You are currently viewing Der rechte Mob hat viele Gesichter
Foto: Celestine Hassenfratz, Ergänzung von mir.

Der rechte Mob hat viele Gesichter

Wut und Trauer über die Zwangsräumung der Liebig34, digitale Gewalt gegen 70 Prozent der Mädchen und jungen Frauen in Deutschland, Kamala Harris spricht Frauen weltweit aus der Seele und Rechtsextreme wissen Instagram zu nutzen. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW41

Montag, 5. Oktober
Die Kinderrechtsorganisation Plan International hat den Weltmädchenbericht 2020 veröffentlicht und meldet alarmierende Zahlen. Weltweit erleben Mädchen und jungen Frauen Bedrohungen, Beleidigungen und Diskriminierungen in den sozialen Medien. Das führt bei Betroffenen teilweise zu einem Rückzug aus dem Internet und somit zu weniger gesellschaftlicher Teilhabe. Plan International hat 14.000 Mädchen und junge Frauen im Alter von 15 bis 24 Jahren befragt, 58 Prozent gaben an, bereits digitale Gewalt erlebt zu haben, in Deutschland waren es sogar 70 Prozent.

„Die Ergebnisse des Mädchenberichts zeigen, wie machtlos sich viele Mädchen und junge Frauen in sozialen Netzwerken fühlen, und dass es viel zu wenig Mechanismen gibt, um wirksam gegen Angriffe und Schikane vorzugehen“, sagt Maike Röttger, Vorsitzende der Geschäftsführung von Plan International Deutschland. Mädchen haben das Recht darauf, sich frei und sicher im Netz zu bewegen und sich zu Themen zu positionieren. Aber sie werden viel zu oft mundtot gemacht.

Die Untersuchung macht deutlich, dass die derzeitigen Meldemechanismen häufig nicht ausreichen, um wirksam gegen die digitale Gewalt vorzugehen. Mit einem Offenen Brief an die Plattformbetreiber werden wirksamen Maßnahmen gefordert. Hier könnt ihr mitzeichnen.

Dienstag, 6. Oktober
Kristina Lunz
hat im Deutschlandfunk über ihre Arbeit und ihren Werdegang gesprochen. Die 30-Jährige hat als erste ihrer Familie studiert, eine steile akademische Karriere hingelegt und nach ihrem Abschluss das Centre for Feminist Foreign Policy (Zentrum für feministische Außenpolitik) gegründet. Für mich ist sie ein großes Vorbild für konsequenten Feminismus jenseits irgendwelcher Grundsatzdebatten. Sie ist klug, ambitioniert, empathisch, aber vor allem ist sie integer. Wenn ihr sie noch nicht kennt, hört das etwa 30-minütige Gespräch im Deutschlandfunk, lest dieses Interview mit ihr im Handelsblatt aus dem August oder ihre eigenen Texte. An ihrem ersten Buch schreibt sie gerade, ich freue mich schon darauf, es zu lesen.

Mittwoch, 7. Oktober
Correctiv hat eine beeindruckende Recherche auf Instagram durchgeführt und unter dem Titel „Kein Filter für Rechts“ in vier Teilen veröffentlicht. Am Mittwoch ging der erste Teil online „Wie tausende Rechte Instagrams Schwachstellen ausnutzen“. Der Text ist lang, aber die Lektüre lohnt sich. Das Rechercheteam hat etwa 4.500 Instagram-Accounts der deutschen rechten Szene analysiert und kartografiert, Schlüsselfiguren identifiziert, Kommunikations- und Rekrutierungswege offengelegt. Die Recherche ist so aufgearbeitet, dass sie sowohl für szenefremde Leser*innen als auch für Menschen, die selbst keinen Instagram-Account haben, gut nachvollziehbar ist. Wer richtig nerdig einsteigen will, dem empfehle ich den Hintergrundbericht zum Vorgehen der Journalist*innen.

Nochmal Mittwoch
Der Chemienobelpreis dieses Jahr geht an die Wissenschaftlerinnen Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna. Das ist insofern hier eine Meldung wert, als dass es selten weibliche Preisträgerinnen gibt. Seit 1901 haben (einschließlich der diesjährigen Auszeichnungen) 782 Männer den Nobelpreis erhalten und nur 56 Frauen. Den Nobelpreis für Wirtschaft erhielten 82 männliche und zwei weibliche Wissenschaftler*innen.

