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Die indigenen Menschen in Australien sollten mehr Rechte bekommen, doch die Mehrheit stimmte dagegen. (Foto: Pexels.com, Grafik: Northern Land Council, Montage von mir)

„Das Böse“ brennt in Itzehoe

Till Lindemann verliert gegen die SZ, der Faschismus war nie weg, Richard David Precht verbreitet Antisemitismus und wieder wurde in Deutschland ein psychisch kranker Mensch von der Polizei erschossen. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW41

Montag, 9. Oktober

Am Montag vor vier Jahren ermordete ein Rechtsextremist zwei Menschen in Halle / Saale, nachdem er erfolglos versucht hatte, in eine Synagoge einzudringen. Am Sonntag wählten in Hessen 18,4 % der Wahlberechtigten eine rechtsextreme Partei. Fast jede*r Fünfte wünscht sich eine Partei an der Macht, die wie keine andere für Rassismus, Antifeminismus, Queer- und Transfeindlichkeit, Antisemitismus und Verschwörungsideologie, Ableismus, Klassismus und Sozialdarwinismus steht.

Ich bin in Hessen geboren und aufgewachsen, habe mein Bachelorstudium in Kassel absolviert, habe die ersten 23 Jahre meines Lebens in diesem Bundesland verbracht. In dem Wahlkreis, in dem ich die meiste Zeit gelebt habe, hat die AfD 22,2 % der Stimmen bekommen. Meine ehemaligen Nachbarn*innen haben sie gewählt, meine früheren Mitschüler*innen, Lehrer*innen, Ärzt*innen und wer weiß – vielleicht auch meine damaligen Freund*innen. In meiner Altersklasse (35-44 Jahre) schneidet die AfD am besten ab. 24% haben die neuen Nazis gewählt, bei den über 70-Jährigen sind es „nur“ 9%.

Der Rassismus, die menschenfeindlichen Einstellungen waren immer da. Wurden sie früher weniger selbstbewusst geäußert? Und wenn doch, wurde dann häufiger empört widersprochen? Ich grabe meine Erinnerungen um und mir fällt die Deutschlandfahne mit Reichsadler ein, die im Jugendclub der Feuerwehr hing, ich denke an die Hitlergrüße auf dem Apfelweinfest und die rassistischen Sprüche in der Kneipe, wenn die Bundesliga übertragen wurde und Jay-Jay Okocha spielte. Mir fällt wieder ein, wie eine meiner Freundinnen mir die „Störkraft“-CD zeigte, die sie von ihrem Freund bekommen hatte. Ich denke daran, wie mein Vater in der Grillhähnchen-Kneipe wegen seiner langen Haare beschimpft wurde und dass wir im Dorf als „die Roten“ von manchen gemieden wurden. Ich denke aber auch daran, dass die NPD damals auf keinen grünen Zweig kam. Daran, dass offene Neonazis, die mit den Springerstiefeln und den Alpha-Industry-Jacken eine Minderheit waren. Die Leute waren im Durchschnitt rechts, würde ich sagen, aber sie waren nicht so voller Hass, bzw nicht so offen damit. Die Nazis, die waren im Osten, und einmal im Jahr in Kirtorf, ein kleines Kaff, in dem ein Landwirt jährlich ein Rechtsrock-Fest im Schweinestall veranstaltete. Alles in allem war die Gefahr weit weg, wenn sie denn überhaupt als Gefahr wahrgenommen wurde. Jetzt ist sie da, mitten im Licht, kann nicht mehr verleugnet oder als Randphänomen verharmlost werden.

