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Die Todesopfer des Massakers an der Universität in Perm. Mögen sie in Frieden ruhen. (Illustration von mir.)

Tödliche Männlichkeit

In Perm erschießt ein Mann sechs Menschen, der Mord von Idar-Oberstein war ein „Einzelfall“ und ein Spiegel-Artikel bringt Luke Mockridge ins Wanken, Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW38

Montag, 20. September

Die Woche begann mit einem furchtbaren Massaker an der Staatlichen Nationalen Forschungsuniversität Perm in Russland. Der 18-jährige Jurastudent Timur Bekmansurov ist mit einem Jagdgewehr in das Universitätsgebäude eingedrungen, nachdem er den Wachmann niedergeschossen hatte. Im Gebäude richtete er ein Blutbad an, tötete fünf Frauen und einen Mann und verletzte mindestens 24 weitere Menschen, zum Teil schwer.  Der Attentäter soll seine Tat im Vorfeld im Internet angekündigt haben. Der Grund: er hasse Menschen. Er schrieb: „Ich habe lange darüber nachgedacht, jahrelang und ich habe realisiert, dass die Zeit gekommen ist, das zu tun, wovon ich geträumt habe.“

Das Massaker erinnert an zahlreiche ähnliche Fälle, in denen junge Männer Amok laufen. Erst im Mai hatte ein 19-Jähriger neun Menschen in einer Schule im russischen Kasan getötet, die meisten davon Kinder. Über den Schützen von Perm ist noch nicht viel bekannt. Der Verdacht, dass es sich um einen Incel handeln könnte, liegt zumindest nahe: die Todesopfer waren überwiegend Frauen, der Täter kündigte seine Tat online an und der Vater des Täters sagte russischen Medien gegenüber, sein Sohn habe sich nur für seinen Computer interessiert.

Die Todesopfer vom 20. September:

  • Ksenia Samchenko war 19 Jahre alt, als sie starb. Sie studierte Geografie, in der Fachrichtung Hydrometeorologie und hatte viele Freund*innen.
  • Unter den Todesopfern ist auch die Ärztin Margarita Engaus, die 66 Jahre alt wurde. Sie arbeitete über 40 Jahre in der Endoskopie. Am Tag ihres Todes war sie mit ihrem Enkelsohn und dessen Klassenkameraden im Botanischen Garten der Universität.
  • Der 19-jährige Yaroslav Aramelov war begeisterter Musiker und hatte ehrgeizige Ziele. Von seinen Eltern wurde er seit der Kindheit darin unterstützt. Auf Facebook zeigte er sich häufig mit seiner Geige.
  • Anna Aigeldina war 26 Jahre alt. Sie studierte an der Universität in Perm und blieb auch nach dem Abschluss an der Hochschule, als Mitarbeiterin. Anna liebte es durch Russland zu reisen.
  • Alexandra Mokhova wurde Sascha genannt. Die 20-jährige Studentin war eine offene, freundliche Person und immer positiv eingestellt.
  • Yekaterina Shakirova wurde 19 Jahre alt. Sie wurde Katya genannt und hatte das Gymnasium mit sehr guten Noten angeschlossen, bevor sie sich zum Studium an der Universität entschied.

Es gab in Deutschland kaum Berichterstattung zu dem schrecklichen Massaker und Attentate wie dieses werden noch immer als Amokläufe verwirrter Einzeltäter abgetan. Dabei formiert sich im Internet eine extrem menschenfeindliche Armee junger, unzufriedener Männer, die sich mit Attentaten wie diesen ein Denkmal setzen wollen. Von Montréal (1989) über Isla Vista (2014) bis Santa Fe (2018), immer wieder begehen sogenannte Incels („involuntary celibates“ also unfreiwillig enthaltsam Lebende) Massenmorden an (Hoch-)Schulen.
Warum werden Taten wie diese einfach hingenommen wie regelmäßig wiederkehrende Naturkatastrophen? Diese Gewalt ist hausgemacht. Es sind die Taten junger Männer, die mit einem Anspruchsdenken heranwachsen, die Welt sei nur für sie gemacht. Wenn diese Männer dann mehr und mehr „Kränkungen“ erfahren, also Zurückweisung, Misserfolg und Enttäuschungen erleben, wenden sie sich gegen die, an denen sie sich für diese Kränkungen rächen wollen. Die Wissenschaftlerin Kate Manne beschreibt dieses Verhalten in „Die Logik der Misogynie“ und Veronika Kracher geht darauf in ihrem sehr lesenswerten Buch „Incels“ ein.
Wir müssen endlich anfangen, darüber zu reden, wohin uns männliches Anspruchsdenken und strukturelle Misogynie führen, statt nur mehr nach jedem neuen Massaker betroffene Mienen angesichts der vermeintlich unerklärlichen Tragödie zu ziehen.

