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In Gedenken an Selçuk Kiliç, 15 | Sabine S., 14, | Can Leyla, 14 | Sevda Dağ, 45 | Hüseyin Dayıcık, 17, Roberto Rafael, 15, Guiliano Kollmann, 19 | Armela Segashi, 14 | Dijamant Zabërgja, 20 (jeweils v.l.n.r.) die am 22. Juli 2016 aus rassistischen Gründen ermordet wurden. (Illustration von mir.)

Rassistische Realitäten

Mesut Özil ist ein Fascho und Till Lindemann nicht das einzige Problem bei Rammstein, in Berlin müssen sich Freibad-Besucher*innen ausweisen und in Nebraska muss eine 19-Jährige nach einer Abtreibung in Haft. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW29

Montag, 17. Juli

Während Rammstein drei Konzerte in vier Tagen im Berliner Olympiastadion spielte, veröffentlichten am Montag Süddeutsche Zeitung und NDR neue Vorwürfe gegen die Band. Nun ist nicht mehr allein Till Lindemann beschuldigt, sexualisierte Gewalt ausgeübt zu haben, sondern auch der Keyboarder der Band, Christian „Flake“ Lorenz. Eine heute 37-Jährige erzählte dem Rechercheteam von einer Dezembernacht im Jahr 2002, als sie „gerade 17 geworden“ war und von Bandmitgliedern in das Landhaus von Lorenz eingeladen wurde. Dort habe sie ihr wahres Alter verraten. Lindemann und Lorenz hätten ihr dennoch Alkohol gegeben und „etwas auf einer CD-Hülle angeboten, das sie für Koks gehalten habe“. Sie habe abgelehnt, sich jedoch kurze Zeit später sehr benommen gefühlt. „Mein Mund war staubtrocken, meine Zunge klebte am Gaumen“, wird sie im SZ-Artikel zitiert, sie sagt außerdem: „Ich weiß noch, dass ich mit Verwunderung feststellte, dass die Wände auf mich zusteuerten.“ Der knapp 20 Jahre ältere Keyboarder habe das Mädchen anschließend ins Bett gebracht. Obwohl sie „sturzbetrunken“ war, habe Lorenz sich zu ihr ins Bett gelegt und sie herumgedreht. Anschließend hätten sie „Sex gehabt“, obwohl die 17-Jährige dem nicht zugestimmt hätte. Sie sagt: „Ich weiß noch, dass ich mich geekelt habe, dass ich mich gefragt habe: Warum passiert das denn jetzt?“ Lorenz lässt diese (eidesstattlich versicherten) Aussagen über seinen Anwalt dementieren und auch die Schilderung einer weiteren Frau, bestreitet er: 1996, als sie 22 Jahre alt war, sei sie auf einer Party u.a. mit Lindemann, Lorenz und Rammstein-Schlagzeuger Christoph Schneider gewesen, bei der sie offenbar irgendwann das Bewusstsein verlor. Sie erzählt der SZ, dass sie morgens nackt auf dem Boden aufgewacht sei, „mit Flake neben mir“. Sie sagt, ihr Unterleib habe sich angefühlt, „als wäre er zerfetzt“ und „solche Schmerzen hatte ich vorher nie und nachher nie.“

Christian „Flake“ Lorenz hat in seinen autobiografischen Büchern („Tastenficker“ 2015 und „Heute hat die Welt Geburtstag“ 2027) von seinem Alkoholproblem, er schreibt z.B.: „Nüchtern erlebte ich nun mal kein sexuelles Abenteuer“ und „Wenn eine Frau überraschenderweise doch einmal nicht nein sagte, lag das größtenteils daran, dass sie noch betrunkener war als ich“. 2010 soll Lorenz nüchtern geworden sein, laut SZ weil seine Ehefrau mit Trennung gedroht habe. Eine Distanzierung seines früheren Verhaltens oder der Band hat (zumindest öffentlich) nicht stattgefunden.

