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Laura Nickel und Max Teske verlassen die Schule in Burg zum Ende des Schuljahres.

Bedrohung und Protest

Ein Freispruch in Rom sorgt für Empörung, Caster Semenya erringt einen wichtigen Erfolg, Sven Liebich muss in den Knast und an einer Brandenburger Schule gewinnt der Hass. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW28

Montag, 10. Juli

In Rom fällte ein Gericht ein unfassbares Urteil: Ein 66 Jahre alter Mann wurde freigesprochen, trotz eines unstrittigen sexualisierten Übergriffs auf eine 17-Jährige. Das Opfer berichtete: „Dann steckte er seine Hände in meine Hose und unter meinen Slip, betastete meinen Hintern und zog mich dann so hoch, dass mein Intimbereich schmerzte.“ Der Täter bestreitet das nicht, sagt aber es sei nur ein „Scherz“ gewesen und das Gericht kam zu dem Schluss, dass der Übergriff mit 5-10 Sekunden nicht lang genug gedauert hätte, um ihn zu verurteilen und er sei auch nicht in „lustvoller Absicht“ geschehen. Wer irgendeinen Zweifel daran hat, wie lang 10 Sekunden sind, möge sich bitte die Videos angucken, die seit dem Urteil unter #10secondi auf Social Media geteilt werden. Der Täter war zum Tatzeitpunkt im April letzten Jahres Hausmeister einer Schule, das Opfer Schülerin. Sie zeigte ihn an und ist nun fassungslos über das Urteil: „Das ist keine Gerechtigkeit. Ich fange an zu glauben, dass es falsch war, den Institutionen zu vertrauen, denn ich fühlte mich zweimal betrogen: zuerst in der Schule, wo das Geschehene passierte, und dann durch das Gericht.“ Sie wird in Berufung gehen. Der Täter kann seine Arbeit als Hausmeister an der Schule wieder aufnehmen.

Dienstag, 11. Juli

Die südafrikanische Athletin Caster Semenya hat einen wichtigen Erfolg im Kampf um ihre Rechte errungen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) urteilte am Dienstag, dass der Internationale Sportgerichtshof (CAS) und das Schweizer Bundesgericht die Rechte von Semenya verletzt haben. Der Leichtathletik Weltverband bezeichnet Caster Semenya als „biologisch männlichen Athleten mit weiblichen Geschlechtsidentitäten“. Ihr Testosteronwert ist aus Sicht des Verbandes zu hoch, um als Frau an den Rennen teilzunehmen, sie wurde ausgeschlossen. Das Schweizer Gericht hatte 2020 entschieden, dass diese Diskriminierung zulässig sei, da Caster Semenya einen „Vorteil“ gegenüber den anderen Athletinnen hätte und das wäre diesen gegenüber nicht fair. Sie dürfe nur dann an den Wettbewerben teilnehmen, wenn sie ihren Testosteronspiegel mit Medikamenten unter die erlaubte Höchstgrenze senkt. Dass diese Medikamente teilweise schwere Nebenwirkungen haben, interessiert den Weltverband offenbar nicht. Das ist nicht in Ordnung, befand der EGMR: Es sei ein schwerwiegender Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der zweifachen Olympiasiegerin. Es gebe ohnehin kaum Hinweise, dass Frauen mit erhöhtem Testosteronspiegel tatsächlich erhebliche Vorteile im 800 Meter Lauf hätten. Das Urteil des EGMR fiel knapp aus: Vier von sieben Richter*innen entschieden zugunsten von Caster Semenya. Das Schweizer Gericht muss ihr 60.000 Euro für Kosten und Ausgaben zahlen, wertvoller ist aber die Anerkennung ihrer verletzten Rechte. Die Sportlerin zeigte sich erleichtert über den Ausgang: „Ihr alle wisst, was für eine Reise das für mich war. Ich bin glücklich über den Ausgang des Urteils. Ich werde immer gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung jeglicher Art eintreten, insbesondere auf dem Spielfeld. Wir alle verdienen es, in einer Welt zu leben, in der wir frei sind, wir selbst zu sein“, schrieb sie einen Tag später auf Instagram. Doch ihr Kampf ist damit noch nicht zu Ende. Der EGMR bewertete nur das Urteil des Schweizer Bundesgerichts und hat keine direkte Auswirkung auf die Entscheidung des Weltverbands. Dieser erklärte nur wenige Stunden nach dem EGMR-Urteil: „Wir sind nach wie vor der Ansicht, dass die … Regeln ein notwendiges, vernünftiges und angemessenes Mittel sind, um den fairen Wettbewerb in der Frauenkategorie zu schützen, wie das Schiedsgericht des Sports und das Schweizerische Bundesgericht festgestellt haben“, und sagt damit nichts anderes: „Menschenrechte? Uns doch egal!“ Dass Caster Semenya, die inzwischen 32 Jahre alt ist, nächstes Jahr bei den Olympischen Spielen in Paris starten darf, ist äußerst unwahrscheinlich. Der Rechtsstreit wird sich weiter hinziehen.

