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Sexarbeit ist Arbeit! (Foto von mir)

In vielen Fällen vermeidbar

Die humanitäre Katastrophe im Sudan kriegt kaum Aufmerksamkeit, der Libanon droht ein „zweites Gaza“ zu werden, die Union will Sexarbeit verbieten und Cem Özdemir ist auch nur ein durchschnittlich rassistischer Schwabe. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW39

Montag, 23. September

Nicht ganz zwei Stunden lang beschäftigte sich der Bundestag am Montag mit einem Antrag der CDU/CSU nach einem „Sexkaufverbot“. Die Debatte im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend kann im Parlamentsfernsehen angeschaut werden. Die Union will gemeinsam mit fundamentalen Christ*innen und radikalfeministischen Aktivist*innen Sexarbeit in Deutschland verbieten. Unter dem Deckmantel, Betroffene von Menschenhandel schützen zu wollen, fordern sie u.a. „den Betrieb von Prostitutionsstätten“ zu verbieten. Dementsprechend würden sich in Zukunft Vermieter*innen strafbar machen, wenn sie einer Sexarbeiterin eine Wohnung vermieten, da nicht nur Bordelle geschlossen werden sollen, sondern jegliche „Vermietung von Objekten zum Zweck der Prostitutionsausübung“ verboten werden soll. Weiterhin fordert das konservative Bündnis „sicherzustellen, dass die Arbeit der Fachberatungsstellen im gesamten Bundesgebiet einheitlichen Standards unterliegt und die Beratung grundsätzlich das Ziel eines gelingenden Ausstiegs verfolgt“, was als eine direkte Drohung an alle Einrichtungen zu verstehen ist, die Sexarbeiter*innen auch dann unterstützen, wenn diese ihre Tätigkeit weiterhin ausüben. In der Zukunft, die sich die Befürworter*innen eines totalen Verbots der Sexarbeit ausmalen, werden akzeptierende Fachberatungsstellen wie die „Dortmunder Mitternachtsmission“ oder „Hydra“ die Gelder entzogen. Sexarbeitenden ein Berufsverbot auszusprechen und in die Illegalität zu drängen, um so angeblich „Frauen und ihr sexuelles Selbstbestimmungsrecht zu schützen“ – das kann nur „Feministinnen“ wie Dorothee Bär einfallen. Entsprechend vehement widersprachen Expert*innen verschiedener beruflicher Hintergründe, juristisch, wissenschaftlich, sozialarbeiterisch, dem Antrag. Andrea Hitzke vom bundesweiten Koordinierungskreis gegen Menschenhandel (KOK) und Leiterin der „Dortmunder Mitternachtsmission“ machte in ihrer Stellungnahme (unbedingt lesen!) deutlich, dass das sogenannte „Sexkaufverbot“ vor allem den Sexarbeitenden schadet, auch wenn dessen Befürworter*innen immer wieder behaupten, lediglich die „Freier“ würden bestraft: „Sexuelle Dienstleistungen dürfen nicht bezahlt werden, selbst wenn Sexarbeitende dies wollen. In der Praxis bedeutet dies, dass Sexarbeitende kein Recht haben, eine Bezahlung einzuklagen, während Kundinnen wegen „Sexkauf“ bestraft werden. Das bedeutet auch, dass Sexarbeitenden ihre wirtschaftlichen Rechte genommen werden und sie in prekäre und auch gefährliche Arbeitssituationen gedrängt werden.“ Sie wehrt sich gegen die Vermischung von Sexarbeit und Zwangsprostitution und weist daraufhin, dass das geforderte Gesetz „die gesellschaftliche Stigmatisierung und Diskriminierung von Sexarbeiter:innen weiter verschärfen“ würde. Sie betont: „Wir lehnen die pauschale Viktimisierung von Sexarbeitenden ab. Die Darstellung aller Sexarbeitenden als unmündige Menschen und Opfer untergräbt ihre Selbstbestimmung und verstärkt das gesellschaftliche Hurenstigma. Stattdessen fordern wir Respekt und Anerkennung für die Autonomie und Entscheidungen der Sexarbeitenden.“ Die Rechtsanwältin Dr. Margarete Gräfin von Galen stellt klar: „Die zentrale Forderung der CDU/CSU – ‚Sexkauf bestrafen‘ ist (…) verfassungswidrig.“ Um die bestehenden Missstände und den bereits strafbaren Menschenhandel zu bekämpfen „müssen die Länder mehr Mittel für den Vollzug der bestehenden Gesetze bereitstellen“, fordert sie. Zahlreiche queere, feministische und Menschenrechtsorganisationen sowie medizinische Fachverbände gaben ebenfalls schriftliche Stellungnahmen ab, die öffentlich nachzulesen sind. U.a. der Deutsche Frauenrat, der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V. (BVÖGD), der Sozialdienst katholischer Frauen, der LSVD⁺ – Verband Queere Vielfalt und die Deutsche Aidshilfe lehnen den Antrag ab und warnen vor den Folgen des sogenannten „Nordischen Modells„.

