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Sawsan Chebli ist immer wieder Ziel von Hass im Netz.

Unmenschliche Normalität

Ein Berliner Vater will einer Schule genderneutrale Sprache verbieten, Sawsan Chebli verliert vor Gericht und Queer.de schmeißt trans Jugendliche für einen Aprilscherz vor den Bus. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW13

Montag, 27. März

In Berlin hat ein Vater gegen die Schule seines Kindes einen Eilantrag gestellt, mit dem er gendergerechte Sprache an dem Gymnasium verbieten lassen wollte. Was für ein Clown! Ich kann ihn mir bildlich vorstellen, wie er da sitzt, eifrig geifernd einen juristischen, formal korrekten Antrag schreibt, glühend vor Selbstgerechtigkeit und in erregter Vorfreude auf seinen künftigen Heldenstatus, den man bekanntlich erlangt, wenn man furchtlos gegen Ungerechtigkeiten und Unterdrückung kämpft. Tja, Pech gehabt, Vati, das Gericht hat den Eilantrag abgewiesen. In einer Pressemitteilung erklärte das Berliner Verwaltungsgericht am Montag: „Der Eilantrag könne außerdem deshalb keinen Erfolg haben, weil der Vater keine schweren und unzumutbaren Nachteile seiner Kinder durch die angegriffene Schreib- und Sprechweise nachgewiesen habe, zumal der Spracherwerb bei den beiden Zehntklässlern weitgehend abgeschlossen sein dürfte.“ Zehntklässler! Hoffentlich schämen die Armen sich nicht in Grund und Boden. Aber Spaß bei Seite, denn Vati ist offenbar keineswegs nur ein harmloser „besorgter Bürger“, dem Gendersternchen Angst einjagen. Beim Lesen der gerichtlichen Stellungnahme wird klar, dass es ihm um sehr viel mehr geht als nur „gutes Deutsch“. Von „Indoktrination“ seiner Kinder ist da die Rede und, hier wird es interessant der „Critical Race-Theory“. Letzteres ist ein klassisches Buzzword der erzkonservativen Rechten, die vor allem in den USA erfolgreiches Agendasetting betreibt. Ob der erzürnte Vater einfach zu viel Tucker Carlson geschaut hat, oder ob da die (gelinde gesagt) Rechtspopulisten vom „Verein Deutsche Sprache“ (VDS) dahinterstecken, die die Klage finanziert hatten, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Und fragt mich jetzt bitte nicht, was genderneutrale Sprache mit Anti-Rassismus zu tun hat, ich verstehe es auch nicht. Die internationale Rechte stürzt sich jedenfalls bereits auf den Berliner Fall: „Berlin court rules anti-White Critical Race Theory can be taught in schools“ titelt eine rechtsextreme Fake-News-Seite mit Sitz in Ungarn. Es ist ein Rabbithole, ich erspare euch weitere Recherchen dazu. (Hier die Quelle, aber Achtung: Es handelt sich – wie gesagt – um Fake News von Faschos.)

Dienstag, 28. März

Die Meldestelle Dosta des Vereins Amaro Foro hat im vergangenen Jahr 225 Fälle von Beschimpfungen, Diskriminierung und Gewalt gegen Sinti*zze und Rom*nja in Berlin registriert. Wie der Tagesspiegel am Dienstag berichtete, sind das 53 Prozent mehr gemeldete Fälle als 2021. Die Dunkelziffer dürfte sehr viel höher liegen. „Seit Beginn des russischen Angriffskrieges beobachten wir, dass aus der Ukraine geflüchtete Rom*nja nicht als Schutzsuchende, sondern als illegitime Geflüchtete markiert werden“, erklärte Projektleiterin Violeta Balog. „Als Rom*nja gelesene Menschen werden in Unterkünften benachteiligt, von Versorgungsstrukturen und häufig vom Bildungssystem ausgeschlossen und erfahren in der Öffentlichkeit und in den Medien vermehrt antiziganistische Anfeindungen oder gar Übergriffe.“

