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Zhina (Mahsa) Amini wurde im Iran von der Sittenpolizei getötet. (Illustration von mir).

Perfide und menschenverachtend

Dieter Nuhr ist wieder da, im Iran wird eine Kurdin von der Sittenpolizei getötet und in Deutschland gibt es neben neuen Fällen von Polizeigewalt nun auch Nazis in den Rettungsdiensten. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive #KW37.

Montag, 12. September

In der Nacht zu Dienstag hat die aserbaidschanische Armee Armenien angegriffen. Doch in deutschen Medien wird der Aggressor nicht klar benannt. In der Berichterstattung fehlen sowohl die Hintergrundinfos zum jahrzehntelang schwelenden Konflikt noch Einordnungen zu den offiziellen Verlautbarungen beider Konfliktparteien. Zur Kritik an der medialen Darstellung hat Anna Aridzanjan im Deutschlandfunk viel Wichtiges gesagt. Klar sind Kriege, Konflikte, internationale Politik selten einseitig und schon gar nicht leicht zu verstehen. Es ist komplex, es ist kompliziert. Trotzdem muss ein Aggressor als solcher benannt werden. Bei Russlands Angriff der Ukraine fiel das deutschen Medien leicht, wieso ist es bei Aserbaidschan jetzt anders? Ich weiß es nicht, aber ich finde es wichtig zu erwähnen, dass die EU erst im Juli einen Deal mit Aserbaidschan geschlossen hat. Um weniger auf russisches Gas angewiesen zu sein, soll Aserbaidschan on den kommenden fünf Jahren „doppelt so viel Gas liefern wie ursprünglich vereinbart“ (Tagesschau). Ursula von der Leyen und der Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev ließen sich medienwirksam beim Unterzeichneten der entsprechenden Absichtserklärung fotografieren.

Dienstag, 13. September

In Berlin wurde eine syrische Familie in ihrer Wohnung von der Polizei überfallen und rassistisch beleidigt und bedroht. Anlass für den Einsatz war laut Polizeibericht vom Dienstag eine „Gefährderansprache“ der Mutter sowie ein „Haftbefehl wegen Erschleichens von Leistungen“ gegen den Vater. Der Straftatbestand wurde 1935 von den Nazis eingeführt und bedeutet nichts anderes als „Fahren ohne Fahrschein“. Nach Tagesspiegel-Informationen soll der Vater drei Mal ohne Fahrschein erwischt worden sein und habe die Geldstrafe von insgesamt 750 Euro nicht bezahlt. Der Vorfall, von dem es ein Video gibt, ereignete sich laut Polizei am Morgen des 9. Septembers. Im Video ist zu sehen, wie zwei Polizisten den 30-jährigen Mann in dessen Schlafzimmer gewaltsam zu Boden bringen. Der Vater trägt nur Boxerhorts und Unterhemd. Zwei Kinder sind im Raum und schreien, das Kleinkind wirft sich schützend über das Baby. Die Mutter ist hörbar in Panik und schreit „Das ist mein Haus“ und einer der beiden Polizisten sagt: „Das ist mein Land und du bist hier Gast“, „Verpiss Dich“ und „Halt die Fresse, fass mich nicht einmal an, ich bringe dich ins Gefängnis“. Die Aufnahme ist kaum zu ertragen. Laut Polizeibericht habe der Mann die 750 Euro vor Ort bezahlt, sodass die Cops wieder abzogen: „Die Einsatzkräfte verließen anschließend die Wohnung und leiteten Ermittlungsverfahren wegen Widerstands, tätlichen Angriffs und versuchter Gefangenenbefreiung ein“, heißt es. Doch auch das Ehepaar erstattete Anzeige, wegen Körperverletzung und rassistischer Beleidigung. Einer der beiden Polizisten, derjenige, der im Video die rassistischen Äußerungen tätigt, sei in den Innendienst versetzt und es seien Ermittlungen eingeleitet worden.

Mittwoch, 14. September

Christine Finke, Stadträtin in Konstanz, hat knapp 18.000 Follower*innen auf Twitter. Diese Reichweite nutzte sie am Mittwoch, um ihren Brief an Lisa Paus zu verbreiten, in dem sie vor dem Selbstbestimmungsgesetz warnt. Im Gestus der besorgten Mutter richtet sie sich an die Familienministerin und verpackt transfeindliche Narrative in mitunter watteweiche Formulierungen. Der Brief, den sie mit unangenehmen Rumgekumpel beginnt („vor 4 Jahren liefen wir gemeinsam auf der ersten Demo gegen Kinderarmut mitten durch Berlin und unterhielten uns“) enthält das 1×1 der TERF-Ideologie. Ich habe ihn Absatz für Absatz auseinandergenommen.

