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GOLDZILLA mit dem Wort zum Sonntag.

Lebensgefährliche Entscheidung

In Cottbus attackiert ein Lehrer einen syrischen Schüler, in Berlin rückt jetzt sogar die Polizeipräsidentin von der Einzelfall-Rhetorik ab und J.K. Rowling schreibt wieder Bullshit ins Internet. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW11

Montag, 11. März

Am Montag wurde ein 31-jähriger US-Amerikaner vom Landgericht Kempten zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er im vergangenen Juni in der Nähe von Schloss Neuschwanstein die 21-Jährige Eva Liu vergewaltigt und ermordet hat. Er versuchte außerdem ihre 22-jährige Freundin, Kelsey Chang, zu ermorden. Beide Opfer, College-Studentinnen aus Illinois, waren ebenfalls als Touristinnen in der Nähe des Schlosses unterwegs, als der Täter sie unter einem Vorwand von dem Hauptweg weglockte. Er stieß daraufhin Kelsey Chang in eine Schlucht, sie überlebte den etwa 50 Meter tiefen Sturz. Eva Liu würgte er bis zur Bewusstlosigkeit, vergewaltigte sie und warf sie anschließend ebenfalls in die Tiefe. Die Opfer habe er „zufällig ausgewählt“, heißt es beim BR, doch internationale Medien berichten davon, dass beim Täter pornografische Gewaltvideos sowie Missbrauchsdarstellungen an Kindern gefunden wurden. Er soll ostasiatische Frauen fetischisiert haben und sich selbst bei der Vergewaltigung gefilmt haben. „Dieser sexualisierende Blick auf asiatisch gelesene Frauen, vor allem von weißen Männern, hat eine lange Geschichte, die unter anderem von Kolonialismus, Kriegen, Migration und der Etablierung des Massen-Sextourismus geprägt wurde. (…) Manifestiert in der weißen Wahrnehmung wurde dieses Narrativ vor allem durch die Beteiligung der USA an mehreren Kriegen in Asien“, schrieb die Journalistin Minh Thu Tran 2021 in der Süddeutschen Zeitung. Sie macht deutlich, dass das kein US-exklusives Problem ist, sondern auch in Deutschland weitverbreitet. „Der Unterschied ist, dass diese Stereotype in den USA von Feministinnen und asiatischen Frauen schon lange problematisiert und kritisiert werden, während hier in Deutschland dafür noch wenig Bewusstsein herrscht. Rassismus, den asiatisch gelesene Personen erleben, wird häufig klein geredet oder gar abgetan: Asiat*innen seien fleißig, gut in der Schule, die Frauen hübsch, die Männer machten kaum Probleme, ansonsten ruhig, unsichtbar, eine sogenannte Vorzeigeminderheit. Das Problem: Rassismus mündet in Gewalt. Und dadurch, dass Rassismus gegen asiatische Communities wenig ernst genommen wird, wird auch rassistische Gewalt, die Menschen aus diesen Communities erleben, unsichtbar gemacht.“

Dienstag, 12. März

Das Bundesinnenministerium hat den Bericht einer unabhängigen Expert*innen-Kommission zur Verbreitung von antimuslimischem Rassismus in Deutschland zurückgezogen. Die Untersuchung, die nach dem rassistischen Anschlag in Hanau 2020 durchgeführt wurde, zeigt u.a. auf, dass etwa „jede*r Zweite in Deutschland (…) muslimfeindlichen Aussagen“ zustimmt: „Dabei kommt es zu Überschneidungen von verschiedenen Vorbehalten und Abwertungen, weil Muslim*innen zum einen als besonders ‚fremde‘ Zuwander*innen wahrgenommen werden und zum anderen als Angehörige einer angeblich ‚rückständigen‘ Religion“. Die Kommission empfiehlt u.a. „Muslimfeindlichkeit und Rassismus stärker zusammen zu denken“. Muslimfeindlichkeit resultiere nicht allein aus Vorurteilen gegenüber dem Islam, sondern speise sich auch aus rassistischen Motiven. Der Bericht plädiert für „dringend erforderliche[n] konsequente[n] Bekämpfung von Muslimfeindlichkeit (alternativ: Antimuslimischem Rassismus) auf allen staatlichen und gesellschaftlichen Ebenen“ und gibt dafür insgesamt 20 Handlungsempfehlungen. Nunja, die sind jetzt archiviert, der Bericht ist nicht mehr aufrufbar. Nancy Faeser, die im Vorwort noch schrieb „Es gilt nun, sich ernsthaft mit den Empfehlungen des vorliegenden Berichtes auseinanderzusetzen und entschlossen gegen Muslimfeindlichkeit vorzugehen“, will das Dokument nicht mehr verbreiten, es bleibe offline und „verbliebene Druckexemplare würden entsorgt“. Der Grund dafür? Der häufig mit rassistischen Provokationen auftretende Publizist Henryk M. Broder und die selbsternannte „Islamismusexpertin“ Sigrid Herrmann (SPD) hatten gegen ihre Erwähnung im Bericht geklagt. Broder bekam in Teilen Recht. Im Bericht wird Broders Blog „Die Achse des Guten“ als „rechtskonservativ“ und „islamfeindlich“ bezeichnet, mehr nicht, ich habe alle Stellen gelesen, in denen Broder erwähnt oder zitiert wird. (Ja, ich habe den Bericht noch rechtzeitig heruntergeladen, meldet euch, wenn ihr das PDF haben wollt.)