Donnerstag, 8. Oktober
„Mr. Vice President, I’m speaking.“ Dieser Satz von Kamala Harris ist wohl der am meisten zitierte nach dem zweiten Fernsehduell vor den US-Wahlen. Die Vizepräsidentschaftskandidatin der Demokraten musste Mike Pence mehrfach auffordern, sie ausreden zu lassen und jede Frau weltweit wird nachempfinden können, wie es ist, ständig von Männern unterbrochen zu werden. (Ja, Verallgemeinerung, ich weiß. Gibt vielleicht auch Frauen, die das noch nie erlebt haben, vermutlich aber nicht viele.)

„Manterupption“, also das Unterbrechen („Interruption“) einer Frau durch einen Mann („Man“), hat sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass (zumindest im beruflichen Kontext) Männer Frauen deutlich häufiger unterbrechen als umgekehrt. Entgegen des Klischees der plappernden Frau kommen Studien zu dem Ergebnis, dass Männer im professionellen (das heißt nicht privatem) Rahmen mehr, länger und lauter reden als Frauen.

Im Internet finden sich zahlreiche Tipps, wie sich Frauen gegen das ständige Ins-Wort-fallen wehren können. Im Unterschied zu „Manspreading“ (Breitbeiniges Sitzen im öffentlichem Raum) und „Mansplaining“ (Männer erklären Frauen deren Fachgebiet) wurde über „Manterrupting“ hierzulande noch wenig gesprochen. Kamala Harris Auftritt in der TV-Debatte könnte das ändern. Ich hoffe, dass wir uns den ikonischen Satz gut merken und auch dann einschreiten, wenn es nicht wir selbst sind, die unterbrochen werden. „Sie redet gerade“ oder „Lass sie bitte ausreden“ sollten zum Standard in Diskussionen werden.  

Freitag, 9. Oktober
Nachdem am 30. September bereits ein ähnliches Statement von 200 britischen und irischen Autor*innen veröffentlicht wurde, wanden sich jetzt mehr als 1.200 Menschen aus der US-Literaturszene gegen die transfeindlichen Takes von J.K. Rowling, darunter Roxane Gay, Margaret Atwood, Neil Gaiman und Stephen King.

„Wir sind Schriftsteller*innen, Redakteur*innen, Journalist*innen, Agent*innen und Fachleute verschiedener Publikationsformen. Wir glauben an die Kraft der Worte. Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten, den Verlauf der Geschichte in Richtung Gerechtigkeit und Fairness zu gestalten. Deshalb sagen wir: Nicht-binäre Menschen sind nicht-binär, trans Frauen sind Frauen, trans Männer sind Männer, Transrechte sind Menschenrechte. Ihre Pronomen sind wichtig. Du bist wichtig. Du wirst geliebt.“

Aus dem Offenen Brief der US-Literaturszene (Übersetzung von mir)

Nochmal Freitag:
Das selbstverwaltete queer-feministische Wohnprojekt Liebig 34 ist Geschichte. Am Freitag hat ein Großaufgebot der Polizei das Interesse des Eigentümers Gijora Padovicz final durchgesetzt. „Die Polizei zog ins Feld, als gelte es, einen bewaffneten Aufstand niederzuschlagen“, schreibt die taz über den Einsatz. 50 und mehr Bewohner*innen wurden – mitten in einer globalen Pandemie – durch Staatsgewalt obdachlos gemacht. Ihr ehemaliges Zuhause war ein Zufluchtsort für marginalisierte Menschen und das seit 30 Jahren. Damit hat die Liebig34 die denkbar fiesesten Innensenatoren (Körting, Henkel, um nur die aus der jüngeren Vergangenheit zu nennen) überlebt, um jetzt Andreas „Der Rechtsstaat wird durchgesetzt“ Geisel zum Opfer zu fallen.

Um das klarzustellen: Berlins rotrotgrüne Regierung hätte den Räumungstitel nicht mit 2.500 Polizist*innen (nach Angaben der taz, die Anzahl der Einsatzkräfte schwankt in der Berichterstattung) aus acht Bundesländern durchsetzen lassen müssen. Wie schon bei der Zwangsräumung des „Syndikats“ im August machte sich der Berliner Senat hier erneut zum stiefelleckenden Erfüllungsgehilfen des Kapitals. Der Anwalt des Mittendrin e.V., also der Bewohner*innen der Liebig34, sagt, mit der Zwangsräumung fand „eine Vollstreckung statt ohne Urteil“, und weiter „da steckt definitiv auch politischer Wille dahinter“.