Aber heißt das, dass sich die Menschen empören? Die gut 80%, die die AfD nicht gewählt haben? Nope, leider nicht. Schulterzucken, ein paar Analysen, aber weitgehend Desinteresse. Die AfD ist in der gesellschaftlichen Mitte angekommen, ihre Positionen sind normalisiert. Warnungen werden als Alarmismus abgetan, das Aufzeigen der Parallelen zum Faschismus gelten als übertrieben. Es hat sich eine Haltung ausgebreitet, die ich mit „wird schon nicht so schlimm sein“ beschreiben würde. Während marginalisierte Gruppen, von Rassismus betroffene Menschen, Queers, Aktivist*innen mit Behinderung usw. sowie aktive Antifaschist*innen entsetzt sind, Angst haben, Alarm schlagen, ist die Dominanzgesellschaft ganz entspannt.

Und das ist das Problem mit dem Faschismus.

Faschismus gefährdet uns eben nicht alle gleichermaßen. Im Gegenteil. Für einen Gutteil der Gesellschaft bringt der Faschismus (zunächst) sogar einige Vorteile mit sich. Dazu gleich mehr.
Außerdem müssen wir verstehen, dass Faschismus nicht gleichzusetzen ist mit Nationalsozialismus. Dass Faschismus nicht „das eine“ historische Phänomen. Faschismus ist viel mehr die Summe von Einstellungen und Handlungen, die der italienische Wissenschaftler und Schriftsteller Umberto Eco als Merkmale des „Ur-Faschismus“ markiert. Neben dem Traditionalismus (der Ablehnung der modernen Welt), dem Volksgedanken und der empfundenen Bedrohung durch „Eindringlinge“ und Fremde und dem Nationalismus, sind das u.a. auch das „Misstrauen gegenüber der intellektuellen Welt“ und der Ablehnung des Parlamentarismus, der „Machismo (der nicht nur Frauenverachtung bedeutet, sondern auch Ablehnung und Verurteilung aller nicht zum Standard gehörigen Sexualgewohnheiten, von der Keuschheit bis zur Homosexualität)“ sowie die „Verachtung des Schwachen“. Zudem beutet der Faschismus die, laut Eco, „natürliche Angst vor dem Andersartigen“ aus und vertieft sie. Rassismus und Antisemitismus, Queer- und Transfeindlichkeit sind dem Faschismus inhärent.

Wer also die Losung „Nie wieder“ darauf bezieht, eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern, wird sich schnell beruhigen lassen. Denn nein, die AfD ist nicht die NSDAP. Es ist meiner Meinung nach auch nicht zielführend deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Entscheidend ist: die Geschichte wiederholt sich nicht, aber der Faschismus hat viele Gesichter. Der aktuelle Faschismus sieht anders aus als der historische, so wie der Franco-Faschismus in Spanien anders aussah als der Nationalsozialismus in Deutschland und der Mussolini-Faschismus in Italien anders aussah als die Ustascha in Kroatien.

Wenn wir unseren Widerstand gegen die AfD also einzig darauf stützen, eine neue NS-Zeit verhindern zu wollen, zeugt das nicht nur von mangelnder historischer Kenntnis und politischer Analyse, sondern lässt auch das Potential ungenutzt, diese spezifische und historisch wie international einmalige Form des Faschismus gezielt zu benennen und zu bekämpfen.

Kurz gesagt: wir müssen der AfD das Handwerk legen, auch wenn sie nicht plant, Konzentrationslager zu errichten oder eine „Höcke-Jugend“ aufzubauen. Ein Antifaschismus, der lediglich ein historisches Verständnis vom Faschismus hat, wird scheitern.

