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16,2 % der Deutschen finden es „ekelhaft, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen“ - das ergab die neueste "Mitte-Studie" der Friedrich Ebert Stiftung. (Foto via pexels.com)

Kompromiss my ass

Das Recht auf Asyl soll weiter eingeschränkt werden, jede 12. Person in Deutschland ist rechtsextrem eingestellt und in Burg wurde eine Regenbogenflagge durch eine Deutschlandfahne ersetzt. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW38

Montag, 18. September

Am Montag stellte die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus* (MIA) ihren ersten Jahresbericht vor. 2022 wurden bundesweit insgesamt 621 rassistische Vorfälle gegen Sinti*zze und Rom*nja erfasst. „Besonders gravierende Vorfälle fanden sich im Kontext von Polizei, Jugendamt, Jobcenter sowie von kommunalen Verwaltungen, die für die Unterbringung von Geflüchteten zuständig sind“, erklärte MIA. Im ersten Jahr der Dokumentation fehlt es noch an Vergleichsdaten, um Entwicklungen abbilden zu können. Weiterhin ist von einem immensen Dunkelfeld auszugehen, da viele Vorkommnisse des alltäglichen Rassismus es nie in eine Statistik schaffen. Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma machte deutlich: „Die Bekämpfung des Antiziganismus kann nicht die Aufgabe der Minderheit, sondern muss eine Aufgabe unserer gesamten Gesellschaft sein.“

*ich verwende den Begriff nur in Zitatform oder wenn es sich (wie bei MIA) um einen Eigennamen einer Organisation handelt. Der Begriff beinhaltet die rassistische Fremdbezeichnung für Sinti*zze und Rom*nja und als Gadje steht es mir nicht zu, diese zu reproduzieren.

Dienstag, 19. September

Ein Berliner Gericht bestätigte am Dienstag die fristlose Kündigung eines Mannes, der 19 Jahre lang bei einer Bundesbehörde gearbeitet hat. Der Mann hatte einer Kollegin gegen deren Willen an die Brüste gefasst und war daraufhin entlassen worden. Dagegen hatte er geklagt. Das Arbeitsgericht sah keinen Grund, der Betroffenen nicht zu glauben. Die Aussage des Mannes, es habe sich nur um ein „unbeabsichtigtes seitliches Streifen der Brüste gehandelt“, wurde als Schutzbehauptung bewertet.

Auch am Dienstag

Autor*in und politische Bildner*in Mine Pleasure Bouvar hat am Dienstag einen sehr lesenswerten Text in der „Analyse & Kritik“ veröffentlicht. Unter der Überschrift „Was lange währt wird scheiße“ fasst Mine prägnant zusammen, was das Problem mit dem aktuellen Gesetzesentwurf für das geplante Selbstbestimmungsgesetz ist. Der Text kann hoffentlich dazu beitragen, „dass queere Menschen in Deutschland aus dem Dornröschen-Schlaf der bürgerlichen, von Verbänden bestimmten Lobby-Politik […] erwachen und sich […] organisieren, angesichts der absehbar harten kommenden Jahre“, wie sie* schreibt.

Mittwoch, 20. September

Ein 41-jähriges Mitglied der „Letzten Generation“ ist am Mittwoch in Berlin zu acht Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt worden. Die Klima-Aktivistin hatte zwischen dem 10. Und 19. Oktober 2022 an einigen Aktionen der Gruppe teilgenommen und sich zweimal auf die Straße geklebt, um den Autoverkehr zu blockieren. Für diese Form des friedlichen zivilen Ungehorsams muss sie nun ins Gefängnis. Auch in München wurde eine Straßenblockade verhandelt, doch im Unterschied zur Berliner Richterin entschied sich das Gericht dafür, das Verfahren gegen die Aktivistin einzustellen. Die „Letzte Generation“ erklärte: „Diese Unterschiede im Strafmaß für ein und dasselbe sind absurd. Kein Gericht wird das Spannungsfeld, in dem wir uns befinden, auflösen können. Wir werden weitermachen, bis die Regierung ihrer Verpflichtung nachkommt, unsere Lebensgrundlagen zu schützen.Für alle, die Menschen und Motive hinter den Aktionen besser verstehen möchten, empfehle ich den Podcast „Hitze“ von TRZ Media und rbb.