Donnerstag, 15. September

Die Sommerpause ist vorbei und in der ARD läuft wieder „Nuhr im Ersten“. „Perfide und menschenverachtend“ urteilt Moritz Post in einem Artikel für die Frankfurter Rundschau.

Ab der ersten Sekunde sprudelt es deshalb nur so aus Dieter Nuhr heraus: Seine minutenlange Begrüßung wird zu einer Aneinanderreihung reflexhaft abwehrender Witze über Wokeness in gesellschaftlichen Debatten und gendergerechte Sprache und Karl Mays „Winnteou“-Romane. Manisch stammelt der Gastgeber mit weit aufgerissenen Augen minutenlang zusammenhanglose Pointenversuche der Güteklasse „Hänchen:innenfilet“ in die Kamera. Es sollen alle wissen, dass der 61-Jährige sich unverstanden fühlt und nicht bereit ist, sich selbst und sein Verhalten auch nur im Ansatz zu reflektieren. Dass er dabei in drei Minuten all das mit Füßen tritt, für das Menschen eintreten, die auf die strukturelle Diskriminierung marginalisierter Gruppen hinweisen und einen respektvolleren Umgang der Menschen in der Gesellschaft herbeiführen möchten, ist dem Kabarettisten herzlich egal.

Moritz Post in der Frankfurter Rundschau über die neue Ausgabe von „Nuhr im Ersten“

Auch am Donnerstag

Fünf Wochen ist es her, dass Mouhamed Dramé in Dortmund von der Polizei erschossen wurde. Der 16-Jährige aus dem Senegal wurde von Polizisten mit einer Maschinenpistole geradezu durchsiebt. Wie der Spiegel am Donnerstag berichtete, ergab nun eine Untersuchung des zeitlichen Ablaufs, dass „zwischen der ersten Kontaktaufnahme von den Polizisten vor Ort mit dem 16-Jährigen und den tödlichen Schüssen auf ihn drei Minuten“ lagen. DREI MINUTEN. Selbst dem stiefelleckenden Innenminister Herbert Reul, der noch ultimativ nach der Tat eine Art Lobeshymne auf die Cops gesungen hatte, „drängt sich (…) schon der Eindruck auf, dass bei diesem Einsatz einige Dinge nicht einwandfrei gelaufen sein können“. Zwölf Polizist*innen waren an dem Einsatz beteiligt, kein*e Einzige*r hatte die Bodycam eingeschaltet. Die angebliche Notwehr-Situation, wie von der Polizei geschildert, scheint längst nicht mehr haltbar zu sein. Dass der Jugendliche, oder wie Reul ihn nannte „dieser psychiatrisch offensichtlich kranke Mensch“ mit dem Messer auf die Einsatzkräfte „zugestürmt“ sei, ist keinesfalls sicher, im Gegenteil: Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Mouhamed „alleine im Hof“ gesessen und „sich das Messer an den Bauch“ gehalten habe. „Die Polizei sprach ihn an, sprühte dann mit Pfefferspray, so viel, dass ihm die Flüssigkeit über den Kopf lief“. Wie das ARD-Magazin Monitor berichtet, erklärt die Staatsanwaltschaft: „Als dem Jugendlichen die aufgesprühte Flüssigkeit über den Kopf lief, stand er auf, wischte sich mit einer Hand über den Kopf und wendete sich mit einem Schritt nach rechts.“ Ein Angriffsversuch auf die Polizei war das nicht, dennoch kam es zum Taser-Einsatz: „Unmittelbar danach setzten eine Polizeibeamtin und ein Polizeibeamter die Distanzelektroimpulsgeräte ein“, gibt die Staatsanwaltschaft an. Und weiter heißt es: „Sehr zeitnah – gegebenenfalls sogar zeitgleich zu dem Einsatz des zweiten Geräts – gab ein Polizeibeamter sechs Schüsse aus der mitgeführten Maschinenpistole ab.“

Und noch ein zweiter Fall tödlicher Polizeigewalt machte diese Wochen erneut Schlagzeilen. Im Fall des 47-Jährigen, der nach einem Polizeieinsatz in Mannheim am 2. Mai gestorben war, handelte es sich nicht um eine „natürliche Todesursache“. Die Staatsanwaltschaft Mannheim teilte am Mittwoch mit: „Der 47-Jährige soll letztlich an einer lage- und fixationsbedingten Atembehinderung mit konsekutiver Stoffwechselentgleisung in Kombination mit einem Ersticken durch eine Blutung in die oberen Atemwege verstorben sein.“ Ante P., der wegen psychischer Probleme in Behandlung war, ist an seinem eigenen Blut erstickt, nachdem ihm ein Polizist in der Fußgängerzone Mannheims zwei Mal mit der Faust den Kopf geschlagen hatte. Der Deutsch-Kroate, der nicht, wie es im Spiegel heißt aus der Psychiatrie „geflohen“ war, sondern sie (zwar gegen ärztlichen Rat) auf eigenen Wunsch verließ, wurde in der Fußgängerzone von der Polizei überwältigt, und bäuchlings auf dem Boden fixiert. Seine Arme waren auf dem Rücken verschränkt, zwei Polizisten knieten auf bzw. über ihm. Alles wurde von Zeug*innen gefilmt. Trotzdem behauptete die Polizei, die Todesursache sei ein „Herzstillstand“ gewesen. Auch diese Cops hatten ihre Bodycams nicht eingeschaltet.