Auch am Montag

Dass das ehemalige 9-Euro-Ticket nächstes Jahr exakt um neun Euro verteuert wird, zeigt, dass die von der Auto-Lobby-geschmierten Politiker*innen zumindest Humor haben. Wenn auch einen fiesen. Das sogenannte „Deutschlandticket“ kostet dann 58 Euro. Deutschland Einig Autoland. In Portugal hat der Premierminister kürzlich vorgeschlagen, das nationale Ticket im Preis zu senken (auf dann 20 Euro), während das Angebot gleichzeitig auch auf Intercity-Züge ausgeweitet werden soll. Die sozialdemokratische Regierung will so nachhaltige und umweltfreundliche Mobilität fördern. Sollte so etwas in Deutschland angekündigt werden, würden sich Christian „Porsche“ Lindner und Volker „HVO100“ Wissing sich wahrscheinlich aus Protest kurzerhand auf Schienen kleben.

Dienstag, 24. September

Bis zu einer Millionen Menschen sind im Libanon auf der Flucht, über 600 wurden in den ersten Tagen der jüngsten Eskalation getötet und mindestens 1.800 verletzt. Das israelische Militär kündigte an, dem Land „keine Atempause“ zu gönnen. Vielmehr sollen die Angriffe verstärkt werden. Israels Generalstabschef Herzi Halevi erklärte: „Die Lage erfordert anhaltendes, intensives Handeln auf allen Ebenen“, wie die Tagesschau am Dienstag berichtete. Bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen nannte UN-Generalsekretär António Guterres den Gaza-Krieg einen „unaufhörlichen Albtraum“ und warnte: „Das libanesische Volk, das israelische Volk und die Menschen auf der ganzen Welt können es sich nicht leisten, dass der Libanon zu einem zweiten Gaza wird“. Die Hilfsorganisation medico international ruft währenddessen zu Spenden für die Partnerorganisationen im Libanon auf: „Die Bevölkerung im Libanon trifft der Krieg in einer Zeit der schweren politischen und wirtschaftlichen Dauerkrise. Rund die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut, Hunderttausende Syrer:innen leben als Geflüchtete im Land, die Gesundheitsinfrastruktur ist längst am Limit.“

Mittwoch, 25. September

„Eine derartige Krise habe ich in meiner Laufbahn nicht gesehen. Hier spielen sich mehrere Gesundheitskrisen gleichzeitig ab, aber internationale Hilfen der UN und anderer sind kaum zu sehen. Neugeborene, Schwangere und junge Mütter sterben in schockierender Zahl. Ihr Tod wäre in vielen Fällen vermeidbar, aber hier ist fast alles zusammengebrochen“, sagte eine Mitarbeiterin von „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) in Süd-Darfur. Die Hilfsorganisation ist eine der wenigen, die überhaupt noch im Sudan vor Ort ist. In einem neuen Bericht, der am Mittwoch veröffentlicht wurde, wird das Ausmaß des Grauens deutlich, das sich, von der Weltöffentlichkeit weitgehend ignoriert, dort tagtäglich ereignet. Tausende Kinder in Süd-Darfur sind akut bedroht, zu verhungern, viele sterben an vermeidbaren Todesursachen. Allein im Nyala Teaching Hospital und Kas Rural Hospital ist zwischen Januar und Juni dieses Jahres jedes fünfte Neugeborene an einer Sepsis gestorben. Jedes dritte Kind unter zwei Jahren ist akut mangelernährt. Das ergab die Untersuchung von 30.000 Kindern im August in Süd-Darfur. „Damit liegen die Werte weit jenseits der 15 Prozent, die die Weltgesundheitsorganisation als Notlage definiert“, heißt es im MSF-Bericht. Zwischen Januar und August sind 46 Mütter in den beiden Krankenhäusern, in denen MSF-Teams arbeiten, kurz nach der Entbindung gestorben. Zahlreiche Frauen seien gezwungen, unter unhygienischen Bedingungen zu gebären, nicht mal Seife stehe ihnen zur Verfügung, berichtet die Hilfsorganisation. „Auch die deutsche Bundesregierung sollte ihrer Rolle als wichtiger humanitärer Geber gerecht werden und ihre finanziellen Mittel für medizinische Nothilfe aufstocken“, fordert Lara Dovifat, politische Leiterin von „Ärzte ohne Grenzen“ in Deutschland.