Auch am Mittwoch

An der Schule in Burg (Spreewald), die wegen zahlreicher rechtsextremer Vorfälle in die Schlagzeilen geriet (ich habe auch darüber berichtet), wurde eine Regenbogenflagge gestohlen und durch eine Deutschlandfahne ersetzt. Das bestätigte die Polizei am Mittwoch. Sie ermittelt nun „in alle Richtungen“ (lol).

Donnerstag, 21. September

Seit meiner Bachelorarbeit 2009 verfolge ich alle zwei Jahre mit Spannung (und wachsendem Grauen) die Veröffentlichung der sogenannten „Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Zusammenarbeit mit dem Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Uni Bielefeld (bis 2012 war es eine Arbeitsgruppe an der Uni Leipzig um Elmar Brähler, Oliver Decker und Johannes Kiess). Am Donnerstag war es wieder so weit. Die Studie, die rechtsextremistische und demokratiegefährdende Einstellungen in der deutschen Gesellschaft erfasst, wurde vorgestellt. Dieses Jahr trägt sie den Titel „Die distanzierte Mitte“ und fördert erschreckende Zahlen zu Tage. Während in den Vorjahren rund 2 bis 3 % der Befragten ein rechtsextremes Weltbild teilte, sind es aktuell 8 %. Das ist jede zwölfte Person! Auch in den anderen Kategorien nahmen rechtsextreme und demokratiefeindliche Einstellungen zu.

Ihr wollt weitere Ergebnisse? Okay:

  • 14 % stimmen der Aussage zu „Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“ (12,2 % stimmen teilweise zu)
  • 34,1 % finden, Geflüchtete kämen nur nach Deutschland, um das Sozialsystem auszunutzen (weitere 29,3 % stimmen teilweise zu)
  • 16,5 % meinen, jüdische Menschen würden heute einen Vorteil aus der Vergangenheit des Nationalsozialismus ziehen wollen. (Zusätzliche 18,8 % stimmen dem teilweise zu.)
  • 32,3 % glauben Politiker*innen „und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte“ (zusätzlich stimmen den 29,4 % teilweise zu)
  • 26,3 % sind der Meinung, es würde zu viel „Rücksicht auf Minderheiten genommen“ (weitere 28,2% sehen das „teils/teils“ so)
  • 17,2 % stimmen der Aussage zu, „Wenn sich andere bei uns breitmachen, muss man ihnen unter Anwendung von Gewalt zeigen, wer Herr im Hause ist“ (19,4% billigen Gewalt „teils/teils“)
  • 16,2 % finden es „ekelhaft, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen“ (zusätzliche 14,8 % stimmen hier teils/teils zu)
  • 16,8 % machen die Identität von trans* Menschen verächtlich und finden es „albern, wenn ein Mann lieber eine Frau sein will oder umgekehrt, eine Frau lieber ein Mann“ (weitere 16,8 % sehen das „teils/teils“ so)
  • 10,6 % fordern, dass sich Frauen mehr auf die Rolle als Ehefrau und Mutter konzentrieren sollen (und weitere 14,4 % stimmen teilweise zu)
  • 11,8 % stimmen der Aussage zu „Es gibt wertvolles und unwertes Leben“ (12% stimmen teils/teils zu)
  • 19,8 % fordern: „Bettelnde Obdachlose sollten aus den Fußgängerzonen entfernt werden“ (zusätzlich stimmen dem 22,4 % teilweise zu)

