In Dresden demonstriert der starke Staat, auf wessen Seite er steht, in Hamburg sorgt ein Pimmel-Tweet für eine Hausdurchsuchung und Angela Merkel ist etwa so feministisch wie Jérôme Boateng. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW36
Montag, 6. September
Im Vergleich der Kanzlerkandidat*innen ist Annalena Baerbock mit Abstand am häufigsten Thema von Fakenews. Faktenprüfungen durch Correctiv und zwei Nachrichtenagenturen haben ergeben, dass 71 Prozent aller Fakenews auf Annalena Baerbock abzielen, 29 Prozent bezogen sich auf Armin Laschet, zu Olaf Scholz gab es keine Treffer. Nicht nur Die Grünen sind ein Feindbild der extremen Rechten, auch Frauen allgemein. Bei Annalena Baerbock kommen misogyne Angriffe und rechtsextreme Verschwörungserzählungen zusammen, wie der Volksverpetzer kürzlich sehr lesenswert zusammengetragen hat.
Dienstag, 7. September
In Bellenberg (Bayern) wurde eine 57-jährige Frau wurde vermutlich durch massive Gewalt gegen den Kopf getötet. Tatverdächtig ist ein 35-Jähriger. In welcher Beziehung der mutmaßliche Täter und das Opfer standen, ist noch unklar.
Ebenfalls am Dienstag wurde in Ahrensburg (Schleswig-Holstein) die Leiche einer 23-jährigen Frau in einer Flüchtlingsunterkunft gefunden. Laut Polizeiangaben wies die Getötete 28 Verletzungen auf, die dazu führten, dass die Frau verblutete. Tatverdächtig ist der 38-jährige Ehemann, der in einem Reisebus in Bayern festgenommen wurde.
Auf die wöchentliche Kolumne von Margarete Stokowski auf Spiegel Online habe ich hier ja schon häufiger hingewiesen. Ich mache es trotzdem heute wieder, weil sie auch dieses Mal wirklich lesenswert ist.
„Im Moment ist es so, dass Gendersternchen, Lastenräder und Currywurst im Wahlkampf bisher eine größere Rolle gespielt haben als die Morde von Halle und Hanau und wie man solche Taten verhindern kann. Oder die gestohlene Munition bei der Bundeswehr. Oder die hetzenden Chatgruppen bei der Polizei. Oder NSU und NSU 2.0.“
Margarete Stokowski in ihrer aktuellen SPON-Kolumne
Mittwoch, 8. September
Am Mittwoch trendete „Pimmelgate“ auf Twitter und dabei ging es nicht um das Thema unerwünschte Dickpics, sondern um eine Hausdurchsuchung bei einer Familie in Hamburg. Sechs Polizeikräfte waren am Mittwochmorgen um 6 Uhr in eine Wohnung eingedrungen, um technische Geräte zu beschlagnahmen, von denen aus möglicherweise ein beleidigender Tweet gegen Hamburgs SPD-Innensenator Andy Grote abgesetzt wurde. Aber der Reihe nach: Ende Mai hatte sich Andy Grote auf Twitter über feiernde Leute im Schanzenviertel aufgeregt. Ein Twitteruser hatte auf den Tweet geantwortet mit den Worten „du bist so 1 Pimmel“. Wer sich ein bisschen mit Social Media auskennt, wird wissen, dass eine derartige Beleidigung zu den eher harmlosen zählt. Nichtsdestotrotz kam es nun monatespäter zur Hausdurchsuchung beim mutmaßlichen Absender des Pimmel-Tweets. Der Verdacht liegt nahe, dass im Falle des beleidigten Innensenators andere Geschütze aufgefahren werden als bei Normalsterblichen im Internet. Grote selbst äußert sich dazu nicht, lässt lediglich verlautbaren, dass Beleidigungen und Hass im Netz ein ernsthaftes Problem sei. Ich fange besser gar nicht erst an, diese schamlose Verharmlosung von Digitaler Gewalt, der überwiegend Frauen und Marginalisierte ausgesetzt sind, auseinanderzunehmen, sonst habe ich am Ende auch eine Razzia am Hals.
