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Sibel Schick war diese Woche einfach mein Lichtblick. (Illustration von mir.)

Klagende Clowns

Sibel Schick lieferte diese Woche einen wichtigen Text zum Thema Abtreibung, der „Verein für Deutsche Sprache“ clownt wieder rum und „Der Hase im Pfeffer“ hat’s in „BILD der Frau“ geschafft. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW43

Montag, 25. Oktober

Die Situation an der Grenze zwischen Belarus und Polen wird mit jedem Tag unerträglicher. Menschen sterben und Europa tut nichts, um sie aus dem Leid zu befreien. Im Gegenteil, der Grenzschutz wird verstärkt, Stacheldraht und Militär sollen die Menschen aufhalten. Hilfsorganisationen vermelden schon mehrere Tote. „In Polen und Litauen wiederholen sich Szenarien, wie an der griechisch-türkischen Grenze, in der Ägäis, der bosnisch-kroatischen Grenze und auf dem zentralen Mittelmeer. Die Europäische Union braucht Humanität und Rechtsstaatlichkeit in der Flüchtlingspolitik, nicht Härte und Abschottung“, heißt es in einer Petition, die die deutsche Bundesregierung aufruft, „sich für eine faire und schnelle Aufnahme und Umverteilung der Geflüchteten in Europa“ einzusetzen. Ihr könnt die Petition hier unterschreiben.

Dienstag, 26. Oktober

Am Dienstag begann vor dem Landgericht Potsdam der Prozess gegen die ehemalige Mitarbeiterin des Oberlinhauses, die vier Bewohner*innen getötet und eine weitere schwer verletzt haben soll. Die zwei getöteten Frauen waren 31 und 42 Jahre alt, die zwei Männer 35 und 56 Jahre alt. Die Staatsanwaltschaft wirft der mutmaßlichen Täterin vor, planvoll und heimtückisch vorgegangen zu sein. Die 52-Jährige habe zunächst versucht, zwei Bewohner*innen zu erwürgen und als das nicht gelang, sie mit einem mitgebrachten Messer mit Schnitten in den Hals getötet zu haben. Bei den fünf Opfern, von denen nur eine Frau überlebte, handelte es sich um schwerstbehinderte Menschen, „die nicht in der Lage gewesen seien, sich zu wehren oder Hilfe zu rufen“, so der Deutschlandfunk. Die abscheuliche Tat hatte eine mediale Reaktion hervorgerufen, die von behindertenfeindlichen Aussagen nur so strotzte. Es war von „Erlösung“ die Rede und es wurde versucht, das Motiv in der „Überforderung“ der Täterin zu begründen. Auch jetzt, zum Prozessauftakt, wird über die „unhaltbare Arbeitsbelastung durch Personalmangel“ gesprochen und in Zusammenhang mit der Tat gesetzt. Wie Margarete Stokowski es damals so treffend beschrieb: „Angenommen, vergangene Woche hätte in einer deutschen Stadt eine Supermarktkassiererin vier ihrer Kunden mit einem Messer getötet und eine weitere Kundin schwer verletzt (…) Es wäre ziemlich viel los gewesen.“ Das Narrativ des unwerten Lebens hält sich hartnäckig in den Köpfen derer, deren Eltern bzw. (Ur-)Großeltern in einem Land lebten, in denen das systematische Töten behinderter Menschen als Dienst am Volkskörper verstanden wurde.

Mittwoch, 27. Oktober

Nicht binäre US-Amerikaner*innen haben nun die Möglichkeit ein X in den Reisepass eintragen zu lassen, anstelle eines Ms (male) oder eines Fs (female). „Wir freuen uns darauf, diese Option allen routinemäßigen Passantragstellern anbieten zu können, sobald wir die erforderlichen System- und Formularaktualisierungen Anfang 2022 abgeschlossen haben“, teilte das US-Außenministerium am Mittwoch mit. „USA stellen ersten Pass für Nicht-Binäre aus“, schreibt der Tagesspiegel. Damit sind die Vereinigten Staaten das 19. Land weltweit, in dem auf der Geburtsurkunde oder dem Reisepass etwas anderes als männlich oder weiblich stehen darf.