Abschließend möchte ich nochmal darauf zurückkommen, dass der Faschismus eben nicht alle Menschen gleichermaßen bedroht. Die weiße Dominanzkultur in Deutschland, also die Menschen, die cis und hetero sind, christlich oder konfessionslos, ohne Behinderung und mit deutschem Pass, vermögend oder mindestens nicht prekär lebend, die, die keine psychischen oder Suchterkrankungen haben, die die einer geregelten Lohnarbeit nachgehen oder Unternehmen haben, die keine aktive antifaschistische Arbeit machen oder gegen die Verleugnung der Klimakatastrophe kämpfen – diese Menschen haben nichts oder nicht viel zu befürchten, wenn die AfD regiert. Ihre Situation könnte sich sogar kurzfristig verbessern: Mehr Wohnraum, wenn Menschen ohne deutschen Pass das Land verlassen (müssen), weniger Steuern für Gutverdienende und Besserverdienende auf Kosten sozialstaatlicher Leistungen (die ja nur den „faulen und schwachen“ zugute kommt), positive Nationalgefühle dank der Förderung des Patriotismus und Streichung lästiger „Erinnerungskultur“. Vor allem aber lockt die Vorstellung von Sicherheit und Ordnung, Sauberkeit und Reinheit. „Law and Order“ ist ein Konzept, das insbesondere bei denen Anklang findet, deren Sicherheit nicht durch die Polizei selbst gefährdet ist. Wer sich nicht abweichend verhält (oder halt anders aussieht), muss auch nicht mit staatlicher Gewalt rechnen.

Wer keine Drogen gebraucht, dem können Unterstützungsangebote egal sein.
Der, dessen Kinder keine Behinderung haben, kann auf Inklusionsmaßnahmen verzichten.
Wer nicht von Rassismus betroffen ist, der braucht keinen Schutz vor rassistischer Diskriminierung und Gewalt.
Wer weiß ist und einen deutschen Pass hat, braucht keine Angst vor Abschiebung zu haben.
Wer lediglich christliche Feste feiert, muss sich nicht um bedrohte Religionsfreiheit sorgen.
Wer nicht auf der Straße lebt und oder bettelt muss keine Verfolgung fürchten.
Um die heterosexuellen Kernfamilie muss sich niemand Gedanken machen, aber was ist mit Familien, die davon abweichend leben?
Wer cis ist, dem kann die Gesundheitsversorgung für trans Personen egal sein.
Wer nicht aktiv gegen Nazis kämpft, der muss auch keine Angst vor Vergeltung haben.

Ich könnte noch eine Weile so weiter machen, aber ich denke, es ist klar geworden, was ich meine.

Dienstag, 10. Oktober

Im Rechtsstreit zwischen Till Lindemann und der Süddeutschen Zeitung hat das Landgericht Frankfurt zugunsten des Mediums entschieden. In der Urteilsbegründung, die der SZ am Dienstag zugestellt wurde, erklärte das Gericht, dass der „erforderliche Mindestbestand an Beweistatsachen“ auch dann gegeben sein kann, wenn es für die beschriebene Situation nur eine einzige Zeugin gibt. Andernfalls „würde dies dazu führen, dass über einen möglichen Vorfall wie den vorliegenden nie berichtet werden dürfte“, so die Kammer. Die SZ hatte im (sehr lesenswerten) Artikel „Am Ende der Show“ unter anderem über eine junge Frau berichtet, die 2019 nach einem Rammstein-Konzert in Wien zu einer Aftershowparty in ein Hotel gegangen war. Die Frau erzählte, sie hätte in der Nacht das Bewusstsein verloren und als sie irgendwann aufgewacht sei, sei Lindemann „auf ihr drauf“ gewesen und habe sie gefragt, ob er „aufhören solle“, als er bemerkte, dass sie wach geworden sei. Sie habe, laut SZ, „nicht einmal gewusst, womit er aufhören wollte“. Das Frankfurter Landgericht sah hier einen möglichen sexuellen Übergriff und die strengen Maßstäbe für eine zulässige Verdachtsberichterstattung erfüllt. Die SZ habe der Kammer nicht nur eidesstattliche Versicherungen der mutmaßlich betroffenen Frauen vorgelegt, sondern nach Auffassung des Gerichts „in ausreichendem Maße Anstrengungen unternommen […] um die Richtigkeit der Angaben zu verifizieren“. Lindemann war mithilfe seiner Anwält*innen der Kanzlei Schertz Bergmann gegen den Artikel juristisch vorgegangen und beantragte u.a. ein Verbot von Schilderungen von Frauen über „Sexerlebnisse“ mit ihm. Dass das Landgericht Frankfurt sich auf die Seite der Pressefreiheit stellte und den Artikel als zulässig und ausreichend ausgewogen wertete, ist ein wichtiger Meilenstein. Lindemann Anwalt Simon Bergmann kündigte aber bereits an: „Wir werden auf jeden Fall Berufung zum OLG Frankfurt einlegen.“