Auch am Dienstag

Recherchen des Bayerischen Rundfunks zeigten, dass mehr als 100 Mitarbeiter*innen der AfD-Fraktion im Bundestag „in Organisationen aktiv sind, die von deutschen Verfassungsschutzämtern als rechtsextrem eingestuft werden“. Deutschland stellt der AfD-Fraktion jedes Jahr mehr als 30 Millionen Euro für Personal zur Verfügung. Ich lehne mich nicht aus dem Fenster, wenn ich sage, dass der aktive Rechtsextremismus in Deutschland direkt aus Steuermitteln finanziert wird.

Mittwoch, 13. März

Am Mittwoch wurden Vorwürfe gegen einen Lehrer aus Cottbus öffentlich. Der Mann soll im letzten Herbst einen syrischen Jungen in der Klasse zunächst mit der Hand in den Nacken geschlagen und anschließend mit dem Knie einen Tisch gegen den Brustkorb des Schülers gedrückt haben. Der Vater des Betroffenen sagt: „Mein Sohn hatte große Schmerzen und begann zu weinen. Danach meinte der Lehrer, er solle still sein und aufhören zu weinen“. Im Krankenhaus wurde laut rbb ein „schmerzhaftes Halswirbelsäulen-Schleudertrauma, schmerzbedingte Bewegungseinschränkung und eine Prellung des Brustkorbs“ diagnostiziert, das Kind musste drei Tage im Krankenhaus bleiben. Der Vater erstattete Anzeige gegen den Lehrer, die Schulleitung hatte noch versucht, ihn davon abzubringen: „Sie wollten sich mit mir treffen, damit ich keine Anzeige gegen den Lehrer stelle und um das Ganze gütlich zu regeln“, erzählt Abdullah A. dem rbb. Gegen den Lehrer liegen bereits zwei weitere Anzeigen vor. So soll er einem tschetschenischen Schüler in den Rücken getreten haben. Dessen Mutter sagt, sie sei von der Schulleitung nicht ernstgenommen wurden.