Auch am Mittwoch

Der „Verein für Deutsche Sprache“ (VDS), der mit seinen Clownereien schon häufiger Gast dieses Wochenrückblicks war, hat erneut für Schlagzeilen gesorgt. Dieses Mal geht es um eine Klage einer Hamburger Kunsttherapeutin, deren Artikel in der Zeitschrift „Training Aktuell“ gegen ihren Willen gegendert worden sei. Die Autorin, die beim VDS die AG Gendersprache leitet, verklagte den Verlag „Manager Seminare“ wegen Urheberrechtsverletzung, weil die Redaktion in ihrem Text aus „Zeichner“ in der gedruckten Fassung „zeichnende Person“ gemacht habe. „Damit hat der Verlag gegen meinen ausdrücklichen Willen die Gendersprachdoktrin durchgesetzt“, erklärte die Klägerin. Der VDS unterstützt das Vereinsmitglied bei der Klage und gab dazu sogar eine Pressemitteilung heraus. Darin heißt es, der Verlag habe sich „dazu entschieden, gegen das Urheberrecht zu verstoßen und seiner eigenen Gender-Ideologie zu folgen“. Der Oberclown und VDS-Vorsitzende Walter Krämer erklärte: „wer die eigene Ideologie vor die Persönlichkeitsrechte eines Menschen stellt, zeigt, wie wenig ihm an einem Miteinander gelegen ist.“

Donnerstag, 28. Oktober

Am Donnerstag vor einem Jahr erschien beim ND ein wichtiger Text von Sibel Schick, in dem sie erklärt, warum das Recht auf Abtreibung allein nicht ausreicht. „In einer Welt, in der ständig diskutiert wird, unter welchen Bedingungen Schwangere abtreiben dürfen, entsteht die verzerrte Wahrnehmung, dass Abtreibungen etwas seien, das man rechtfertigen müsse“, schreibt sie. In dem die gesellschaftliche Debatte aber darum kreist, unter welchen Bedingungen Abtreibungen legal sind, wird die gefährliche Dichotomie „Schwangere gegen Fötus“ heraufbeschworen, die den Diskurs weg von strukturellen Missständen hin zur Frage „Wessen Leben verdient mehr Schutz“ verschiebt. Lest den ganzen Kommentar von Sibel Schick, es lohnt sich!

Bereits am Mittwoch hatte Sibel Schick in einem Artikel fürs ND ihre eigene Erfahrung aufgeschrieben. Eine ungewollte Schwangerschaft löste bei Sibel Schick wenige Tage vor der gesetzlich vorgeschriebenen Konfliktberatung zur Abtreibung eine beidseitige Lungenarterienembolie aus. Ohne den Beratungszwang wäre sie möglicherweise nicht erkrankt. Die Lungenembolie hat eine Sterberate von 30 Prozent und ist eine der häufigsten Todesursache von Schwangeren. Wir erleben gerade weltweit einen antifeministischen Backlash, das Recht auf körperliche und reproduktive Selbstbestimmung wird von rechten Fundamentalist*innen überall angegriffen, nicht nur in Polen oder Texas. Einer Studie zufolge stehen auch die Menschen in Deutschland Schwangerschaftsabbrüchen heute viel kritischer gegenüber als noch in den 1990er Jahren. 

Freitag, 29. Oktober

„Der Hase im Pfeffer“ ist offiziell im Mainstream angekommen. Am Freitag wurde ich auf bildderfrau.de erwähnt. Unter dem Titel „Geht Oliver Pocher mit seinen Witzen gegen Frauen zu weit?“ wird aus meinem am Mittwoch veröffentlichten Instagrampost zitiert.