https://twitter.com/julia__monro/status/1678789206938714117?s=20

Mittwoch, 12. Juli

Die Lehrer*innen Laura Nickel und Max Teske, die im April auf den rechtsextremen Normalzustand an einer Brandenburger Schule aufmerksam gemacht haben, verlassen die Grund- und Oberschule in Burg (Spreewald). Die Bedrohung durch Rechtsextreme und der mangelnde Rückhalt ließen die Lehrkräfte diese Entscheidung treffen. Einige Eltern hatten aktiv ihre Entlassung gefordert, da Nickel und Teske ihre „Ideologie“ an die Schule gebracht hätten. Am letzten Schultag tauchten im Umfeld der Schule Aufkleber mit den Gesichtern der beiden auf, mit der Aufschrift „‘pisst euch nach Berl*in“. Ein Instagram-Kanal postete ihr Foto mit dem Text „Jagd auf Max Teske und Laura Nickel“. Der Text, den Max Teske an seine 7. Klasse zum Abschied geschrieben hatte, wurde direkt in rechtsextremen Chatgruppen weiterverbreitet. Der Cottbuser AfD-Vorsitzende Jean-Pascal Hohm twitterte: „Bürgerliches Engagement wirkt: Linksradikaler Denunziant verlässt Burger Schule.“ Max Teske und Laura Nickel hatten zunächst anonym in einem offenen Brief die unerträgliche Normalität rechtsextremer Aussagen und Handlungen an der Schule angeprangert, von Hakenkreuz-Schmierereien über Hitlergrüße auf dem Schulhof bis zum Mobbing von den wenigen migrantisierten Schüler*innen. „Wir werden in unserem Arbeitsalltag als Schulpersonal täglich mit Rechtsextremismus, Sexismus und Homophobie konfrontiert“, schrieben die Lehrkräfte damals und beklagten „eine Mauer des Schweigens“ seitens der Schule.

Donnerstag, 13. Juli

Am Donnerstag zogen mehr als 100 Sexarbeiter*innen und Unterstützer*innen in einem Protestmarsch zum Justizministerium in Pretoria, Südafrika, und forderten die Entkriminalisierung der Sexarbeit. Auf ihren Plakaten war u.a. zu lesen „Seid weise, entkriminalisiert die Sexarbeit“, „Sexarbeiterinnen haben das Recht, frei von Gewalt zu sein“ und „Mein Körper ist meine Sache. Sexarbeit bezahlt meine Rechnungen“. Die Demonstrant*innen übergaben dem Büro von Justizminister Ronald Lamola ein Schreiben mit ihren Forderungen. Ihnen wurde eine Antwort innerhalb einer Woche versprochen. In Südafrika läuft der politische Streit um die Entkriminalisierung der Sexarbeit schon länger. Im Mai hatte das Justizministerium einen entsprechenden Gesetzentwurf des Parlaments mit Hinweisen auf Mängel zur Überarbeitung zurückgeschickt. Mmapaseka Steve Letsike vom South African National AIDS Council (SANAC) Civil Society Forum, erklärte: „Unsere Botschaft ist ganz klar: Die Regierung muss die Sexarbeit entkriminalisieren. Die Justizministerin hat sich dazu verpflichtet. Wir wollen nicht, dass dieser Prozess noch weiter verzögert wird.“ Katlego Rasebitse vom Sisonke National Sex Workers Movement, beklagte den mangelnden politischen Willen, die Sexarbeit zu entkriminalisieren: „Während wir warten, werden Sexarbeitende täglich ermordet und immer noch polizeilich verfolgt. Ihre körperliche Autonomie wird vom Staat kontrolliert, insbesondere bei Schwarzen Frauen. Sie sind die Hauptleidtragenden der Polizeibrutalität.“ Eine der Demonstrant*innen, Thoko Mokoena, ist seit mehr als 20 Jahren Sexarbeiterin und kann mit dem Geld nicht nur ihre drei Kinder, sondern auch ihre vier Geschwister, die arbeitslos sind, unterstützen. Sie erzählt: „Wir werden kriminalisiert und die Polizei quält uns. Ich bin in einem Polizeiwagen mit Pfefferspray besprüht worden, und eines Nachts haben sie mich mit kaltem Wasser übergossen.“ Auch im Gesundheitswesen erfährt sie Diskriminierung, sie sagt, dass „die Krankenschwestern eine bestimmte Haltung einnehmen, sobald man sich als Sexarbeiterin zu erkennen gibt“.