Mittwoch, 29. März

Sawsan Chebli gehört zu den Frauen, die in Deutschland am meisten Hass im Netz abkriegen. Immer wieder ist die SPD-Politikerin und Tochter palästinensischer Eltern, die 1970 als Asylsuchende nach Deutschland kamen, Ziel von übelsten Hetzkampagnen, nicht selten orchestriert von Springer-Medien. Sie hat sogar ein Buch über ihre Erfahrungen mit Hate Speech geschrieben. Immer wieder wehrt sie sich auch juristisch gegen die Angriffe und musste jetzt erleben, dass das Landgericht Heilbronn eine niederträchtige Beleidigung als „von der Meinungsfreiheit gedeckt“ ansieht. Ein Mann hatte 2020 auf Facebook geschrieben: „Selten so ein dämliches Stück Hirn-Vakuum in der Politik gesehen wie Sawsan Chebli“. Für die Richterin sei hier ein „nachvollziehbarer Bezug“ zu einer „sachlichen Auseinandersetzung“ gegeben. Uff. Mir ist durchaus bewusst, dass sich mitunter sehr viel schlimmere Aussagen in den Kommentarspalten finden lassen, und dennoch setzt das Urteil ein fatales Signal. Hassrede gegen Politikerinnen ist ein ernsthaftes Problem für die Demokratie. Fast 90 Prozent aller weiblichen Bundestagsabgeordneten sind mit Hate Speech konfrontiert, das ergab eine Umfrage des ARD-Magazins „Report München“ 2019. Frauen sind online sehr viel häufiger Ziel von Hass und Drohungen. Sie sollen aktiv zum Schweigen gebracht werden. Wer es wagt, die Vormachtstellung der Männer in der Politik anzugreifen (= sich am politischen Prozess zu beteiligen), wird bestraft. Von Männern im Internet. Nicht selten sind die Kommentare misogyn, zielen auf das Aussehen der Frau, sexualisieren oder infantilisieren sie oder drohen direkt mit Vergewaltigung. Zentral ist zudem, die Kompetenz von Politikerinnen in Frage zu stellen. Das geschieht bei Frauen stärker als bei männlichen Politikern. Die NGO Advance Democracy hat im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 eine Social Media Analyse durchgeführt und herausgefunden, dass Tweets, in denen es um die Intelligenz von Politiker*innen geht, viermal häufiger Frauen betreffen. Bei Facebook wird die Intelligenz von Politikerinnen doppelt so häufig in Frage gestellt.

An dieser Stelle möchte ich auch nochmal daran erinnern, dass 2020 der Hamburger Innensenator Andy Grote (ebenfalls SPD) eine Razzia bei einem Twitteruser durchführen ließ, der ihn auf Twitter einen „Pimmel“ genannt hatte.

Donnerstag, 30. März

Es war eine Mini-Meldung auf Tagesschau.de: Das Anti-Folter-Komitee des Europarats (CPT) prangert „erschreckende Zustände im Umgang mit Geflüchteten“ an. Die Expert*innen stellen fest, dass schutzsuchende Menschen an den EU-Grenzen „geschlagen, mit Hunden gejagt oder gedemütigt“ werden, sie „müssten sich ausziehen und nackt die Grenze überqueren“. Die zahlreichen Misshandlungsvorwürfe würden jedoch nicht ausreichend untersucht. Der Bericht spricht zudem von katastrophalen Zuständen in den grenznahen „Aufnahmezentren“. Keine Sondersendungen, kein ARD-Brennpunkt. Die Unmenschlichkeit ist uns zur Normalität geworden.

Freitag, 31. März

Am Freitag wurde im Keller eines Mehrfamilienhauses in Kiel die Leiche einer 45-Jährigen gefunden. Offenbar wurde sie gewaltsam getötet. Im gleichen Haus soll kurz darauf ein 33 Jahre alter Mann einen Suizidversuch begangen haben. Die Hintergründe sind noch unklar.

Ebenfalls am Freitag wurde in einem Frankfurter Parkhaus nahe dem Flughafen eine tote 50-Jährige gefunden, die mit mehreren Schüssen getötet wurde. Kurz darauf entdeckten die Einsatzkräfte im selben Parkhaus die Leiche eines 47-Jährigen, der sich mutmaßlich suizidiert hatte. Die beiden Toten sollen nach Angaben der Behörden „in der Vergangenheit in einer Beziehung zueinander gestanden haben“.

Bereits am vergangenen Sonntag ereignete sich ein weiterer Femizid in Kalbe, im Altmarkkreis Salzwedel (Sachsen-Anhalt), wo ein 59-Jähriger seine 52 Jahre alte Ehefrau tötete und – nachdem er die Polizei informierte – sich selbst erschoss.