Mittwoch, 11. Oktober

In Delbrück, im Landkreis Paderborn, wurde am Mittwoch ein 30-Jähriger mit vier Schüssen von der Polizei getötet. Ein Polizist schoss ihm in den Kopf und in den Bauch. Der suizidgefährdete Mann war zuvor als vermisst gemeldet worden. Er befand sich in einer psychischen Ausnahmesituation. Als die Polizei ihn an einem Straßenrand kurz vor Nordhagen fand, soll er ein Küchenmesser gezogen und sich auf die Polizei zubewegt haben. Der WDR berichtet: „Ersten Angaben nach waren die Bodycams der Polizisten und auch die Kameras der beiden Streifenwagen nicht eingeschaltet.“ Immer wieder werden psychisch kranke Menschen von der Polizei erschossen. Untersuchungen legen nahe, dass die Mehrheit der Personen, die in Deutschland durch Polizeikugeln ums Leben kamen, an einer psychischen Erkrankung litt. Zwischen 1990 und Anfang 2017 wurden bundesweit 269 Menschen von der Polizei erschossen. Neuere Zahlen konnte ich leider nicht finden. Prof. Dr. Thomas Feltes, Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Uni Bochum ist Experte für das Thema Tödliche Polizeieinsätze und fordert eine bessere Ausbildung von Polizist*innen im Umgang mit psychisch Erkrankten. „Generell werden Menschen mit psychischen Problemen oftmals stigmatisiert oder diskriminiert, meist aufgrund von Unsicherheit und Unwissenheit. Hinzu kommt, dass die Problematik oftmals falsch eingeschätzt und eine von der Person ausgehende Gefahr angenommen wird, wo möglicherweise lediglich eine Unsicherheit oder Verunsicherung besteht. Handreichungen für Polizeibeamte zu diesem Thema gibt es zwar durchaus, sie beschränken sich aber entweder auf die rechtlichen Aspekte […] oder können aus anderen Gründen die Problematik nicht angemessen vertiefen“, heißt es in einem Beitrag, den Thomas Feltes und Michael Alex 2021 im „Handbuch Einsatztraining: Professionelles Konfliktmanagement für Polizist*innen“ veröffentlicht haben. Es braucht unbedingt eine Alternative zu bewaffneten Cops für Krisensituationen.

Auch am Mittwoch

Der 11. Oktober ist seit 1988 Internationaler Coming-Out-Tag. Mara Geri vom LSVD-Bundesvorstand erklärt: „Dieser Tag geht die gesamte Gesellschaft an: Bei allen Verbündeten für die Gleichberechtigung von LSBTIQ* und damit allen Demokrat*innen liegt die Verantwortung, gemeinsam mit der Community ein gesellschaftliches Klima von Akzeptanz und Offenheit zu schaffen, in welchem ein sicheres und positives Coming-Out möglich ist.“ Noch besser wäre es natürlich, wenn es irgendwann gar kein Outing mehr bräuchte. Wenn Heterosexualität und Cis-Normativität nicht mehr als gesetzter Standard gelten, muss sich auch niemand als davon abweichend outen. Wir würden dann einfach keine Annahmen über die sexuelle Orientierung oder das Geschlecht von Menschen treffen. Davon sind wir aber leider noch sehr weit entfernt. Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt sind sichtbarer geworden, gleichzeitig steigt aber auch die Ablehnung und der Hass. Der NDR berichtete am Mittwoch über die Zunahme queerfeindlicher Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern. Vier bis fünf Mal mehr Menschen suchen Hilfs- und Beratungsangebote nach Anfeindungen oder Angriffen auf, im Vergleich zu früheren Jahren, erzählt Roy Rietentidt, Vorsitzender des Landesverbands Queer MV, dem NDR. Tom Lüth, Vorstandsmitglied des Vereins für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt rat + tat e.V. Rostock sagt: „Die Situation in den letzten Monaten, in den vergangenen Monaten, ist muss man tatsächlich sagen, schwieriger geworden. Man merkt durch die gesellschaftlichen Veränderungen, durch den Aufsteig der AfD, […] sind Dinge sagbarer geworden. […] Und es merken vor allem viele queere Menschen, dass eben mal ein Spruch kommt auf der Straße – dass aber eben auch Bedrohungsszenarien kommen […] Leute verfolgt werden, ihnen hinterher gelaufen wird, und das merken wir natürlich in der Community sehr.“