Freitag, 22. September

Eine Meldung vom Freitag ging nach der Veröffentlichung der „Mitte-Studie“ am Donnerstagabend ziemlich unter, dabei illustriert sie schmerzhaft treffend die aktuelle Lage in Deutschland. Das „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ (RND) hat die großen KZ-Gedenkstätten (Dachau, Buchenwald, Bergen-Belsen, Neuengamme und Sachsenhausen/Ravensbrück) befragt und herausgefunden, dass diese sich ich wegen der Zunahme von Vandalismus, Schmierereien und feindseligen Äußerungen Sorgen machen. Die Präsenz von Rechtsextremen und Hakenkreuz-Schmierereien nähmen spürbar zu. Vor zwei Jahren habe es Vorfälle dieser Art etwa einmal pro Monat gegeben, „nun sind von uns nahezu wöchentlich Taten zur Anzeige zu bringen“, sagte der stellvertretende Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Rikola-Gunnar Lüttgenau zum RND. Die Zunahme der Fälle sei „ein Seismograph dafür, dass versucht wird, diese Grundfeste der heutigen Bundesrepublik ins Rutschen zu bringen“. Eine Sprecherin der Gedenkstätte Bergen-Belsen bestätigt die Erfahrung: „Die Grenzen des Sagbaren werden seit einiger Zeit verschoben und demokratiefeindliche und rechtsradikale Ansichten erscheinen hoffähig geworden zu sein“.

Samstag, 23. September

„Wir brauchen eine Wende in der Migrationspolitik wie den Asylkompromiss Anfang der 1990er Jahre. Ich begrüße, dass sowohl Robert #Habeck als auch Friedrich #Merz dies offenbar genauso sehen. Bei den Grünen ist das ein neuer Schritt. Wir sollten die Gelegenheit nutzen. Denn für Veränderungen, die das Grundgesetz betreffen könnten, brauchen wir einen übergreifenden Konsens“, twitterte Christian Lindner am Samstag und brachte damit auf den Punkt, was derzeit politisch läuft. Spoiler: Nichts Gutes, im Gegenteil! Der Asylkompromiss 1993 war das Ergebnis einer jahrelangen, politisch und medial aufgebauten, rassistischen Stimmungsmache gegen Geflüchtete und Asylsuchende in Deutschland. Dem „Kompromiss“ vorausgegangen (und gefolgt) sind zahlreiche rassistisch motivierte Übergriffe und Brandanschläge, wie zum Beispiel in Hoyerswerda (September 1991), Rostock-Lichtenhagen (August 1992), Mölln (November 1992) und Solingen (Mai 1993). „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, wurde 1949 im Artikel 16 des Grundgesetzes festgeschrieben. Es war eine direkte Konsequenz aus den Verbrechen der Deutschen im Nationalsozialismus. Dieses individuelle Grundrecht auf Asyl schaffte der Bundestag mit 521 zu 132 Stimmen am 26. Mai 1993 ab. Von nun an galten die sogenannte „Drittstaatenregelung“ (wer über ein Nachbarland oder ein EU-Land nach Deutschland einreist, kann sofort abgewiesen werden und hat kein Anrecht auf Asyl), es wurden die angeblich „sicheren Herkunftsstaaten“ eingerichtet (wer aus einem dieser Länder kommt, hat keinen Anspruch auf Asyl) sowie die Möglichkeit geschaffen, Menschen bis zu 19 Tage am Flughafen festzuhalten und die Einreise zu verweigern, da diese „exterritoriale Gebiete“ eingestuft wurden. Die Grundgesetzänderung hatte massive Folgen für schutzsuchende Menschen und Abschiebungen nahmen zu. Jetzt, 30 Jahre später, will die Ampelkoalition mit Unterstützung der Union das Asylrecht also erneut verschärfen, bzw. abschaffen. Nachdem der Rat der EU-Innenminister*innen Anfang Juni eine Reform des europäischen Asylsystems beschlossen hatte, die u.a. Gefängnisse an den EU-Außengrenzen sowie Abschiebungen in fast alle außereuropäischen Staaten vorsieht, soll in Deutschland der Weg dafür durch eine neuerliche Grundgesetzänderung freigemacht werden. Die gesellschaftliche Stimmung ist der von 1993 jedenfalls nicht unähnlich, wie sich u.a. auch am Samstag veröffentlichten SPIEGEL-Cover eindrucksvoll zeigt. Zu sehen sind zahlreiche Menschen, die in einer Schlange stehen, die sich über das gesamte Cover zieht. Die Farben sind verfremdet, die Menschen in schwarz-weiß abgebildet, der Hintergrund ist gelb. Die Menschen stehen mit dem Rücken zur Kamera, nur die im Bildvordergrund sind als Individuen zu erkennen; es sind Schwarze Menschen, alle männlich gelesen. Am oberen linken Bildrand ist der Bug eines Schiffes zu erkennen, auf dem „Lampedusa“ steht. In Versalien ist der Titel des Hefts in „Spiegel-Orange“ aufgedruckt: „SCHAFFEN WIR DAS NOCH MAL?“ mit der kleinen Unterzeile „Der deutsche Streit über die Asylpolitik“. Die Aufmachung des Titelblatts ähnelt erschreckend stark einer antisemitischen Kampagne des früheren Wiener Bürgermeisters (1897 bis 1910) Karl Lueger (hier anzuschauen). Dass der SPIEGEL auf eine lange Reihe rassistischer Cover zurückblicken kann, ist nicht neu (eine Auswahl hier und hier). Dennoch ist es skandalös, wie sich die Redaktion hier in den Dienst rechtsextremer Stimmungsmache stellt. „Der Spiegel wählt ein Bild für sein Titelblatt aus, das häufig von rechtsextremen Gruppen verwendet wird. Warum denken Medien wie der Spiegel nicht kritisch darüber nach, wie man „unbeabsichtigt“ zu einer Unterstützung für radikale Rechte werden kann?“, schreibt der politische Bildner und Podcaster Zuher Jazmati. Und der Sozialwissenschaftler und Autor Cihan Sinanoğlu kommentiert: „dieses cover ist ein symbol für diese unsägliche, rassistische debatte. diese menschen werden zu objekten gemacht über die man spricht u. die nicht sprechen dürfen. kein*r bekommt ein gesicht, einen namen, eine stimme, eine geschichte. es gibt keinen streit. es gibt einen konsens für schnelle und härtere abschiebungen. konsens für grenzregime die menschenleben kosten. konsens darüber das rechte und rassistische diskurse normal und notwendig für eine demokratie sind. wir sind gerade dabei das letzte funken menschlichkeit zu verlieren.“