Samstag, 1. April

Einen Tag nach dem „Trans Day of Visibility“ (Tag der trans Sichtbarkeit) erlaubte sich das Portal Queer.de den ekligsten April-„Scherz“, den ich mir vorstellen kann. Unter der Überschrift „Realisierung noch in diesem Jahr: Trans*Zufluchtshaus soll Kinder vor transphoben Eltern schützen“ erschien am Samstag ein fast 5.000-Zeichen langer Artikel, in dem angekündigt wurde, dass ein Berliner Verein eine Schutzeinrichtung für trans Jugendliche eröffnen würde, in der die Minderjährigen Zuflucht vor missbräuchlichen Familien finden sollten. Der Fake-Artikel wurde mit sehr viel Aufwand glaubwürdig gemacht. Eine erfundene Projektleiterin („Saskia Kühne“) kommt darin zu Wort und es heißt „aus dem Haus der amtierenden Innensenatorin Iris Spranger (SPD)“ habe es „die prinzipielle mündliche Zusage, das Projekt möglich zu machen“ gegeben. Ich hätte hier niemals einen Aprilscherz vermutet, also vor allem deshalb nicht, weil ich es Queer.de nicht zugetraut hätte, auf dem Rücken von verzweifelten trans Kindern und der ohnehin hasserfüllten „Debatte“ über deren Versorgung so einen ekligen Joke zu machen. Denn nichts anderes ist es doch: Trans Kinder und Jugendliche erfahren häufig keine Unterstützung im Elternhaus, manche sogar aktive Ablehnung und Gewalt. Die Suizidrate unter trans Jugendlichen ist hoch. Studien zeigen, dass 56 Prozent bereits einen Suizidversuch unternommen haben, mehr als 80 Prozent Suizidgedanken haben. Ein Zufluchtshaus kann da ein Hoffnungsschimmer sein. Wie zur Hölle kann eine Redaktion, die nach eigener Angabe das „reichweitenstärkste und wichtigste LGBTI-Onlinemedium“ ist, daraus einen Prank machen?! Die Erklärung folgte am Nachmittag und sie macht das ganze Desaster nur noch schlimmer. Die Redaktion, die zu vier Fünfteln aus weißen cis Männern besteht, schickt die einzige nicht-binäre Person vor, den „Scherz“ zu verteidigen. Und was macht Jeja Klein daraus? Ein „Habt euch nicht so und macht mal die Handys aus“. Es ist zum Verzweifeln. Dass ihr „April April“ Menschen verletzt hat, wird weder anerkannt noch bedauert. Stattdessen heißt es in unerträglicher Herablassung: „Doch in der seit Jahren erhitzten Dauerschlacht, die insbesondere in sozialen Medien von Einzelkämpfer*innen an ihren Smartphones und PCs geführt wird, scheint meiner Beobachtung nach häufig der Moment des Innehaltens zu fehlen. Das könnte sowohl der Moment sein, die Glaubwürdigkeit einer Meldung oder Quelle zu hinterfragen – etwas, das wir uns auch von unseren eigenen User*innen stärker wünschen würden – als auch der Moment, die Effektivität des gegenwärtigen, eigenen politischen Handelns zu hinterfragen. Dazu gehört auch die Verbissenheit, mit der im Kampf um Transrechte nur in Freund*innen und Feind*innen, in „Wir“ und „Die“, in gut und böse unterschieden wird. Dazwischen kann es dann nichts mehr geben.“ WTF, Jeja? Trans Menschen werden gerade (weltweit) massiv angegriffen und bedroht, erst vor wenigen Wochen hat sich eine junge Transfrau das Leben genommen, nachdem ihre Eltern sie zur Detransition gezwungen hatten. Aber ja klar, trans Personen sind einfach zu „verbissen“ in ihrem Kampf um ihre Rechte. Es folgt dann noch ein bisschen Geseiere über Selbstwirksamkeit, die Aufforderung, das eigene Glück doch in die eigenen Hände zu nehmen, statt sich auf die Gegenseite zu „fixieren“. Es ist bodenlos. Ich bin richtig sauer.

Sonntag, 2. März

Zum Abschluss dieser miesen Woche (ich hatte auch noch eine Weisheitszahn-OP!) gibt es jetzt noch was Schönes: Am Ostermontag (10. April) verlose ich unter all meinen Steady-Supporter*innen 5 super tolle Oster-Überraschungspakete! Als Hauptpreis gibt es (zusätzlich zum Überraschungspaket) den aktuellen Comic von Liv Strömquist, eine dazu passende Totebag, ein Notizheft, Postkarte und Sticker von Caroline Frett sowie ein Scholli-Notizblock von Slinga.

Gewinne Gewinne Gewinne!

Wenn ihr bereits Supporter*in seid, müsst ihr nichts weiter tun (außer ggf. eure Postanschrift bei Steady hinterlegen / aktualisieren). Für alle, die schon länger überlegt haben, Steady-Mitglied zu werden: Das ist euer Zeichen! Alle Neumitglieder (bis Montag, 10. April, 12 Uhr) nehmen auch an der Verlosung teil. Es gibt für einen begrenzten Zeitraum ab sofort auch wieder das „Osterhasen“-Paket, das ist wie „Feldhase“, nur etwas günstiger und es gibt eine Extra-Überraschung.

Das wars für heute, ich danke euch wie immer fürs Lesen. Wer kann und will: via PayPal gibt es die Möglichkeit, ein Trinkgeld dazulassen.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Jule

    Eine Woche voller Hochs und Tiefs, aber queer.de schlägt dem Fass echt den Boden aus.

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