Auch am Montag

Am Montag wurde bekannt, dass eine Polizistin aus Sachsen-Anhalt freundschaftliche Briefe an den antisemitischen Attentäter von Halle geschickt hat. Medienberichten zufolge soll es sich um mehr als zehn Briefe handeln, die die Polizistin an den verurteilten Rechts-Terroristen geschrieben haben soll. Die Briefe, die mit falschem Namen unterzeichnet waren, wurden bei einer Zellen-Durchsuchung entdeckt. Die Polizistin, die vom „jüdischen Machtmonopol“ fantasierte, soll darin Sympathien für den Attentäter geäußert haben. Sie wurde vom Dienst suspendiert.

Dienstag, 21. September

Markus Söder hat in der finalen Woche des Wahlkampfs nochmal das konservative Lieblingsthema bemüht und vorm „Gendern“ gewarnt. Bayerische Gesetze und staatliche Leitfäden würden auch in Zukunft nicht geschlechtergerecht formuliert. Sternchen, Binnen-I oder Sprachersatze werde es nicht geben. Die Texte würden zwar überarbeitet, allerdings „mit Augenmaß“, sagte der bayerische Ministerpräsident laut Deutschlandfunk. Die Menschen würden von geschlechtergerechter Sprache überfordert. Der CSU-Boss sprach auf einer Parteiveranstaltung vor seinen Anhänger*innen und benutzte dabei die rechten Dog-Whistles „Sprachpolizei“ und „Umerziehung“. Ich wünschte echt, ich hätte die Probleme eines alten, weißen, nicht-behinderten, heterosexuellen, christlichen und gutverdienenden Mannes in Deutschland. Während manche Angst vor rassistischen Cops und andere vor der in die Katastrophe führenden Erderwärmung haben, macht sich Söder wegen Gendersternchen ins Hemd.

Auch am Dienstag

Die Shortlist des Deutschen Buchpreises wurde veröffentlicht und ich muss zugeben, dass ich enttäuscht war, auch wenn ich von einer Kartoffeljury nicht wirklich was anderes erwartet habe. Meine Favoriten „Drei Kameradinnen“ von Shida Bazyar und „Im Menschen muss alles herrlich sein“ von Sasha Marianna Salzmann haben es nicht unter die sechs Auserwählten geschafft, dafür aber Christian Kracht, dem Georg Diez im Spiegel 2012 eine „rassistische Weltsicht“ attestierte. Die taz urteilte damals nicht ganz so streng und nannte Kracht „Einen, der statt Hitler viel eher seinen einzigartigen, wohlgeborenen, männlich-weißen Bauchnabel verehrt“.

Mittwoch, 22. September   

Am Mittwoch äußerte sich das Bundesinnenministerium zum Mord an einem Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein durch einen rechtsextremen Maskenverweigerer. Die Tat sei als „Einzelfall“ zu werten und „zeige ein dramatisches Ausmaß an Verrohung in der Gesellschaft“. Bereits am Samstag hatte der 49-jährige Mario N. den 20-jährigen Studenten Alexander W. erschossen, nachdem dieser ihn zuvor auf die Maskenpflicht in der Tankstelle hingewiesen hatte. Wie nach und nach bekannt wurde, war der Täter überzeugter „Querdenker“ und nannte sich selbst „Rassist“. Auf Twitter folgte er AfD-Politiker*innen, Verschwörungsideolog*innen sowie rechten bis rechtsextremen Journalist*innen wie Julian Reichelt, Boris Reitschuster und Roland Tichy. Mario N. hatte bei seiner Verhaftung angegeben, er habe „ein Zeichen“ setzen wollen.

Donnerstag, 23. September

Lebensmittel werden immer teurer. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes haben sich die Preise für Nahrungsmittel im August verglichen mit dem Vorjahresmonat um 4,6 Prozent erhöht. Die Preise für Gemüse hätten um 9 Prozent zugelegt, Salat um fast 40 Prozent. Im Hartz IV-Regelsatz sind gerade mal fünf Euro am Tag für Lebensmittel vorgesehen. Gesunde Ernährung wird immer mehr zu einem Privileg der Reichen. Für arme Menschen in Deutschland werden Obst und Gemüse „zum Luxusgut, das sie sich nicht mehr leisten können“, sagte Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VDK, zum Tagesspiegel. Letzte Woche hat das Bundeskabinett die Erhöhung des Hart IV Regelsatzes ab Januar 2022 auf 449 Euro beschlossen. Für Essen und Getränke bedeutet das 1 Euro mehr – im Monat.