https://twitter.com/JoLepp/status/1680822664267550720?s=20

Dienstag, 18. Juli

Die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, fordert die Überarbeitung des Gleichbehandlungsgesetzes. Am Dienstag erklärte sie: „Wir haben bisher eines der schwächsten Antidiskriminierungsgesetze in Europa.“ Die Änderungen sollen u.a. die schützenswerten Merkmale betreffen. Neben der Streichung des Begriffs „Rasse“ sollen auch die Diskriminierung aufgrund des sozialen Status, der Pflegetätigkeiten sowie die Staatsbürgerschaft verboten werden. Ataman fordert zudem, bessere Möglichkeiten, die im Gesetz festgeschriebenen Regeln auch durchzusetzen: „Das Erfordernis, eine Benachteiligung und Indizien nachzuweisen, sollte auf die Glaubhaftmachung herabgesenkt werden, das heißt, dass die überwiegende Wahrscheinlichkeit genügt“, heißt es in Atamans Vorschlag. Dies entspräche europäischem Recht und stehe so auch seit 2006 in der Gesetzesbegründung zum AGG. Für die BILD-Zeitung ist das jedoch: „Das Ende der Unschuldsvermutung in Deutschland! Und insbesondere die FDP macht nun Stimmung gegen Atamans Vorstoß. Katrin Helling-Plahr sagte: „Das Papier von Frau Ataman ist gesellschaftlicher Sprengstoff und sät Verunsicherung allerorten“ und der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion twitterte: „Mit solchen unausgegorenen Ideen schafft Frau #Ataman nicht mehr Schutz vor Diskriminierung, sondern mehr gesellschaftl. Spaltung.“ Für Ferda Ataman kommt die Kritik nicht überraschend: „Es gibt in Deutschland leider eine lange Tradition, Menschen mit Diskriminierungserfahrungen als Spinner darzustellen, die sich das nur einbilden“, sagte sie zum RedaktionsNetzwerk Deutschland. „Wer so redet, verharmlost Diskriminierung, die für viele Menschen existenzielle Folgen haben kann“. Sie erklärte: „Es bleibt weiterhin dabei, dass eine betroffene Person Tatsachen vorlegen und ein Gericht entscheiden muss, ob eine Diskriminierung stattgefunden hat. Ins Blaue hinein kann also niemand behaupten, diskriminiert worden zu sein und erfolgreich klagen“.

https://twitter.com/Lilischote/status/1682705500704591872?s=20

Mittwoch, 19. Juli

Die Berliner Bäder-Betriebe kontrollieren nun ohne Ausnahme die Personalien der Besucher*innen ab 14 Jahren von Strand- und Freibädern. Das berichtete der Tagesspiegel am Mittwoch. Nachdem übers Wochenende noch „Kulanz-Regelungen“ galten, würden ab sofort „keine Ausnahmen mehr“ zugelassen. Damit reagiert das Unternehmen auf die rassistisch motivierte Sommerloch-Kampagne, die gefühlt jedes Jahr aufs Neue ausgebreitet wird. Glaubt man Springerpresse und Co sind Berliner Freibäder Kriegsschauplätze, in die sich unbescholtene Bürger*innen nicht mehr hinein trauen. Die Realität ist natürlich eine andere (siehe bspw. hier), aber damit lässt sich einfach nicht so gut Stimmung machen. Stattdessen werden einzelne Fälle aufgebauscht und zum „Kulturkampf“ erhoben. Kriminalität und Massenschlägereien in Öffentlichen Bädern sind eine absolute Ausnahme, auch wenn uns von rechts gern anderes erzählt wird. Zum Glück hat sich der Faktenfinder der Tagesschau die Zahlen mal genauer angesehen und kommt zu dem Schluss: „In Berlin ist die Zahl der registrierten Straftaten in Schwimmbädern im Jahr 2022 im Vergleich zu den Jahren vor der Pandemie auf 285 gesunken. Im Jahr 2019 waren es noch 358, 2013 sogar 512. Auch die Zahl der registrierten Gewalttaten lag 2022 unter den Werten von 2019.“ Insgesamt 57 Gewalt- und Sexualdelikte wurden 2022 in Berliner Schwimmbädern registriert, bei mehr als sechs Millionen Besucher*innen jährlich. (Zum Oktoberfest gingen letztes Jahr 5,7 Millionen Menschen, Anzahl der Strafanzeigen: 967.) Statt dass über den Personalmangel bei den Bäder-Betrieben, die mangelnden Freizeitangebote für Jugendliche (es gibt z.B. viel zu wenig Schwimm- und Freibäder in Berlin!) und die Kürzungen im sozialen Bereich diskutiert wird, gibt es also auch diesen Sommer wieder rassistische Stereotype und mehr Polizei. Die Senatsinnenverwaltung plant nun mobile Polizeiwachen vor ausgewählten Freibädern. Natürlich vor allem da, wo migrantisierte Jugendliche ihre Sommerferien verbringen wollen.

