Medikament, um die Schwangerschaft abzubrechen, heißt es in der Anklageschrift. Die Spritze habe sie „hilflos und schwach“ gemacht. Nachdem die Schule von der Beziehung des Missionars mit der Schülerin erfahren haben soll, habe Richard sich entschieden, Jessica zu töten. Er soll ihr zunächst gegen den Kopf geschlagen und als sie bewusstlos zu Boden fiel, zog er ein Messer und schnitt ihr die Kehle auf. Nur zufällig kam ein junger Mann, Enerst Philip, auf einem Motorrad vorbei und stoppte Lucas Richard, der daraufhin mit seinem Auto floh. Richard erzählte später, er sei überfallen worden und der Mann auf dem Motorrad hätte Jessica angegriffen. Am Donnerstag endete der Prozess gegen Lucas Richard mit einem Freispruch. Die Aussagen von Jessica Lloyd und Enerst Philip seien nicht ausreichend, erklärte der zuständige Richter in Verbindung mit einem Bibelzitat. Er urteilte: „Der Angeklagte wird hiermit davon entbunden, sich jemals zu diesen Anklagepunkten zu äußern, und es wird angeordnet, dass seine Kaution, sofern vorhanden, zurückgegeben wird“. Lucas Richard verließ den Gerichtssaal als freier Mann. Jessica, die angab, dass ihr Richards Anwälte 10.000 US-Dollar für ihr Schweigen geboten hätten, sagte nach der Urteilsverkündung: „Er hatte keinen einzigen Zeugen – nur er selbst hat für sich selbst ausgesagt. Aber wir hatten fast sieben oder acht Zeugen. Aber dass der Richter Lucas für unschuldig erklärt, ich weiß nicht. (…) Ich bin heute am Leben und ich bin Gott dankbar. Der Richter saß da, er wusste alles. Und das für wenig oder gar nichts – selbst die Bestechung, von der ich gesprochen habe, hat er nicht einmal beachtet. Ich weiß nicht, wie viel sie ihm gegeben haben.“
Freitag, 19. April
Ein sizilianisches Gericht hat am Freitag das Strafverfahren gegen die Seenotretter*innen der „Iuventa“ abgewiesen. Seit 2017 liefen Ermittlungen, den Angeklagten wurde Schlepperei vorgeworfen, der Crew drohten jahrzehntelange Haftstrafen. „Unser Fall ist ein Symbol für die Strategien, die europäische Regierungen ergreifen, um Menschen daran zu hindern, sich in Sicherheit zu bringen“, erklärte einer der Angeklagten. Das Gerichtsverfahren sei Teil einer „öffentlichen Diffamierungskampagne gegen die zivile Seenotrettung“ gewesen. Tatsächlich nimmt die Kriminalisierung ziviler Flüchtlingshilfe immer weiter zu. 2023 standen in der EU mindestens 117 Personen wegen vor Gericht, weil sie Solidarität mit Menschen auf der Flucht gezeigt hatten. Eine Auswertung der NGO Picum zeigt, dass die meisten Personen wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise oder zum Aufenthalt oder wegen der Schleusung von Migrant:innen angeklagt“ waren, berichtet die taz. So wurden beispielsweise in Lettland zwei Personen angeklagt, weil sie Menschen an der Grenze zu Weißrussland Lebensmittel und Wasser gaben. „Die Kriminalisierung der Solidarität mit Migranten ist eng mit der Kriminalisierung der Migration selbst verknüpft“, sagte Michele LeVoy, Direktorin von Picum. Die taz berichtet, dass Helfer*innen von „Ärzte ohne Grenzen“ an der griechischen Küste selbst Schwangere oder verletzte Menschen nicht versorgen könnten, ohne dass juristische Konsequenzen drohen: „Würde man sich bei Hilfseinsätzen mit anderen NGOs koordinieren, könnte dies als ‚organisiertes Verbrechen‘ ausgelegt werden“.
Samstag, 20. April
Die Militarisierung Deutschlands schreitet voran. Damit meine ich nicht nur die 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr und die Forderung aus der Union, die Summe zu verdreifachen, sondern vor allem die gesellschaftspolitische Aufrüstung: Immer mehr Schulen laden Soldat*innen in den Unterricht ein, 2022 haben sogenannte „Jugendoffiziere“ 4.308 Vorträge vor Schüler*innen ab Klassenstufe 9 gehalten. Dazu kommen Pläne, die Wehrpflicht wieder einzuführen (der Bundesverteidigungsminister plant „ein deutsches Wehrdienstmodell (…), das bedrohungsangepasst auch kurzfristig skalierbar einen Beitrag zur gesamtstaatlichen Resilienz liefert“) und zukünftig ein jährlicher „Veteranentag„. In einem gemeinsamen Antrag einigten sich CDU, SPD, Grüne und FDP auf den 15. Juni, an dem den deutschen Soldat*innen „Dankbarkeit und Anerkennung“ gezeugt werden soll. Die Wehrbeauftragte der Bundesregierung, Eva Högl von der SPD, findet das super. Es sei wichtig, Stolz, Dankbarkeit und Wertschätzung zu zeigen und den Gefallenen und Verwundeten zu gedenken: „Wir brauchen mehr Veteranenkultur in Deutschland.“ Falls euch jetzt auch ein bisschen Kotze hochgekommen ist, lest am besten gar nicht erst die Kommentare dazu in den sozialen Medien. Einen „Krankenpflegetag“, „Müllabfuhrtag“ oder „Kinderbetreuungstag“ plant die Bundesregierung übrigens nicht. „Dankbarkeit und Anerkennung“ gibt es in Deutschland seit jeher nun mal lieber fürs Marschieren und Befehle ausführen.
Sonntag, 21. April
Die taz veröffentlichte heute die neue Kolumne von Andreas Speit. Der Rechtsextremismusexperte schreibt über die Zunahme der Gewalt gegen obdachlose Menschen. Zwischen 1989 und 2023 zählte die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe 2.350 schwere Körperverletzungen gegen wohnungslose Menschen, in 1.350 Fällen waren die Täter*innen selbst nicht wohnungslos. 626 Menschen wurden im gleichen Zeitraum getötet, in 281 Fällen ging die Gewalt von nicht-obdachlosen Menschen aus. „Während die Taten von Obdachlosen sich häufig in Notunterkünften ereigneten und nicht unbedingt als gezielte Angriffe zu verstehen seien, müsse man bei Nichtobdachlosen von gezielten Angriffen aufgrund von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ausgehen“, erklärt Andreas Speit, bezugnehmend auf die Einschätzung der Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft, Werena Rosenke. Doch die politische Motivation der Täter*innen wird selten berücksichtigt. Dabei ist die klassistische Abwertung obdachloser Menschen ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wie die Autor*innen der sogenannten „Mitte-Studie“ der Friedrich Ebert Stiftung feststellten, stimmen 19 bis 20 % der Deutschen, „die sich gesellschaftlich in der Mitte oder oben verorten“ der „Herabwürdigung und Diskriminierung von Gruppen aufgrund von Armut, Arbeitslosigkeit oder Obdachlosigkeit zu“.
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