Nochmal Mittwoch
Am Mittwoch begann der Prozess gegen Lina E. aus Leipzig. Lina ist eine 26-jährige Studentin und überzeugte Antifaschistin, die als Sündenbock in einem beispiellosen Schauprozess herhalten muss, damit die vermeintliche Gefahr des Linksextremismus demonstriert werden kann. Lina E. soll gemeinsam mit den anderen Angeklagten u.a. den Ex-NPDler Enrico B., den rechtsextremen Kampfsportler Cedric S., einen Kanalarbeiter, der eine Mütze mit Nazisymbol trug, eine Gruppe Neonazis nach einem Aufmarsch in Dresden sowie die Nazikneipe „Bull’s Eye“ in Eisenach und deren Gäste angegriffen haben. „Antifaschistische Handarbeit“ sagen die einen, „schwere, staatsgefährdende Straftaten“ sagen die anderen. Dass die Bundesanwaltschaft hier die Anklage übernommen hat, ist nichts anderes als eine Machtdemonstration eines Staates, der Rechts- und Linksextremismus nicht nur gleichsetzt, sondern ersteren konsequent verharmlost, verleugnet und verschleiert. Ein Staat, der den NSU gewähren ließ, der Hanau möglich machte, der nicht mal seine eigenen Leute (Walter Lübcke) zu schützen vermag. Ein Staat in dem die Meldungen über neuerliche Nazichats in Polizeikreisen aufgrund ihrer Häufigkeit nur noch eine Randnotiz sind und sich mit den Enthüllungen über Bundeswehrreservisten, die Wehrsportgruppen gründen, abwechseln. Ein Staat, in dem fast 500 Neonazis untergetaucht sind und per Haftbefehl gesucht werden. Ein Staat, in dem im vergangenen Jahr 1.200 Rechtsextreme legal Waffen besitzen (35% mehr als noch 2019). Dieser Staat klagt jetzt eine nichtvorbestrafte 26-jährige Studentin an, weil sie ein paar Nazis vermöbelt haben soll. Versteht mich nicht falsch. Auch Nazis haben ein Recht auf körperliche Unversehrtheit. In unserem Rechtsstaat dürfen auch sie Anzeige wegen Körperverletzung erstatten und haben ein Recht auf einen fairen Prozess. Sie haben aber nicht das Recht darauf, dass die Bundesanwaltschaft ihren Fall übernimmt, weil diese die Taten als staatsgefährdend ansieht. Hier geht es um so viel mehr als die Feststellung von Schuld in einer Schlägerei. Hier geht es um die Warnung an alle Antifaschist*innen im Land. Hier zeigt der starke Staat, auf wessen Seite er im Zweifelsfall steht. Wir Antifaschist*innen sollten es uns nicht zu gemütlich machen im Rechtsstaat, wir sind in ihm nicht sicher.
Donnerstag, 9. September
Am Donnerstag saß Angela Merkel in Düsseldorf auf einem Podium mit Chimamanda Ngozi Adichie, der nigerianischen Bestsellerautorin, die ich wegen ihrer transexklusiven Aussagen hier kritisiert habe. Die Medien überschlugen sich ob des ungewöhnlichen Auftritts der Noch-Kanzlerin mitten im Wahlkampf. Vor allem aber machte eine Aussage Merkels Schlagzeilen, in der sie sich etwas herumdrucksend als Feministin „outete“. Die Schlagzeilen: „Ja, ich bin Feministin“, Angela Merkel: „Wir sollten alle Feministen sein“, Merkels Feminismus-Bekenntnis. Alle so begeistert, weil Angela Merkel nach 16 Jahren ganz und gar unfeministischer Kanzlerinnenschaft gesagt hat: „in diesem Sinne, kann ich heute bejahend sagen: dann bin ich Feministin“. Sie meinte übrigens in dem Sinne, dass Frauen und Männer im Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabe gleichgestellt sind. Wow! Echter Mindblow, Angie! Ihr seht: ich bin nicht beeindruckt. Weil ganz ehrlich?! Das ist ja wohl das mindeste, dass eine Kanzlerin am Ende ihrer Amtszeit dieses Lippenbekenntnis abgibt. Inzwischen haben selbst Autokonzerne die Vermarktbarkeit des liberalen Feminismusbegriffs für sich erkannt. Entscheidend ist nicht, ob sich jemand als Feminist*in bezeichnet, sondern ob jemand feministisch handelt. Wir können nicht „Feminist*in“ sein, ohne feministisch zu handeln. Feminismus ist politische Praxis. Merkels politische Praxis ist unfeministisch, teilweise antifeministisch. Merkels „Bekenntnis“ ist letztlich eine kalkulierte Unterstützung des aktuellen CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet. Ich schätze, Angela Merkel soll Wählerinnenstimmen für die CDU generieren, denn bei Frauen ist Armin Laschet vermutlich noch unbeliebter als bei Männern.
