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Mirrianne Mahn rasierte die Frankfurter Buchmesse mit ihrer spontanen Rede am Sonntag.

Paradoxe und Peinlichkeiten

Julian Reichelt wurde abgesägt, Leni Breymeier nur so halb, Kracht und Malchow sind schlechte Verlierer und Mirrianne Mahn rasiert die Frankfurter Buchmesse. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW42

Montag, 18. Oktober

Julian Reichelt ist nicht länger Chefredakteur der BILD. Nachdem am Sonntag die New York Times über den Fall Julian Reichelt berichtet hatte, wurde er am Montag laut Pressemitteilung mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben entbunden. Der Konzern erklärt, Reichelt habe „Privates und Berufliches nicht klar getrennt und dem Vorstand darüber die Unwahrheit gesagt hat.“ Eine sehr euphemistische Umschreibung für Machtmissbrauch und Lügen. Auch in Deutschland hatten Journalist*innen an der Sache gearbeitet. Das Investigativ-Team des Ippen-Verlags hatte in den vergangenen Monaten aufwändig zu den Vorwürfen gegen Reichelt recherchiert. Der Text, fertig zur Veröffentlichung und von Justizar*innen geprüft, wurde jedoch im letzten Moment von Verleger Dirk Ippen gestoppt. Ein waschechter Medienskandal, wenn ihr mich fragt. Kurz darauf veröffentlichte dann der SPIEGEL die Rechercheergebnisse des Ippen-Teams. „Die Recherchen zeichnen das Bild eines Chefredakteurs, der mit Mitarbeiterinnen, die eigentlich unter seinem Schutz stehen, mitunter so umging, dass man sie eher vor ihm schützen müsste. Es geht um das Machtgefälle zwischen jungen Frauen und Deutschlands lange Zeit mächtigstem Boulevardjournalisten, um Sex, der zwar einvernehmlich war, aber augenscheinlich mit beruflichen Vor- und Nachteilen verbunden, um drängende Nachrichten mitten in der Nacht. Und um einen Umgang mit Frauen, der sich auch kaum dadurch entschuldigen ließ, dass der Sexismus in der Berichterstattung der »Bild« traditionell auch in der Redaktion gepflegt wurde.“ (SPIEGEL)

Es sei in der Redaktion bekannt gewesen, dass „Reichelt sexuelle Verhältnisse mit Frauen hatte, die in der Hierarchie unter ihm standen“ so der Spiegel. „Besonders im Politik- und Showressort habe Reichelt »gewildert«, heißt es aus Redaktionskreisen. Darunter seien immer wieder Berufsanfängerinnen gewesen. Wenn eine neue Praktikantin auf dem roten Sofa im Newsroom (…) besonders witzig und eloquent aufgetreten sei, habe man »die Uhr danach stellen können«, dass Reichelt ihr kurz darauf »nachstellte«, sagt eine ehemalige Springer-Führungsperson.“

Jetzt ist Reichelt also abgesägt, aber die Springer-Maschine läuft munter weiter. Springer-CEO Mathias Döpfner muss sich einen neuen Chefredakteur für sein Schmutzblatt suchen. Dass der Fisch immer vom Kopf stinkt, zeigt sich hier erneut beispielhaft. In einer Privatnachricht an seinen (damaligen) Kumpel Benjamin von Stuckrad-Barre schrieb Döpfner nach Spiegel-Informationen während des Untersuchungsverfahrens gegen Reichelt, dieser sei „halt wirklich der letzte und einzige Journalist in Deutschland, der noch mutig gegen den neuen DDR Obrigkeits-Staat aufbegehrt.“ Andere Journalist*innen, so Döpfner, „seien zu Propaganda-Assistenten geworden“, schreibt der Spiegel.

Nochmal Montag

Am Montag wurde außerdem der Deutsche Buchpreis in Frankfurt verliehen. In der Kategorie „Roman des Jahres“ hat Antje Rávic Strubel mit „Blaue Frau“ gewonnen. Ich kann dazu nichts sagen, denn ich habe weder dieses Buch noch überhaupt etwas von der Autorin gelesen. Ich berichte auch überhaupt nur deshalb darüber, weil der Kiwi-Verlag sich infolge der Preisverleihung einen peinlichen, unnötigen und in mehrerer Hinsicht ekelhaften Fauxpas erlaubte. Anstatt der Gewinnerin zu gratulieren, postete der Verlag auf Instagram ein Foto von Christian Kracht und seinem Lektor Helge Malchow. Die beiden Männer hatten sich ihre identischen Schals um den Kopf gebunden und schauten bedröppelt in die Kamera. In der Caption stand „Symbols are more meaningful than things themselves“. Und dazu verschiedene Hashtags, darunter #talibancamp und #burkini. Ich zeige euch den Screenshot hier:

Ich war fassungslos: Wie kommt der Verlag darauf, dass das eine gute (witzige?) Idee ist?! Weiße Männer, die so tun, als würden sie ein Kopftuch tragen und dazu Hashtags, die sowohl islamfeindlich sind als auch das grauenhafte Regime der Taliban verharmlosen, sind schon wirklich widerlich genug. Dazu kommt aber noch eine weitere Ebene der Niedertracht, indem durch das Zitat „Symbols are more meaningful than things themselves“ der Eindruck erweckt wird, der Preis sei als „Symbol“ verliehen worden. In „Blaue Frau“ geht es um eine tschechische Frau, die von einem deutschen Kulturmanager vergewaltigt wird. Christian Kracht, der zuvor schon nicht zum Fototermin mit den Nominierten erschienen war, hält sich vermutlich eh für was Besseres. Helge Malchow, der zuletzt noch die Vergewaltigungslyrik von Till „Rohypnol ins Glas“ Lindemann verteidigt hatte, ist einfach nur ein schlechter Verlierer. Nachdem der Kiwi-Verlag zunächst nur die Hashtags entfernte, löschte er das Bild kurz darauf kommentarlos. (Ihr könnt meinen ausführlichen Rant dazu auf Instagram anschauen.)

Dienstag, 19. Oktober

Dass der Deutsche Literaturbetrieb an so vielen Stellen fault und stinkt, zeigte diese Woche auch die Debatte um die Frankfurter Buchmesse, die auch dieses Jahr wieder rechte und rechtsextreme Aussteller mit offenen Armen empfängt. Nachdem die Aktivistin Hami Nguyen auf Instagram darauf aufmerksam machte, dass der rechte Verlag Jungeuropa seinen Stand direkt neben der Bühne des ZDF aufbauen würde, erklärte u.a. Autorin Jasmina Kuhnke, dass sie ihren Messebesuch absagen würde. Auf Twitter schrieb sie: „Es ist absehbar, dass über den Verlag hinaus auch weitere Rechtsextreme die Messe besuchen werden, was die Gefahr für mich persönlich unübersehbar gegenwärtig macht“. Jasmina Kuhnke musste erst kürzlich mit ihrer Familie umziehen, da Nazis ihre Adresse herausgefunden und sie bedroht hatten. Der Chef der Frankfurter Buchmesse erklärte lapidar: „Einer der Grundpfeiler der Frankfurter Buchmesse ist die Meinungsfreiheit“, sagte Juergen Boos. „Wir können niemanden ausschließen, können hier keine Zensur ausüben, egal, ob mir diese Leute passen, ob ich sie unerträglich finde.“ Was Boos meint: Solange die Aussteller zahlen, dürfen sie bleiben. Unerträglich finde ich vor allem diese weiße privilegierte Sicht auf den „Diskurs“, der für so viele Menschen eben keine Debatte ist, sondern Lebensbedrohlich. Boos sagte im Deutschlandfunk: „Ich bedauere sehr, dass die Autorin nicht an diesem Diskurs teilnimmt“, als wäre Jasmina Kuhnke hier das Problem. Zum Glück erhielt Jasmina Kuhnke auch viel Solidarität. So sagten u.a. auch Annabelle Mandeng, Nikeata Thompson, Ciani-Sophia Hoeder, Riccardo Simonetti und Raul Krauthausen ihre Auftritte auf der Buchmesse ab. Natürlich gab es dafür auch wieder Kritik. So seien Boykotte nicht der richtige Weg, vielmehr müsse man in einer Demokratie verschiedene Meinungen „aushalten“. Das sagt sich leicht, wenn man selbst von diesen „Meinungen“ nicht bedroht ist. Die rechtsextreme Strategie geht auf, das Spektrum des Sagbaren wird immer weiter nach rechts verschoben und jede Kritik an menschenfeindlichen Positionen gilt als Bedrohung der Meinungsfreiheit. Dass in dem Land, in dem Nazis vor nicht mal 90 Jahren haufenweise Bücher verbrannten, nun neue Nazis auf der Buchmesse Werbung für ihre Hasspropaganda machen dürfen, ist für mich nicht nachvollziehbar.

Mittwoch, 20. Oktober

In der Nacht zu Mittwoch wurde ein Brandanschlag auf eine deutsch-türkische Familie in Solingen verübt. Gegen 2 Uhr morgens wurde ein Brandsatz auf den Balkon der Familie geworfen. Die 48-jährige Bewohnerin konnte das Feuer mithilfe ihrer erwachsenen Kinder löschen, wobei sie leicht verletzt wurde. Wie sich später herausstellte, sind zwei Jugendliche tatverdächtig. Ein 13- und ein 14-jähriger Junge sollen in der Nähe des Tatorts gezündelt haben, bevor sie en Brandsatz warfen. Im Umfeld des Tatorts fand die Polizei einen Mund-Nasen-Schutz mit Hakenkreuz und SS-Runen, es sei aber noch „völlig unklar“, woher die Maske stamme und wem sie gehöre.