Auch am Donnerstag

ENDLICH! Sven Liebich muss in den Knast. Das Amtsgericht Halle verhängte am Donnerstag u.a. wegen Volksverhetzung eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Gegen den Rechtsextremisten, der früher der Neonnazi-Terrororganisation „Blood and Honour“ angehörte und seit den 1990ern einen Shop für Szene-Musik, -Kleidung und Propagandamaterial betreibt, liefen bereits hunderte Ermittlungsverfahren. Die meisten wurden ergebnislos eingestellt. Der sechsteilige ARD-Podcast von MDR und rbb „Extrem rechts – Der Hass-Händler und der Staat” zeichnet Liebichs Werdegang nach und beleuchtet das teilweise unglaubliche Nicht-Handeln von Staat und Justiz. In Halle veranstaltet Liebich seit Jahren wöchentliche Demonstrationen, damit ist nun (vorübergehend) hoffentlich Schluss. Das Bündnis „Halle gegen Rechts“ begrüßte das Urteil und bezeichnete es als „Erfolg in der juristischen Auseinandersetzung mit dem Neonazi“ und „ein Signal an die extreme Rechte, dass Hetze auch zu Haft führen kann“. Bündnis-Sprecher Valentin Hacken kritisiert aber das Verhalten der Staatsanwaltschaft, die viel zu lange alle Augen zudrückte und untätig blieb: „Der Neonazi wurde auch wegen Taten verurteilt, die nur vor Gericht gelandet sind, weil die Betroffenen sich gegen die Einstellung der Ermittlungen teils mit anwaltlicher Vertretung gewehrt haben“.

Freitag, 14. Juli

Nachdem am Mittwoch ein LKW-Fahrer in Stralsund Aktivist*innen der Letzten Generation angegriffen, bedroht und schließlich mit seinem LKW angefahren hatte (Video der Tat hier), solidarisierten sich immer mehr Menschen mit dem Täter. So twitterte bspw. der CDU-Landtagsabgeordnete Sven Rosomkiewicz aus Sachsen-Anhalt: „Nicht der LKW-Fahrer (Opfer!) gehört in den Knast, sondern die Chaoten (#Ökofetischisten), die unerlaubt in den Straßenverkehr eingreifen (Täter!). Opferschutz vor Täterschutz!“ Die rechtsextreme Wochenzeitung „Junge Freiheit“ richtete ein Spendenkonto für den Fahrer ein, der nach der Tat seinen Job verlor. Aber nicht nur rechtsaußen zeigte sich solidarisch mit dem Fahrer. Die „Ostsee Zeitung“ veröffentlichte am Freitag einen Artikel mit der Überschrift „‘König der Herzen‘: Politiker aus Stralsund sammeln Spenden für Lkw-Fahrer“ und die Leser*innen abstimmen. 26 Prozent stimmten für „Finde ich gut“ (Stand Sonntag, 11 Uhr). Die physische Gewalt gegen die Demonstrant*innen der „Letzten Generation“ wird immer massiver, in Bottrop wurde am Freitagmorgen eine Aktivistin an den Haaren von der Straße gezogen.