Freitag, 10. September
Jérôme Boateng ist leider so etwas wie ein Dauergast in meinen Wochenrückblicken. Der Multimillionär und Ex-Nationalspieler wurde am Donnerstag wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Beleidigung zu einer Geldstrafe in Höhe von 1,8 Millionen Euro verurteilt worden. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Fußballer seine Freundin und Mutter seiner Töchter schwer misshandelt hat. Laut Anklage soll Boateng die Frau geschlagen, geboxt, ihr in den Kopf gebissen, sie auf den Boden geschleudert und dabei heftig beleidigt haben. Außerdem soll in voller Wucht eine Glaslaterne und eine Kühltasche auf sie geworfen haben (taz). Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Samstag, 11. September
In Berlin fand am Samstag eine Großdemonstration gegen zu hohe Mieten statt. Die geschätzte Zahl der Teilnehmenden schwankt zwischen 7.000 und 20.000. Die Wohnungspolitik ist meiner Meinung nach eines der drängendsten Probleme unserer Zeit und es ist so wichtig, dass die Berliner*innen am 26. September beim Volksentscheid mit „Ja“ stimmen, um 240.000 Wohnungen von profitorientierten Großkonzernen (wie „Deutsche Wohnen“, „Vonovia“ und „Akelius“) zu vergesellschaften. Wohnen ist ein Menschenrecht und wir müssen uns endlich dagegen wehren, dass mit diesem Grundrecht Profit gemacht wird. Die Forderung nach bezahlbarem Wohnraum ist eine grundfeministische. Denn insbesondere Frauen, trans und nicht-binäre Menschen sind von Verdrängung und (Alters-)Armut betroffen. Menschen brauchen die Sicherheit, sich auch in Zukunft noch eine saubere und trockene Bleibe leisten zu können. Dass Wohnraum inzwischen zum beliebten Spekulationsobjekt geworden ist und die Gewinne nicht selten fetter ausfallen, wenn die Wohnungen leer stehen, statt vermietet zu werden, folgt einer rein marktkapitalistischen Logik, in der menschliche Bedürfnisse nur dann zählen, wenn sie sich auf die Vermehrung von Profiten und Vermögen beziehen. Ich hoffe, alle wahlberechtigten Berliner*innen stimmen für die Enteignung und dass die Wahlentscheidung meiner Leser*innen grundsätzlich solidarisch mit Mieter*innen getroffen wird.
Sonntag, 12. September
Apropos Wahlentscheidung. Heute Abend wird wieder einmal das „Triell“ aufgeführt, also die Wahlkampfpolitische Arena zwischen Liberalos, die sich am Ende wahrscheinlich auf eine Koalition miteinander einigen können. Ich werde es mir nicht anschauen, denn ich habe Besseres zu tun, als beim Austausch vorbereiteter Floskeln zuzuhören. Ruft mich, wenn die Bewerber*innen zu ihren Plänen bezüglich der Bekämpfung rassistischer Gewalt, der Entnazifizierung der Polizei oder der Gesundheitsversorgung für trans Personen befragt werden, dann schalte ich vielleicht doch noch ein. Ansonsten frage ich mich weiter, ob die Leute, die wie selbstverständlich den Begriff „Triell“ benutzen, die gleichen sind, die sich über die „Sprachverhunzung“ durch Gendersternchen aufregen.