Donnerstag, 20. Juli

Am Donnerstag wurde im US-Bundesstaat Nebraska eine inzwischen 19-Jährige zu 90 Tagen Gefängnis verurteilt, nachdem sie ihre Schwangerschaft mit Abtreibungspillen beendet hatte. Celeste B. war 17 als sie im April 2022 zum Beginn des letzten Trimesters abtrieb und die Überreste des Fötus gemeinsam mit ihrer Mutter vergrub. Der Prozess gegen die Mutter läuft noch, ihr drohen fünf Jahre Haft. Für die Anklage von Tochter und Mutter wurden u.a. Facebook-Nachrichten herangezogen, die die beiden ausgetauscht hatten. Entgegen anderslautenden Medienberichten (wie hier beim SPIEGEL) wurde Celeste B. nicht nach dem Abtreibungsgesetz von Nebraska verurteilt, sondern weil sie sich schuldig bekannte, den Fötus begraben zu haben („removing, abandoning, or concealing human skeletal remains“ ist eine Straftat in Nebraska).

In Deutschland hätten Celeste B. nach § 218 Abs. 3 StGB eine Geldstrafe und bis zu 12 Monate Haft, ihrer Mutter sogar eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren gedroht. Schwangerschaftsabbrüche sind auch hierzulande verboten und nur unter bestimmten Voraussetzungen straffrei.

https://twitter.com/Wurzelmann/status/1682281758241222657?s=20

Freitag, 21. Juli

Der 21. Juli ist der internationale Gedenktag für verstorbene Drogenabhängige. Im vergangenen Jahr sind 1.990 Menschen im Zusammenhang mit Drogenkonsum verstorben, das sind mehr als fünf pro Tag. Die Zahl ist im Vergleich zum Vorjahr um neun Prozent gestiegen und hat sich seit 2012 mehr als verdoppelt. „Die Verstorbenen sind nicht einfach anonyme ,Drogentote‘, sondern Menschen, die uns und anderen Menschen nahestanden – in der Familie, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz. Wir gedenken der Verstorbenen in Trauer, aber auch mit Wut, denn ihr Tod wäre durch eine fachgerechte Drogenpolitik vermeidbar gewesen. Gedenken bedeutet auch, alles dafür zu tun, dass sich solche Tragödien nicht täglich wiederholen!“, sagte Sylvia Urban vom Vorstand der Deutschen Aidshilfe (DAH). Die deutsche Drogenpolitik zeugt von Versagen auf ganzer Linie. Verbote und Kriminalisierung sorgen keineswegs für weniger Tote. Die Zahl illegaler Substanzen auf dem Markt steigt, häufig in gefährlicheren Zusammensetzungen. Und die Preise sinken. Die DAH fordert deshalb dringend den flächendeckenden Ausbau von Drugchecking-Angeboten. In Drogenkonsumräumen, in Clubs und bei Festivals – dort, wo die Substanzen auch konsumiert werden. Außerdem braucht es überall sichere Drogenkonsumräume, wo Menschen nicht nur Beratung finden, sondern auch sauberes Besteck zur Verfügung haben (um Infektionen mit HIV und Hepatitis C zu verhindern) und medizinische Notfallhilfe bei Überdosierung bereitsteht. Acht von 16 Bundesländern weigern sich bis heute, sichere Konsumorte einzurichten, darunter Bayern, Schleswig-Holstein, Thüringen und Sachsen.

Samstag, 22. Juli

Am Samstag war CSD in Berlin und ich habe hier oft genug darüber geschrieben, was ich von diesen durchkommerzialisierten Groß-Events halte. (Hier und hier zum Beispiel.) Eröffnet wurde die Berliner Pride Parade vom Regierenden Bürgermeister Kai Wegner, der so ziemlich für das exakte Gegenteil dessen steht, was ich unter queerer Befreiung verstehe.

Der 22. Juli ist der Gedenktag mehrerer rassistischer Attentate. Am 22. Juli 2011 zündete der rechtsextreme Anders B. zunächst eine Bombe in der Innenstadt von Oslo und tötete acht Menschen, bevor er auf der Insel Utøya 69 Menschen erschoss, überwiegend Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Auch zehn Jahre nach diesem grausamen Massenmord ist der Terror nicht vorbei. Überlebende des Anschlags berichten von Hassbotschaften und Drohungen, die sie bis heute erhielten. Ali Esbati, Überlebender und heute Abgeordneter der Linken, sagt jede*r Dritte der Überlebenden sei betroffen: „Es ist wirklich beängstigend, dass so viele damit konfrontiert wurden (…) Gleichzeitig ist es ein Grund dafür, dass ich so viel wie möglich darüber rede, dass diese Gedanken da draußen weiterleben und eine Gefahr sind für alle, auch an Tagen, wo sie nicht zum Massenmord führen.“