Die junge Welt fragte zu Recht Katina Schubert, Landesvorsitzende der Linken: „Wie brutal müsste ein Polizeieinsatz bei der Räumung eines linken Hausprojektes sein, damit Sie die Regierung verlassen?“

https://twitter.com/ca_schwarz/status/1314629683699494913?s=20

Dass ein Gericht das Renditeinteresse eines Einzelnen über das Grundrecht auf Wohnen Vieler stellt, ist ein Skandal. Dass die Polizei im Anschluss an die Räumung Gruppenfotos im Hinterhof schießt (die dann wahrscheinlich in den üblichen Chatgruppen landen), als hätten sie hier grade ein Fußballspiel gewonnen, war zu erwarten. Dass die Cops aber eine Gruppe Journalisten (nicht gegendert) und Rechtsextreme (ich verlinke nicht zur „Epoch Times“, ihr könnt es googeln, wenn ihr mir nicht glaubt) zur exklusiven Hausführung einlädt, damit diese dann in den Privaträumen der ehemaligen Bewohner*innen fotografieren und filmen können, stellt eine neue Qualität der Niedertracht dar. Vor dem Hintergrund, dass die Liebig34 ein Safe Space für FLINTA war, ist es besonders schmerzhaft zu sehen, wie ein Haufen mackerhafter cis Männer durch das Haus trampelt und damit die ehemaligen Bewohner*innen zusätzlich erniedrigt und demütigt.  

Der Landesgeschäftsführer der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union, Jörg Reichel, sieht darin einen Verstoß gegen den Pressekodex „und zwar sowohl von der Polizei, die diesen redaktionellen Inhalt angeboten hat, als auch von den Redaktionen, die das veröffentlichen.“ Wie es in den privaten Wohnungen der nun obdachlos gemachten Menschen aussieht, geht niemanden etwas an. Hier hätten Persönlichkeitsrechte gewahrt werden müssen, stattdessen kommentiert der Pressesprecher der Polizei, Thilo Cablitz, im Livestream die „Hausführung“. Der rechte (und bürgerliche!) Mob in den sozialen Medien ergötzt sich an den intimen Aufnahmen, rotzt seine Verachtung in Tweets und Kommentarspalten, sodass zwischenzeitlich der Hashtag #Drecksloch der Top-Trend im deutschen Twitter ist. Ich hoffe sehr, dass es Konsequenzen gibt, weiß aber auch, dass das höchstens ein frommer Wunsch von mir ist.

Während die Gewerkschaft der Polizei der Zwangsräumung einen gewissen Volksfestcharakter verlieh, indem sie einen Currywurststand aufbaute, twittere Friedrich Merz: „Dank an die Einsatzkräften in der Berliner Liebigstraße und an insgesamt 2.500 Polizeibeamte: Das von der linksradikalen Szene besetzte Haus ist geräumt. Endlich.“

Mir fehlt heute noch die Kraft, um meine Wut und meinen Schmerz adäquat auszudrücken. Hengameh Yaghoobifarah hat auf Instagram die passenden Worte gefunden, bei denen ich es für heute belassen will:

„ich bin traurig und wütend über die zwangsräumung der liebig34 – und über die ekelhaften komemntare und tweets dazu, die vor misogyner, queerfeindlicher, klassistischer häme nur so triefen.

nach der zwangsräumung schrieb die liebig34: you can’t evict a movement. die polizei hat zwar das haus, aber sie hat nicht die leidenschaft, die träume und den zusammenhalt unter linken & feminist:innen geräumt.

und den hatern kann ich nur versichern: die größte genugtuung gegenüber eurem menschenfeinlichen mindsets ist das wissen, nicht so hoffnungslose, profitorientierte ekelbaronen zu sein, die ihr verachtenswertes inneres jeden tag selbst offenbare. wer sich so daran aufgeilt, dass 40 flint-personen inmitten einer pandemie der wohnraum entrissen wird, der sich darüber freut, dass kapital vor menschlichkeit geht, ist einfach nur los. hmdl bin ich nicht so rotten wie ihr. gute besserung ihr opfer.“

Hengameh Yaghoobifarah nach der Zwangsräumung der Liebig34

Samstag, 10. Oktober
Am Samstag war Welthundetag.

https://twitter.com/ohhellokathrina/status/1314871958362882049?s=20

Sonntag, 11. Oktober
Und am Sonntag war nicht nur Weltmädchentag,

sondern auch internationaler Coming-Out Day.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

Schreibe einen Kommentar