Freitag, 16. September

Zhina (Mahsa) Amini ist im Krankenhaus gestorben, das bestätigten am Freitag iranische Behörden. Die 22-jährige iranische Kurdin wurde am Dienstag in Teheran von der „Sitten- und Religionspolizei“ wegen ihres „unislamischen“ Äußeren festgenommen und auf eine Polizeiwache gebracht worden. Laut Behördenangaben sei sie dort wegen „Herzversagens zunächst in Ohnmacht und danach ins Koma gefallen“. Aktivist*innen im Internet stellen den Vorfall gänzlich anders da. Demnach soll die junge Frau festgenommen worden sein, „weil ihr Kopftuch nicht richtig saß“ und in Gewahrsam sei ihr „auf den Kopf geschlagen worden“, was zu einer Hirnblutung geführt habe, berichtet die Deutsche Welle. Zhina Aminis Bruder gab an, „deutliche Spuren von Misshandlungen gesehen“ zu haben, „ihr Gesicht sei ‚geschwollen und ihre Beine voller blauer Flecken‘ gewesen“, heißt es auf dem kurdischen Nachrichtenportal ANF. Überall im Iran und in Kurdistan kam es zu Protesten gegen das iranische Regime und die „Sittenpolizei“.

Auch am Freitag

In der taz ist eine lange Recherche zu Rechtsextremist*innen im Rettungsdienst erschienen. Darin zeichnen Anne Fromm und Sebastian Erb die teils offen rassistische und sexistische Kultur bei Johannitern und Rotem Kreuz nach. Gespräche mit „mehr als einem Dutzend Rettungsdienst-Mitarbeitenden“ und die Einsicht in „Chatgruppen und interne Mails“ sowie „Berichte und Unterlagen aus arbeitsrechtlichen Streitigkeiten“ ergeben ein beängstigendes Bild.

Samstag, 17. September

In Berlin kamen wieder christliche Fundamentalist*innen und Rechtsextreme zum jährlichen „Marsch für das Leben“ zusammen. Nach Angaben der taz nahmen 3.150 Abtreibungsgegner*innen an der Demo teil, darunter auch dieses Jahr Beatrix von Storch. Die selbsternannten „Lebensschützer“ kommen aus allen Ecken Deutschlands nach Berlin, um gegen den „Babycaust“ zu protestieren. Auf der Kundgebung am Brandenburger Tor sprechen Geistliche der Katholischen Kirche genauso wie CDU-Politiker. Vereint sind sie in ihrem fundamentalen Anti-Feminismus. Zum Glück haben auch dieses Jahr wieder engagierte Feminist*innen den Fundis den Tag vermiest. In der Pressemitteilung des WTF-Bündnisses heißt es: „Der Marsch wurde durch vielfältige Proteste immer wieder gestört. Einigen Aktivist*innen gelang es, die jährliche ‚Schweigeminute für ungeborenes Leben‘ mit lauten Zwischenrufen zu stören. Es gab eine Blockade auf der Leipziger Straße, die von der Berliner Polizei brutal und hektisch geräumt wurde. Zudem waren viele queer-feministische Aktivist*innen durch lautstarken Protest und Choreografien an der Strecke und im Marsch selbst hör- und sichtbar.“

https://twitter.com/nofundis/status/1571163632662085636?s=20&t=MJDPSUAPXMq0Al0B5_cc5w

Sonntag, 18. September

Auf Instagram liefere ich heute schon den ganzen Tag Argumentationshilfen gegen typische Behauptungen von TERF und Rechten. Wer ein bisschen tiefer ins Thema einsteigen will, dem empfehle ich den heute veröffentlichten Artikel „Reaktionärer Biologismus. Was rechte Akteure und ,radikale Feministinnen‘ verbindet“ der Medizinsoziologin und Wissenschaftshistorikerin Dana Mahr, den ihr hier lesen könnt.

Das wars für heute mit dem Wochenrückblick. Wie immer: Danke fürs Lesen. Wenn Du kannst und willst, gibt es via PayPal die Möglichkeit, ein Trinkgeld dazulassen. Oder du wirst heute Fördermitglied auf Steady und hilfst mir dabei, meine Arbeit dauerhaft zu finanzieren.

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