Donnerstag, 14. März

Ein Security-Mitarbeiter einer Nürnberger Flüchtlingsunterkunft wurde wegen sexualisierter Gewalt in 67 Fällen zu zehn Jahren Haft verurteilt. Der 54-Jährige vergewaltigte mindestens zwei Frauen in Keller- und Büroräumen der Unterkunft „über einen Zeitraum von drei Jahren nahezu wöchentlich, teilweise mehrmals die Woche“. Er nutzte seine Machtposition aus und drohte den Frauen, dass er dafür sorgen würde, dass ihnen die Kinder weggenommen würden. „Gerade die Frauen, die durch vom deutschen Staat geführte Kriege in aller Welt, Preisexplosionen und zu hohe Mieten, in Flucht, Obdachlosigkeit und psychische Erkrankungen getrieben werden, erleben dann in staatlichen Einrichtungen keine Verbesserung ihrer Lage, sondern eine Kontinuität der Gewalt, die sie ihr Leben lang erfahren haben“, schreibt Elodie Fischer in einem Kommentar, der am Donnerstag auf Perspektive Online veröffentlicht wurde und macht auf die Tatsache aufmerksam, dass die Existenz von Massenunterkünften selbst bereits gewaltvoll ist. „Zwar sind einzelne Gerichtsurteile im Sinne der Betroffenen zu begrüßen, wie die Verurteilung des Security-Mitarbeiters der Geflüchtetenunterkunft, doch das schiere Ausmaß der sexualisierten Gewalt, der Frauen und andere Schutzsuchende in staatlichen Unterkünften ausgesetzt sind, scheint dadurch nicht eingedämmt werden zu können.“ In Berlin-Tegel ist am Dienstag eine Leichtbauhalle, in der 300 Menschen untergebracht waren, abgebrannt, zum Glück gab es keine Schwerverletzten. Insgesamt leben auf dem Gelände der Massenunterkunft derzeit 4.200 Menschen. „Immer wieder haben wir in der Vergangenheit gewarnt, dass das Zusammenpferchen so vieler Menschen in prekären Unterkünften höchst gefährlich ist“, erklärte Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von PRO ASYL. Emily Barnickel vom Flüchtlingsrat Berlin ergänzt: „Sehr häufig haben wir den Berliner Senat gemahnt, dass Tegel kein Ort für geflüchtete Menschen ist. Außerdem fordern wir, dass der Senat endlich den Zugang zu privatem Wohnen erleichtern und den sozialen Wohnungsbau viel stärker fördern soll, statt immer weiter auf Massenunterbringung zu setzen”.

Freitag, 15 März

„Wir mussten irgendwann erkennen: Von Einzelfällen kann man nicht mehr sprechen, davon sind es einfach zu viele.“ Das ist ein bemerkenswerter Satz einer Polizeipräsidentin im Hinblick auf rechtsextreme Cops. Gesagt hat ihn Barbara Slowik, Chefin der rund 27.000 Polizist*innen in Berlin, am Freitag vor dem Ausschuss, der die Versäumnisse der Polizei bei der Aufklärung einer rechtsextremen Anschlagsserie in Neukölln untersucht. Dass Slowik von der lange bemühten „Einzelfall“-Rhetorik jetzt abrückt, bedeutet aber nicht, dass sie begriffen hat, wie massiv das Polizeiproblem ist. Es heißt nur, dass sie die unzähligen Rechtsextremen im Staatsdienst nicht mehr einfach wegreden kann. Keine Einzelfälle, aber auch „keine Netzwerke“ oder „Strukturen“, laut Slowik. Ihr Vorgänger im Amt, Klaus Kandt, erinnert sich angeblich an fast gar nichts mehr. Der Untersuchungsausschuss setzt seine Arbeit fort. Als nächstes wird er sich die Morde an Burak Bektaş und Luke Holland vornehmen, die beide in Neukölln, möglicherweise vom selben rechtsextremen Täter, erschossen wurden. Ermittelt hatte in beiden Fällen der Polizist Alexander H., gegen den derzeit intern ermittelt wird, weil er hunderte rechtsextremistische Fälle einfach nicht bearbeitet haben soll.

Samstag, 16. März

Es gibt Meldungen, die bekommt die große Mehrheit der Bevölkerung nicht mal mit, obwohl sie für einen kleinen Teil der Bevölkerung eine unfassbare Katastrophe bedeuten. Die schriftliche Urteilsbegründung des Bundessozialgerichts zum Verfahren B1 KR 16/22 R ist so ein Fall. Denn diese verhindert zukünftig die Kostenübernahme für geschlechtsangleichende Operationen für trans Personen durch die Krankenkassen. „Eine lebensgefährliche Entscheidung“ nennt das die DGTI in einer Stellungnahme, die am Samstag veröffentlicht wurde. Das Gericht urteilte, dass ein Anspruch auf Kostenerstattung erst dann bestehe, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine entsprechende Empfehlung abgegeben hätte. Für die DGTI und andere Interessenvertretungen von trans und nicht-binären Personen, setzt dieses Urteil die Fremdbestimmung von trans Personen fort. Der G-BA ist ein Gremium, in dem weder betroffene Patient*innen noch Mediziner*innen mit entsprechender Expertise sitzen. Die DGTI fordert daher die Bundesregierung auf, der Koalitionsvereinbarung entsprechend, die Leistungen für geschlechtsangleichende Maßnahmen im SGB V zu verankern und bis dahin eine Übergangsregelung zu treffen, die die lebenswichtige Gesundheitsversorgung sichert.