Donnerstag, 26. September

Einen zarten politischen Hoffnungsschimmer sah ich in der Nacht zu Donnerstag, als die ersten Medien meldeten, dass der Vorstand der Grünen Jugend geschlossen seinen Rücktritt und den Austritt aus der Partei erklärte, weil „es mittelfristig keine Mehrheiten in der Partei für eine klassenorientierte Politik gibt, die soziale Fragen in den Mittelpunkt rückt und Perspektiven für ein grundsätzlich anderes Wirtschaftssystem aufzeigt“. JA! Danke! Das wissen die Linken im Land schon lange, schön, dass es die Linkeren der Grünen nun auch erkennen. Die Abtrünnigen wollen sich aber keinesfalls aus der Politik zurückziehen, im Gegenteil. „Wir fangen jetzt erst richtig an“, heißt es in der Erklärung, die auf einer neuen Webseite veröffentlicht wurde und den Anschein erweckt, dass da eine neue Partei in Gründung ist. „Wir haben in den letzten Jahren immer wieder erlebt, dass die Grünen nicht dazu bereit sind, sich mit den Reichen und Mächtigen anzulegen“, kritisieren die Ex-Grünen und kündigen an, genau das jetzt selbst tun zu wollen. Ich wünsche maximalen Erfolg.

Freitag, 27. September

Die AfD wird mit Alice Weidel als Kanzlerkandidatin in den Bundestagswahlkamp 2025 gehen. Wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) am Freitag exklusiv berichtete, haben sich Tino Chrupalla und Weidel offenbar geeinigt und die Entscheidung ist aus populistischer Logik absolut folgerichtig: Eine echte Chance auf das Amt hat die AfD voraussichtlich nicht (ich wünsche mir so sehr, dass das auch nächstes Jahr noch stimmt), aber Weidel ist viel mehr als der teils tapsige Malermeister aus der Lausitz dazu in der Lage, Stimmung zu machen. Und das ist alles, was für die radikalrechte Partei zählt: Provokation und Hetze. Die Tatsache, dass Weidel offen lesbisch lebt und mit einer Frau aus Sri Lanka verheiratet ist, schadet ihr nicht, im Gegenteil. Denn auch wenn die AfD und ihre Wählerschaft natürlich nach wie vor homophob und queerfeindlich sind, ist eine Spitzenkandidatin, die so gar nicht dem Klischee des Neonazis entspricht geradezu ein Glücksfall. Aus linker Perspektive können wir nur hoffen, dass Weidels Existenz endlich mit dem weitverbreiteten Irrglaube Schluss macht, potentiell Betroffene einer Diskriminierungsform wären irgendwie „immun“ gegen menschenfeindliche Ansichten. Schwule Nazis, von SA-Führer Ernst Röhm über Michael Kühnen bis zum NSU-Supporter Carsten S., hat es immer gegeben, genauso wie weibliche, behinderte, nicht-weiße, jüdische. Wer glaubt, ein Identitätsmerkmal schütze vor einer rechten Weltanschauung, entlarvt eigentlich nur das eigene stereotypisierende Menschenbild.