Freitag, 24. September

Luke Mockridge, der leicht tollpatschige Saubermann mit der Schwiegermutters-Liebling-Fresse, scheint nun endlich die Konsequenzen zu spüren, die wir für ihn seit Monaten fordern. Regelmäßige Leser*innen des Wochenrückblicks kennen die Story: Luke soll versucht haben seine damalige Freundin Ines Anioli zu vergewaltigten. Immer wieder sei er manipulativ und übergriffig gegen sie gewesen und habe mit „Kitzel-Attacken“ seine Grenzüberschreitungen zu kaschieren versucht. Ines Anioli hatte Luke Mockridge angezeigt, doch die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen ein, weil sie die Aussicht auf eine Verurteilung Mockridges für unwahrscheinlich hielt. Ines Anioli sagte dem Spiegel: „Ich habe damals den Glauben an die Menschheit verloren“. Später hatte sie über die „toxische Beziehung“ zu Luke Mockridge in einem Podcast gesprochen, ohne seinen Namen erwähnt zu haben. Trotzdem war schnell klar, um wen es sich dabei handelte. Nachdem immer mehr Aktivist*innen, darunter Jorinde Wiese und Bianca Groebner, on- und offline #KonsequenzenFürLuke forderten, sah sich Sat1 zu einer Stellungnahme gezwungen, in der alle Vorwürfe gegen Mockridge als „Lynchjustiz“ diffamiert wurden. Mockridges Anwalt war währenddessen damit beschäftigt, Schreiben an Redaktionen zu versenden, in denen stand „dass man in der Angelegenheit nicht berichten dürfe, schon gar nicht ‚zulasten‘ seines Mandanten“. Jetzt hat es der SPIEGEL doch getan und nicht nur mit Ines Anioli gesprochen, sondern auch mit zehn weiteren Frauen, die ähnliche Erfahrung mit dem Entertainer gemacht haben.

Die Veröffentlichung dieses Artikels (bislang noch hinter einer Paywall, in der nächsten Woche dann im Heft) fühlte sich wie eine große Erleichterung an. Endlich, endlich, endlich wird der Fall einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Endlich hat sich eine Redaktion getraut, über diesen mächtigen Mann und seine noch viel mächtigere Anwaltskanzlei zu berichten. Endlich kommt ans Licht, dass es kein unglückliches Missverständnis innerhalb einer ohnehin „verkorksten“ Beziehung war, es sich vielmehr um das „System Mockridge“ handelt, das offenbar viel mehr Menschen der Kölner Comedy- und Medienszene bekannt ist, als man zunächst dachte. Die Veröffentlichung des Artikels macht Hoffnung auf Gerechtigkeit. Denn der Gerechtigkeitsbegriff ist nicht nur juristisch zu bewerten. Wir leben mit einem Rechtssystem, dass es Opfern von sexualisierter Gewalt, von Manipulationen und Machtmissbrauch nahezu unmöglich macht, Gerechtigkeit zu erleben. Unser Rechtssystem ist nicht für Opfer gemacht. Umso mehr fühlt es sich nach Gerechtigkeit an, wenn ein mutmaßlicher (ich muss das so schreiben) Täter nicht länger mit seinem Verhalten durchkommt. Wenn sich das Blatt zu wenden scheint und plötzlich doch den mutmaßlichen Opfern Glauben geschenkt wird. Es fühlt sich nach Gerechtigkeit an, wenn es die mächtige Anwaltskanzlei nicht schafft, die Berichterstattung zu stoppen. Dieses Gefühl, diese Erleichterung, machen Mut. Ich hoffe, dass dieser Artikel nicht der letzte ist und dass sich durch ihn mehr Menschen ermutigt fühlen, gegen ihre Täter auszusagen.

Samstag, 25. September

Während der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, anmahnte, dass viel zu viele Wahllokale noch immer nicht barrierefrei seien, werden für notorische Maskenverweigerer teilweise mobile Urnen außerhalb der Wahlgebäude aufgestellt. Das berichtete der WDR am Samstag. Es wird immer unerträglicher, wie die Unsolidarischsten unter uns hofiert und gepudert werden, während 13 Millionen behinderte Menschen weiterhin Schwierigkeiten haben, ihre Stimme abzugeben.

Sonntag, 26. September

Ich beende den Wochenrückblick jetzt, damit ich pünktlich zu den ersten Prognosen um 18 Uhr auf der Couch bin. Ich wünsche euch allen einen möglichst steilen Linksrutsch, wir sehen uns nächste Woche!

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