Möglicherweise als grausame Hommage an das Utøya-Massaker tötete fünf Jahre später, am 22. Juli 2016 der 18-jährige Schüler David S. neun Menschen im Münchner Olympia-Einkaufszentrum (OEZ). Die Opfer waren überwiegend Jugendliche und sahen für den Täter aus wie Menschen, die er für „K*naken“ und „Untermenschen“ hielt, einen „Virus“, den er auszurotten wollte. Es hat drei Jahre gedauert, bis dieser rassistische Terroranschlag nicht länger als „Amoklauf“ eines „gemobbten Jugendlichen“ entpolitisiert wurde. Das bayerische Innenministerium weigerte sich lange, die rechtsextreme Motivation des Terrors anzuerkennen.

Der dritte rassistische Anschlag vom 22. Juli der in der medialen Berichterstattung leider in Vergessenheit geraten ist, ereignete sich 2019 in Wächtersbach (Hessen). Der damals 26-jährige Bilal M. war auf dem Rückweg von der Berufsschule, als aus einem Auto heraus auf ihn geschossen wird. Der Täter: Roland K., Rassist, der aus seiner Gesinnung keinen Hehl machte. Kurz vor der Tat hatte der 55-Jährige in seinem Stammlokal angekündigt, was er vorhatte. Niemand rief die Polizei. Bilal M. überlebte schwerverletzt. Noch heute leidet er unter den Folgen der Tat. „Ich habe Rückenschmerzen, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Atemprobleme“, erzählte Bilal M. 2020 der Frankfurter Rundschau. Der 2012 aus Eritrea geflüchtete ehemalige Bäcker-Lehrling musste seine Ausbildung abbrechen. Unterstützung vom Staat gab es kaum. Wie die FR schreibt, erhielt er nur fünf Termine zur Gesprächstherapie, keine Reha, keine finanzielle Unterstützung. Ein Mitglied der Landesregierung hätte Bilal M. und seine Familie nach dem Attentat besucht, danach allerdings nichts mehr von sich hören lassen.

Sonntag, 23. Juli

Auf Twitter trendet heute „Özil“ und auch wenn das erfahrungsgemäß eine Menge rassistischer Ausfälle bedeutet, ist es wichtig zu wissen, dass der ehemalige deutsche Nationalspieler inzwischen keinen Hehl mehr um seine Nähe zu der faschistischen „Bozkurtlar“-Bewegung („Graue Wölfe“) macht. Der 34-Jährige likte auf Instagram einen Beitrag seines Fitnesstrainers Alper Aksaç auf dem Özil sein Oberkörper-Tattoo zeigt: Eine Flagge mit drei Halbmonden und einem heulenden Wolf – Symbole der türkischen Faschos. Özils Nähe zum türkischen Machthaber Erdoğan ist bekannt, auch dass er bei seinen Hochzeitsfeierlichkeiten ein nationalistisches Lied eines Faschisten spielte, „Ölürüm Türkiyem“ („ich sterbe für dich, meine Türkei“) von Mustafa Yıldızdoğan gilt als die Hymne der Rechtsextremen in der Türkei.  Die Autorin Ronya Othmann schrieb 2019 dazu in der taz, man müsse „sich einfach mal vorstellen, auf dem Polterabend von Bastian Schweinsteiger würde das Horst-Wessel-Lied gespielt.“ Dass es der deutschen Linken noch immer unfassbar schwer zu fallen scheint, türkischen Faschismus zu erkennen und zu bekämpfen, ist ein echtes Problem. Nicht nur werden bspw. Kurd*innen und Alevit*innen alleingelassen, die Ignoranz der überwiegend weißen Antifa sorgt auch dafür, dass sich die Rechtsextremen weiter professionalisieren, Mitglieder gewinnen, Räume nutzen und Aktionen planen. In Deutschland haben die „Grauen Wölfe“ schätzungsweise 18.000 Anhänger*innen. Ein Verbot dieser rechtsextremen, gewaltbereiten Gruppierung wird von der Bundesregierung bislang abgelehnt. Obwohl die verfassungsfeindliche Gruppe insbesondere in NRW versucht, auch politisch Einfluss zu nehmen. Mich wundert es nicht, war es doch insbesondere die CDU/CSU, die den türkischen Faschismus in Deutschland als „Gegengewicht“ zu kommunistischen / kurdischen Strömungen unter den sogenannten Gastarbeiter*innen aufbaute.

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