Nicht so radikal wie Weidel, aber dennoch ein weiteres Beispiel für den vermeintlich wandelnden Widerspruch ist Cem Özdemir. Der Landwirtschaftsminister und grüne Spitzenpolitiker fischt schon länger mit rassistischen und klassistischen Aussagen bei CDU-Wähler*innen nach Stimmen. Der in Schwaben geborene Sohn türkischer Einwanderer*innen, der mit 18 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt, widmete sich diese Woche in einem Gastbeitrag für die FAZ, dem Lieblingsthema der Deutschen, den „von Flüchtlingen verübten Straftaten wie Mord und Vergewaltigung“. Özdemir kaschiert seine rassistische Hetzschrift nur halbherzig mit Anekdoten (wie die, in der eine Freundin seiner Tochter Rassismus an der Ostsee erlebte oder die, in der Helmut Kohl eingewanderte Türk*innen „nach Anatolien zurück“ schicken wollte) und seinen angeblichen „Sorgen um das Erstarken autoritärer Kräfte“. Er will angeblich keinen „Beifall von der falschen Seite“ haben. Doch genau den bekommt er, nur dass die Seite für ihn vielleicht nicht so falsch ist, wie er denkt. Ich ertrage es nicht, aus Özdemirs Text längere Passagen zu zitieren, deshalb hier eine Auswahl von Buzzwords:

„tatsächlich Schutzbedürftigen“ „Heimat“ „stolz“ „deutsche Tugenden“ „die Rolle der Frau in vielen islamisch geprägten Ländern“ „Angst und falscher Rücksichtnahme“ „die notwendigen Änderungen an der Asyl- und Migrationspraxis“ „junge Männer“ „polizeibekannt“ „Angaben zur Identität oft gefälscht“ „Herkunftsländer von archaischen Formen des Islams geprägt“ „mehr Härte und Sanktionen“ „weniger Nachsicht“ „Solingen muss alle wachrütteln“ „Sprache, Arbeit, Bekenntnis zum Grundgesetz!“ „ganz bewusst vor den nationalen Grenzen steuern und ordnen“ „weniger Transferleistungen“ „gezielte Leistungsanreize“ „Integrationsverweigerung“ „Leitkultur“

Und falls ihr denkt, „das ist doch aus dem Zusammenhang gerissen!“, okay, bitte schön, der letzte Satz des Artikels in seiner ganzen Pracht: „Wer einen wertvollen Teil zu unserem Land beitragen kann und will, ist willkommen. Wer nachweislich Schutz sucht, dem helfen wir. Für alle anderen haben wir keinen Platz.“

Samstag, 28. September

In einem Waldstück bei Büchen in Schleswig-Holstein fand die Polizei am Samstag die Leiche einer 55-Jährigen, nachdem deren Ex-Partner sich selbst angezeigt hatte. Der 59 Jahre alte Mann gab an, seine getrennt lebende Ehefrau erschossen zu haben. Ein weiterer Femizid ereignete sich am Mittwoch in Burgdorf bei Hannover. Ein 32 Jahre alter Mann ist dringend tatverdächtig eine 37-Jährige getötet zu haben. Der Mann tötete die Frau, nach eigenen Angaben seine „Freundin“ mit einem Messer und sitzt nun in Untersuchungshaft. „In den letzten Jahren gab es einen besorgniserregenden Anstieg der geschlechtsspezifischen und häuslichen Gewalt: Jeden zweiten Tag wird eine Frau durch ihren (Ex-)Partner getötet, alle vier Minuten wird eine Frau Opfer von häuslicher Gewalt“, erklärte das Bündnis Istanbul-Konvention diese Woche in einer Pressemitteilung und fordert die Bundesregierung auf, das geplante Gewalthilfegesetz schnellstmöglich auf den Weg zu bringen. „Das Gewalthilfegesetz sieht einen Rechtsanspruch auf Schutz und Unterstützung bei häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt vor. Die langfristige pauschale Finanzierung der Schutz-, Unterstützungs- und Beratungsangebote soll durch eine Bundesbeteiligung abgesichert werden“, fordert das Bündnis in dem Wissen, dass unter einem Bundeskanzler Merz keine Hoffnung mehr auf eine Verbesserung des Gewaltschutz besteht. Es gibt zudem eine aktuelle Petition, der autonomen Frauenhäuser, die ihr hier unterzeichnen könnt.

Sonntag, 29. September

Bei der österreichischen Nationalratswahl erreicht die rechtsextreme FPÖ den Hochrechnung zufolge 29,2 Prozent und wird stärkste Kraft. „Der Standard“ spricht von einem „Erdrutschsieg“. 2019 lag die Partei noch bei 16,2 Prozent. Das vorläufige Endergebnis wird wohl erst gegen 23 Uhr feststehen. Ich bin traurig, dass es die KPÖ wohl nicht ins Parlament schaffen wird, auch wenn sie ihre Stimmanteile im Vergleich zur Wahl vor fünf Jahren verdoppeln konnte.

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