Sonntag, 24. September

Sonntags ist „Sendung mit der Maus“ Tag, aber traditionell auch „ARD-Presseclub“ Sendezeit.  Heute diskutierten Journalist*innen von taz, SPIEGEL, Rheinische Post und FAZ über das Thema „Obergrenze, Abschottung – welche Flüchtlingspolitik brauchen wir?“, aber das einzig zitatwürdige sagte ein Zuschauer, Jürgen Schaaf (Schaf?) aus Pulheim, der in der Sendung anrief:

„Ja, einen schönen Sonntag in die Runde. Ich hab‘ ein bisschen Sorge, dass die Diskussion unehrlich wird. (…) Mir ist gerade noch ein Satz aufgefallen, der ganz zum Ende fiel. Und der lautete ‚Die ukrainischen Flüchtlinge, die wir nehmen, stehen völlig außer Frage“ und dann kam noch ein kurzer Nachsatz ‚Kriegsflüchtlinge überhaupt‘. Jetzt klären sie mir den Unterschied zwischen ukrainischen Flüchtlingen und denen, die in Somalia vor dem Krieg fliehen, die im Sudan vor dem Krieg fliehen, in Eritrea, in Libyen vor dem Bürgerkrieg. Ich könnte Ihnen ja sonst was alles aufzählen. Geht es da um die Hautfarbe? Oder geht es um Kriegsflüchtlinge überhaupt? Und wollen Sie mir wirklich erzählen, wir können 300.000 in unserem Land nicht aufnehmen, können aber eine Million aus der Ukraine versorgen? Ich sag Ihnen was: Man kann beide versorgen. Man kann beide Gruppen versorgen. Wir sind nämlich ein reiches Land, der Reichtum ist nur falsch verteilt. Das ist meine Meinung zum Sonntag.“

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