Nochmal Mittwoch

Am Mittwoch wurde Leni Breymeier als Sprecherin der SPD im „Arbeitskreis Gleichstellung, Vielfalt“ aufgestellt, der den Koalitionsvertrag verhandeln soll. Die 61-Jährige ist berühmt für ihre Ablehnung von trans Rechten. Sie ist strikt gegen ein Selbstbestimmungsgesetz für trans, inter und nichtbinäre Menschen. Ihre transfeindliche Agenda legte sie im Mai selbst in einem Facebookpost dar. Sie schreibt darin polemisch über die körperliche Selbstbestimmung von trans Personen und beschwört eine vermeintliche Gefahr für die Frau herauf. „Meine lesbischen Kontakte und Freundinnen sind höchst alarmiert. Viele transsexuelle Menschen, die die Gesetzentwürfe für uneignet [sic] halten, schweigen, um sich zu schützen. Diejenigen, die öffentlich Kritik äußern, werden im Netz von Trans*Aktivist*innen heftig attackiert.“ Die SPD hatte erst kürzlich gegen das von den Grünen und (ähnlich lautend) von der FDP vorgeschlagene Selbstbestimmungsgesetz gestimmt und damit das Vertrauen vieler trans Personen verspielt.

Am Donnerstag verschickte die SPD eine Pressemitteilung, in der die Besetzungen der Arbeitskreise aufgelistet waren. Leni Breymeier war nun nicht mehr als Sprecherin aufgeführt, allerdings weiterhin als Mitglied. Die TERF-Bubble in den Sozialen Medien drehte durch. „Empörend! @LeniBreymaier wurde als Leiterin der SPD Arbeitsgruppe ‚Gleichstellung und Vielfalt‘ für die Koalitionsverhandlungen abberufen. Die SPD hat sich der hip-woken Berliner-Polit-Blasen- und Queer-Community gebeugt und damit eine aufrechte Frauenrechtlerin preisgegeben“, schreibt Inge Bell, 2. Vorsitzende von Terre des Femmes auf Twitter und postet ein Bild von sich mit dem Slogan #TeamLeni.

Donnerstag, 21. Oktober

Die Neuen Deutschen Medienmacher*innen haben den Negativpreis „Goldene Kartoffel“ an die „Debatte über ‚Identitätspolitik‘ in bürgerlichen Medien“ verliehen, „die rechtsradikale Thesen normalisiert und salonfähig gemacht hat.“ Damit zeichnet die Organisation „so gut wie allen Medien des bürgerlichen Spektrums, von der taz bis zur FAZ, von ARD bis ntv, von Deutschlandradio bis zum gesamten Privatfunk“ aus: „Das war wirklich ein Gemeinschaftswerk.“ In der Begründung der Jury heißt es:

„‘Identitätspolitik‘ ist – anders als Klima, Steuern oder Rente – kein Thema, das mit dem Alltag (von irgendwem) zu tun hat und das niemand so richtig versteht. Trotzdem wurde es im Jahr 2021 in den meisten Medien rauf und runter diskutiert, mit Stichworten wie ‚Cancel Culture‘, ‚bedrohte Meinungsfreiheit‘ und ‚Rassismus gegen Weiße‘.

Die Wahnvorstellung, dass Ausländer*innen die Diskurshoheit übernehmen, autoritäre Minderheiten Sprechverbote erteilen und linke Aktivist*innen an den Schaltstellen der Macht sitzen, könnte man getrost als neurechtes Geschwafel abtun. Nicht so das deutsche Feuilleton: Um die verlorene Ehre des alten weißen Mannes wiederherzustellen, fuhr es 2021 journalistisch schwere Geschütze auf (…)

Nach den rechtsterroristischen Anschlägen von Halle und Hanau, dem Mord an Walter Lübcke und dem Einzug von Rechtsextremen in sämtliche deutsche Parlamente wurde ernsthaft darüber sinniert, ob ‚linke Identitätspolitik‘ das harmonische Zusammenleben bedrohe. Und nur wenige Monate nach der ‚Black Lives Matter‘-Debatte haben sich im Frühjahr 2021 fast alle Medien in Deutschland gefragt, ob People of Color und Schwarze Menschen mit ihrem Antirassismus nicht doch zu weit gehen.“

Neue Deutsche Medienmacher*innen

Wohl verdient, liebe Bürgi-Medien.