Donnerstag, 12. Oktober

Bereits am 29. September feierten die Anthroposoph*innen das „Michaeli-Fest“, eine ursprünglich katholische Feier, die von Rudolph Steiner in seine krude Weltsicht integriert wurde und die heute vor allem in Waldorfschulen und -kindergärten einen hohen Stellenwert hat. Es geht um nichts weniger als den Kampf des Guten gegen das Böse. Auch die Freie Waldorfschule Itzehoe (Schleswig-Holstein) feierte, wie jedes Jahr, mit. Am Donnerstag berichtete der „AnthroBlogger“, der Journalist und Anthroposophie-Experte Oliver Rautenberg, darüber. Traditionell wird an der Freien Waldorfschule Itzehoe zum Michaeli-Fest ein von den Schüler*innen selbstgebastelter Drachen verbrannt, der für „das Böse“ stehen soll. In diesem Jahr bekam der Drache zwei Köpfe verpasst, von denen der eine „klimpernde Wimpern, lange blonde Locken und einen rosafarbenen Hut, verziert mit dem Barbie-Logo“ hat. Der andere soll wohl „männlich“ aussehen, hat einen HSV-Hut auf und trägt ein rosa Trikot, das mit den Adidas-typischen drei Streifen versehen ist. Unter dem Logo steht aber „Gaydidas“. Die Hose des Drachen ist hellblau und in seiner Gesamtheit betrachtet, erinnern die gewählten Farben stark an die der trans Flagge. Ganz offensichtlich soll der Drache, der wie gesagt für das „absolut Böse“ steht, möglichst queer aussehen. In einem, inzwischen von der Webseite der Schule gelöschten, Artikel heißt es „Unter aller Augen ging der (sehr kreativ gestaltete) Bösewicht in Flammen auf. Der Sieg des Guten über das Böse, der Freiheit über die Gefangenschaft“. Einen Tag nach dem Oliver Rautenberg über diesen queerfeindlichen Vorfall berichtete, erklärte das Bildungsministerium auf der Plattform, die früher Twitter hieß: „Wir haben den Artikel von @AnthroBlogger gelesen und gehen der Sache nach.“