Ich fürchte, es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Gewalt tödlich endet. Natürlich wird es dann ein tragischer Einzelfall sein, die Verantwortung von Medien und populistischer Politik wird kein Thema sein. Als Josef Bachmann 1968 mit den Worten „Du dreckiges Kommunistenschwein!“ dreimal auf Rudi Dutschke geschossen hat, war dies die Folge monatelanger Hetze seitens der Springerpresse und anderen Medien. Die Gewalt gegen Aktivist*innen der Letzten Generation wird in ganz ähnlicher Weise aufgestachelt, wie der Hass auf die linke Studierendenbewegung in der zweiten Hälfte der 1960er.

Samstag, 15. Juli

Nachdem der Wissenschaftsrat am 7. Juli ein 150-seitiges Papier mit „Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Geschlechterforschung in Deutschland“ herausgegeben hatte, kocht die Debatte in den Redaktionen über. Während die FAZ findet „Gibt es nicht dringlichere Probleme an den Universitäten wie die Lehrerbildung oder die hohen Abbruchquoten in den MINT-Fächern?“, kommt im SPIEGEL die Professorin Margit Szöllösi-Janze zu Wort, die als Teil des Wissenschaftsrat das Gutachten verfasste. In einem am Samstag veröffentlichten Interview erklärt sie, wie wichtig ein interdisziplinärer Blick auf die Dimension Geschlecht ist und sie stellt fest: „Die deutsche Geschlechterforschung hinkt im internationalen Vergleich hinterher. Die USA, Kanada, Großbritannien, die Niederlande, Finnland und Schweden sind viel weiter als wir.“ Mit den Empfehlungen will der Wissenschaftsrat das Fach aus seiner Nische holen. Margit Szöllösi-Janze sagt: „Wir haben sehr sachlich nachgewiesen, dass die Geschlechterperspektive etwas Normales ist und bei näherer Betrachtung Teil fast jeder wissenschaftlichen Disziplin sein sollte.“ Der Wissenschaftsrat fordert im veröffentlichten Papier nachdrücklich den „verlässlichen Schutz von Forschenden und Studierenden durch die wissenschaftlichen Einrichtungen und sieht es auch als Aufgabe der Wissenschaftsgemeinschaft und als gesamtgesellschaftliche Aufgabe an, sich in dieser Debatte für den Schutz der Wissenschaftsfreiheit und den Schutz der Forschenden und Studierenden zu positionieren“. Margit Szöllösi-Janze verurteilt die Angriffe, denen das Fach, aber auch die Lehrenden und Studierenden immer wieder ausgesetzt sind: „Wir müssen uns als Gesellschaft bei aller Kontroverse mit Respekt behandeln. Universitäten und wissenschaftliche Einrichtungen haben sich in der Vergangenheit vor Angriffen in den sozialen Medien zu häufig weggeduckt.“

Sonntag, 16. Juli

Heute spielen Rammstein ihr zweites von insgesamt drei Konzerten mit jeweils rund 60.000 Zuschauer*innen im Berliner Olympiastadion. Am Samstag demonstrierten rund 300 Personen dagegen und forderten, der Band, deren Frontmann Till Lindemann Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt vorgeworfen wird, keine Bühne zu geben. Die Polizei sorgte für einen Sicherheitsabstand zwischen den Protestierenden und den Rammstein-Fans, die teils schon im Vorfeld durch aggressive Kommentare in den Sozialen Netzwerken Stimmung machten. Insgesamt lief alles weitgehend ungestört, sowohl der Protest als auch das Konzert, das im Tagesspiegel als „harmloses schlagerskes Metal-Pop-Musical mit viel Feuer und Konfetti, für ein Publikum, das gerne auch zu Helene Fischer schunkelt“ beschrieben wurde. Wir werden sehen, ob das heute Abend genauso läuft 😉

https://twitter.com/kinkalitzken/status/1680305348652007425?s=20

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