Die Veröffentlichung der schriftlichen Urteilsbegründung des Bundessozialgerichts war diese Woche nicht der einzige Nackenschlag für trans Personen. Am Dienstag meldete der National Health Service (NHS) in Großbritannien, dass die Ausgabe von Pubertätsblockern an trans Jugendliche gestoppt werde, bis neue Studien dazu abgeschlossen seien. Die Entscheidung sorgt bei konservativen Transfeind*innen für Genugtuung, bei den betroffenen Jugendlichen und ihren Familien jedoch für Entsetzen. Stonewall, eine der wichtigsten Organisation für LGBTQIA-Rechte in Großbritannien ist besorgt über die Entwicklung. „Alle jungen trans Menschen verdienen Zugang zu einer qualitativ hochwertigen und rechtzeitigen Gesundheitsversorgung (…) Für einige kommt ein wichtiger Teil dieser Versorgung in Form von Pubertätsblockern, einer reversiblen Behandlung, die den Beginn der Pubertät verzögert und von erfahrenen Endokrinolog*innen verschrieben wird, was den jungen Menschen zusätzliche Zeit gibt, sich über die weiteren Schritte Gedanken zu machen“, erklärte Stonewall gegenüber dem Guardian. Eine der treibenden Kräfte gegen die Würde und medizinische Versorgung von trans Jugendlichen in Großbritannien ist die Harry Potter Autorin J.K. Rowling, die diese Woche in die Liga der Leugnerinnen von NS-Verbrechen aufgestiegen ist, als sie behauptete trans Menschen hätten unter der nationalsozialistischen Herrschaft keine Verfolgung erfahren. Wer das auch glaubt, dem empfehle ich, jetzt ganz schnell Liddy Bacroff (1908-1943) zu googlen und etwas über die Plünderung und Zerstörung des Instituts für Sexualwissenschaft 1933 zu lesen.

Sonntag, 17. März

„Wir können nicht zusehen, wie Palästinenser den Hungertod riskieren“, sagte Olaf Scholz heute nach einem Treffen mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Und besser kann man die deutsche Haltung zur Situation in Nahost nicht zusammenfassen. Jetzt sind die Palästinenser*innen also auch noch selbst schuld, wenn sie verhungern, äh, „den Hungertod riskieren“? Ist ja nicht so, dass eine Kriegspartei aktiv dafür sorgt, dass die Menschen keinen Zugang zu Lebensmitteln haben. „Obwohl Israel vom Internationalen Gerichtshof rechtsverbindlich angewiesen wurde, die Bereitstellung humanitärer Hilfe vollumfänglich zu ermöglichen, wird die Überfahrt von Hilfskonvois seit Wochen massiv behindert“, erklärt Medico International die aktuelle Situation. Eine Untersuchung der London School of Hygiene and Tropical Medicine, Health in Humanitarian Crises Center und des Johns Hopkins Center for Humanitarian Health hat in verschiedenen Szenarios die Entwicklung der humanitären Katastrophe berechnet und kommt selbst im Falle eines sofortigen Waffenstillstands zu dem Ergebnis, dass im Gazastreifen aufgrund von  Mangelernährung, Hygienesituation und Gesundheitsversorgung innerhalb des nächsten halben Jahres 6.550 Menschen sterben werden. Laut UNICEF sind im Norden des Gazastreifens 31 % der Kinder unter zwei Jahren akut mangelernährt. Eine Verdopplung der Zahl seit Januar. „Die Geschwindigkeit, mit der sich diese katastrophale Hungerkrise bei Kindern im Gazastreifen entwickelt hat, ist schockierend, insbesondere, da die dringend benötigte Hilfe nur ein paar Kilometer entfernt bereitsteht“, sagte UNICEF-Exekutivdirektorin Catherine Russell. Ja, was „riskieren die Palästinenser auch den Hungertod“, fragt Scholz und beißt in eine Currywurst.

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+++ Achtung, der Wochenrückblick #KW12 muss leider ausfallen +++ Es geht dann hier am 31. März weiter +++

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