Freitag, 13. Oktober

Die israelische Regierung hat die Menschen in Gaza aufgerufen, das Gebiet nach Süden zu verlassen. Den rund 1,1 Millionen Menschen im betroffenen Gebiet wurden 24 Stunden gegeben. „Die Vereinten Nationen halten es für unmöglich, dass eine solche Bewegung ohne verheerende humanitäre Folgen stattfinden kann“, sagte ein UN-Sprecher in einer Erklärung. Auch die NGO „Save the Children“ fordert die israelische Regierung auf, den Evakuierungsaufruf zurückzunehmen. Geschätzt die Hälfte der Menschen, die im Gazastreifen leben, seien Kinder, sagte James Denselow von Save the Children UK laut der Tagesschau. Die islamistische Terrororganisation Hamas, die die Region kontrollieren, bezeichnet Israels Aufruf als „Propaganda“ und versucht Medienberichten zufolge, fliehende Menschen am Verlassen des Gebiets zu hindern. Gleichzeitig hatte die Hamas den 13. Oktober zum „Freitag der Al-Aksa-Flut“ erklärt und „weltweit zu Angriffen auf jüdisches Leben aufgerufen“ (Zitat aus der FR). In Berlin wurden alle Demonstrationen, die Solidarität mit den palästinensischen Opfern des Krieges ausdrücken, verboten. Basierend auf den Erfahrungen der Vergangenheit, bestehe laut Polizei, die Gefahr, dass es bei den Veranstaltungen zu volksverhetzenden und antisemitischen Ausrufen und Gewaltverherrlichungen, kommen könne. Für Palästinenser*innen gibt es derzeit so gut wie keine Möglichkeit, öffentlich zu trauern. Solidarität mit den Menschen in Gaza wird mit Hamas-Unterstützung gleichgesetzt. An den Schulen nähme offen geäußerter Antisemitismus zu, erklärt der Deutsche Lehrerverband. Am Ernst-Abbe-Gymnasium in Berlin-Neukölln hatte am Montag ein 61 Jahre alter Lehrer einen 15-jährigen Schüler geschlagen. In einem Video, das in den Sozialen Medien verbreitet wurde, ist zu sehen, wie der Mann dem Kind eine Ohrfeige verpasst, der 15-Jährige tritt daraufhin zurück. Zuvor soll ein anderer Schüler, 14 Jahre alt, auf dem Schulhof eine palästinensische Flagge gezeigt haben. Für Jüdinnen*Juden ist die Lage derzeit besonders bedrohlich, einige Einrichtungen blieben am Freitag vorsorglich geschlossen. Seit dem Ende des Holocausts sind nie so viele jüdische Menschen innerhalb eines einzigen Tages getötet worden wie durch den Hamas-Terror am 7. Oktober. Dass Menschen diese unaussprechliche Gewalt auch noch begrüßen und mit dem Verteilen von Süßigkeiten feiern, ist unerträglich.

Die Reaktion der israelischen Regierung auf den Terror der Hamas ließ nicht lange auf sich warten. Bereits am Montag erklärte Verteidigungsminister Yoav Gallant: „Ich habe eine vollständige Belagerung des Gazastreifens angeordnet. Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff. Alles ist geschlossen“.Weiterhin sagte er: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln entsprechend.“ Human Rights Watch berichtete am Donnerstag, das israelische Militär hätte weißen Phosphor in Gaza eingesetzt. Die Menschenrechtsorganisation verifizierte Videos, die am Dienstag und Mittwoch im Libanon und im Gazastreifen aufgenommen wurden und die den mehrfachen Einsatz von weißem Phosphor über dem Hafen von Gaza-Stadt und zwei ländlichen Orten an der Grenze zwischen Israel und dem Libanon zeigen sollen. Weißer Phosphor entzündet sich, wenn er mit Luftsauerstoff in Berührung kommt, und kann starke Hitze (etwa 815°C) und Rauch entwickeln. Bei Kontakt kann weißer Phosphor Menschen thermisch und chemisch bis auf die Knochen verbrennen. Fragmente von weißem Phosphor können die Wunden auch nach der Behandlung verschlimmern, in den Blutkreislauf gelangen und zu mehrfachem Organversagen führen. „Jedes Mal, wenn weißer Phosphor in dicht besiedelten zivilen Gebieten eingesetzt wird, besteht die Gefahr unerträglicher Verbrennungen und lebenslangen Leidens“, sagte Lama Fakih, Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch. Ob Israel damit gegen das Völkerrecht verstoßen hat, ist noch nicht endgültig geklärt. „Wir müssten mehr über das beabsichtigte Ziel dieses Angriffs und den beabsichtigten Einsatz von weißem Phosphor wissen, um ein definitives rechtliches Urteil über diesen speziellen Fall zu fällen“, erklärte Brian Castner, ein Waffenexperte von Amnesty International, der in der Frankfurter Rundschau zitiert wird. „Aber im Allgemeinen kann jeder Angriff, bei dem nicht zwischen Zivilisten und militärischen Kräften unterschieden wird, einen Verstoß gegen das Kriegsrecht darstellen.“