„Der Instagram-Account ‚Der Hase im Pfeffer‘ setzt sich mit dem Thema Feminismus auseinander und hat die Misogynie-Geschichte von Oliver Pocher kürzlich in einem Beitrag zusammengefasst. Darin soll aufgedeckt werden, dass sich Pocher in seiner gesamten Karriere zum Großteil mit verachtenden und herabwürdigenden Witzen gegen Frauen gekrönt hat.“

BILD der Frau

Ich habe mich entschlossen, den Beitrag zu Oliver Pocher auch auf dem Blog zu veröffentlichen. Ihr findet ihn hier.

Samstag, 30. Oktober

Die Buchmesse ist (ein Glück) vorbei, aber deutsche Feuilletonist*innen sind mit ihren belehrenden, paternalistischen und nicht selten ekelhaft zynischen Takes noch nicht durch. Nachdem Jagoda „ich mag nicht gendern“ Marinić sich am Freitag die Autor*innen, die ihre Teilnahme an der Buchmesse aufgrund der dortigen Präsenz von Rechtsextremisten abgesagt hatten, lächerlich machte, legte die taz am Samstag nochmal nach. Doch bevor ich dazu komme, lasst mich noch ein paar Worte zu Marinićs Kommentar sagen, der leider hinter der SZ-Paywall steckt. Ich zitiere daher nur einen Absatz daraus und hoffe, dass ihr wisst, warum mich ein derartiges Framing so ärgert, das schon mit dem in der Überschrift aufgefahrenen „Pranger“ gesetzt wurde:

„Aus einem Diskurs wird so ein pseudodemokratisches Proseminar, in dem Aktivisten ihr Weltbild nicht zur Debatte stellen, sondern zur Norm machen wollen. Das eigenständige Denken darf man in solchen Diskussionen in die Gefriertruhe packen, statt Gehirnzellen bedarf es nur noch einer zur Schau gestellten empathischen Solidarität.“

Jagoda Marinić in „Der mittelalterliche Pranger ist heute ein Hashtag“ (SZ, 29.10.21)

Nochmal zur Erinnerung: Es geht hier um Schwarze Autor*innen und Autor*innen mit Behinderung, die ihre Teilnahme an der Buchmesse abgesagt haben, weil dort buchstäblich Faschos eine Bühne bekamen.

In der taz legte dann Armin Nassehi am Samstag nochmal nach und verkürzte die Debatte auf die Formel: „Dass es auch rechtes Denken gibt, muss man wohl aushalten, wenn man in einer offenen Gesellschaft leben will.“ Er schreibt: „Wenn wir die Rechten und das Rechte loswerden wollen, müssen wir uns vielleicht daran gewöhnen, dass es sie gibt.“ Als wüssten die Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt nicht selbst am besten. Was ist das für eine Aussage? What about Hanau, Halle NSU, Armin?!

Sonntag, 31. Oktober

In Tokio hat offenbar ein 24-jähriger Mann als Joker verkleidet mehrere Fahrgäste in einem Zug angegriffen. Medienberichten zufolge verletzte er mehrere Menschen mit einem Messer, vergoss eine Flüssigkeit im Zug und legte ein Feuer. Der Mann wurde festgenommen. Es sieht ganz danach aus, dass es sich hier um einen weiteren Fall von toxisch männlicher Gewalt handelt, die von Incels weltweit propagiert und gefeiert wird. Reuters meldete, der festgenommene Täter habe der Polizei gegenüber geäußert, es habe ihn erzürnt, als er Frauen sah, die „glücklich aussahen“ und habe sie töten wollen. Der „Joker“ ist spätestens seit der Verfilmung mit Joaquin Phoenix in der Hauptrolle eine regelrechte Incel-Ikone. Der zurückgewiesene, gemobbte Junge, der durch seine gewalttätige Rache an der Gesellschaft zum Mann wird.

Ich bin mir sicher, das heutige Attentat in Tokio wird als weiterer Einzelfall auf die endlose Liste von Gewalttaten gesetzt, über deren Zusammenhang sich leider niemand so richtig Gedanken machen möchte.

Und hier noch das Wort zum Sonntag:

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