Freitag, 22. Oktober

In Berlin gingen anlässlich des Klimastreiks zwischen 10.000 und 20.000 Menschen auf die Straße. Der antikapitalistische Block, der sich relativ weit hinten im Demozug befand, wurde von der Polizei angegriffen, wie Bilder auf Twitter zeigen. Die Veranstalter*innen von Fridays For Future Deutschland solidarisierten sich erst mit den Antikapitalist*innen, löschten den Tweet anschließend aber wieder. Auf Twitter löste das Verhalten der Organisator*innen Diskussionen aus. Während sich die Bewegung für die einen nun vollends als „linksextrem“ positioniert hat, halten die anderen den unkritischen Umgang mit der Polizei für heuchlerisch. Wenn ihr mich fragt: Klimaschutz und kapitalistisches Wachstum schließen sich aus. Wer den Kapitalismus gern nur ein bisschen grüner hätte, ist in der Ampel-Koalition besser aufgehoben, als auf der Straße beim Klimastreik.

Samstag, 23. Oktober

Weil der Wochenrückblick schon wieder viel zu lang ist und ich mich frage, wer das alles lesen soll, halte ich den Samstag kurz und stelle nur eine Quizfrage: Wird eine rechte, konservative, armenfeindliche Politik besser, wenn sie von mehr Politikerinnen vertreten wird? Ihr dürft nur einmal raten.

Sonntag, 24. Oktober

Und nochmal zum Thema Buchmesse. Heute wurde die simbabwische Autorin und Filmemacherin Tsitsi Dangarembga mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Das ist toll und verdient, allerdings nicht der Grund, dass ich es hier erwähne. Bevor Dangarembga der Preis überreicht wurde, sprach zunächst Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann und sagte, es sei schlimm, „dass Autorinnen Angst haben, nach Frankfurt zu fahren, weil sie hier auf rechtsradikale Verlage und Autoren treffen könnten“. Eine deutliche Positionierung des SPD-Mannes, aber die wichtigsten Worte sprach anschließend Mirrianne Mahn. Die Stadtratsabgeordnete der Grünen unterbrach Feldmann am Ende seiner Rede mit den Worten „Ich würde gerne was sagen“. Mirrianne Mahn sagt, sie müsse „als Schwarze Frau, als Stadtverordnete in Frankfurt hier, sehr klar auf ein Paradox hinweisen (…) Wir sprechen über den Diskurs und wir sprechen über Meinungsfreiheit. Rechtsradikale Ideologien, menschenfeindliche Ideologien sind keine Meinungsfreiheit. Das Paradox ist, dass wir hier in der Paulskirche, der Wiege der Demokratie, einer Schwarzen Frau den Friedenspreis verleihen, aber Schwarze Frauen auf genau dieser Buchmesse nicht willkommen waren. Und ich sage ganz klar, nicht willkommen waren, weil nicht dafür gesorgt wurde, dass sie sich sicher fühlen. Das ist keine Meinungsfreiheit. Wenn wir dulden, dass rechtsradikale Menschen mit genau diesen menschenverachtenden Ideologien eine Plattform hier in Frankfurt, in meiner Stadt, in unserer Stadt, in meiner Heimat, bekommen. Menschen, die nicht wollen, dass Andere, die so aussehen wie ich, die so aussehen wie die Preisträgerin heute, in Deutschland sind – Dann beteiligen wir uns aktiv an dem nächsten Hanau. Die Zeit muss sich ändern. Die Zeit wird sich ändern. Solange ich hier in Frankfurt bin, werde ich alles dafür tun, dass keine rechten Menschen eine Plattform geboten wird, mit denen sie ihre menschenverachtenden Ideologien verbreiten können. Der Diskurs zur Meinungsfreiheit ist hier nicht der Diskurs. Menschen wie ich können hier nicht sitzen und zuhören, darüber dass die Buchmesse für einen Diskurs gelobt wird, der für Andere existenziell ist.“

Mirrianne Mahn hat in diesem kurzen Statement mehr Rückgrat bewiesen, als der gesamte Börsenverein jemals haben könnte. Ich finde es gleichzeitig so enttäuschend, dass es wieder Betroffene sind, die aufstehen, die laut sind. Dass es Schwarze Frauen und Women of Color sind, die sich positionieren und damit noch zusätzlichem Hass von Rassist*innen aussetzen. Es wird Zeit, dass auch die Haltung zeigen, die vom Erstarken des Rechtsextremismus nicht ultimativ existenziell bedroht sind.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Sarah

    Wer das alles lesen soll, weil’s so lange ist? Ich!

    Vielen Dank für deine sonntäglichen Recaps!

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