Auch am Freitag

Margarete Stokowski beschäftigt sich im aktuellen Spiegel in einem Essay mit dem Titel „Nur über ihre Leiche“ mit Übergriffen im Literaturbetrieb und damit, wie das Nein von Frauen mit fast systematischer Selbstverständlichkeit wieder und wieder ignoriert wird. Von Ingeborg Bachmann, über Elena Ferrante bis zu „Josy“, der Frau, die sich gegen die Veröffentlichung von „Oh Boy“ im Kanon-Verlag zu wehren versuchte. Stokowski schreibt: „‘Nein heißt Nein‘ ist ein berühmter Satz, aber er ist offenbar nicht berühmt genug. Denn das eint diese drei Fälle aus der Welt der Literatur: Sie haben das Nein einer Frau übergangen, weil sie dachten, etwas anderes wäre wichtiger.“

Samstag, 14. Oktober

In Australien, einem Staat, der bekanntlich in Folge brutaler Unterdrückung und Kolonialisierung durch die Briten im späten 18. Jahrhundert entstand, stimmten die mehrheitlich weißen, von Europäer*innen abstammenden, Wahlberechtigten gegen mehr Rechte für die indigene Bevölkerung. Ein Referendum sollte den „First Nations“ künftig ein Mitspracherecht im Parlament sichern und das auch in der Verfassung verankert werden. Es war geplant, dass das Gremium „Voice to Parliament“ das Parlament in allen Fragen beraten sollte, die die Indigenen direkt betreffen. Indigene Menschen, die seit mehr als 60.000 Jahren auf dem Kontinent leben, machen nur etwa vier Prozent der Bevölkerung Australiens aus. Sie sind marginalisiert, erfahren Unterdrückung und Diskriminierung. Premier Anthony Albanese wollte ihnen ein klein wenig Anerkennung geben und rief die Bevölkerung auf, mit „Ja“ zu stimmen. Noch am Morgen der Abstimmung sagte er: „Ausgerechnet in dieser Woche, in der es so viel Hass in der Welt gibt, ist dies eine Gelegenheit für die Australier, Liebenswürdigkeit zu zeigen“. Doch die große Mehrheit entschied sich für Hass.

Sonntag, 15. Oktober

Das ZDF erklärte eben auf der Plattform die früher Twitter hieß, dass die aktuelle Folge des Podcasts „Lanz und Precht“ nachträglich geändert wird. Konkret soll eine Stelle herausgeschnitten werden, in der Richard David Precht unsäglichen antisemitischen Bullshit verbreitet hat. Warum sich die beiden Schmierlappen überhaupt über orthodoxes Judentum unterhielten, weiß ich nicht. (Ich denke es liegt daran, dass beide glauben zu jedem Thema der Welt Experten zu sein.) Jedenfalls sagte Precht, ihre Religion verbiete es orthodoxen Juden zu arbeiten, „ein paar Sachen, wie Diamanthandel und ein paar Finanzgeschäfte ausgenommen“. Der ZDF-Podcast landet regelmäßig in der Top10 der meistgehörten Podcasts in Deutschland. Der Sender benannte den Antisemitismus nicht, sondern bedauerte lediglich die Kritik daran: „Wir bedauern, dass eine Passage in der aktuellen Ausgabe von „Lanz & Precht“ Kritik ausgelöst hat. Wir haben die Passage aus der aktuellen Podcastfolge entfernt.“ Dafür gab es gleich die Aussicht auf mehr Blödsinn des TV-Philosophen. Das ZDF twitterte: „Lanz und Precht werden das Gesagte in Kürze aufarbeiten.“ Oh bitte nicht!

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