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Am Samstag demonstrierten 1.500 Menschen gegen Antifeminismus und Rechtsextremismus in Berlin-Marzahn. Foto: Kinkalitzken mit freundlicher Genehmigung.

Allein dieses Wir

In Marzahn demonstriert ein Häufchen Nazis gegen 1.500 Antifas, Merz zeigt erneut seine Frauenverachtung und in Paris fordert die motorisierte Gewalt ein nächstes Todesopfer. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW42

Montag, 14. Oktober

Martina Hefter hat für ihren Roman „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ den Deutschen Buchpreis bekommen. Ein toller Erfolg für die 59-jährige Schriftstellerin aus Leipzig, die viele aus der Branche nicht auf dem Zettel hatten. Bei der Preisverleihung im Frankfurter Römer sprang der ebenfalls nominierte Clemens Meyer auf und verließ fluchend den Saal. Es sei „Verrat an der Literatur“, dass sein Roman nicht gewonnen habe, und er beschimpfte die Jury als „Wichser“. So weit, so peinlich. Schlimmer als dieser alberne Ausbruch eines offensichtlich schlechten Verlierers ist aber die Rezeption in den Medien und Teilen der Branche. Meyer ist überall. Meyer, Meyer, Meyer. Während sich das Boulevard mehr für seine Rennpferde und seine Steuerschulden interessiert und für die Tatsache, dass der 47-Jährige das Preisgeld wohl bereits eingeplant hatte, um seine Scheidung zu finanzieren, schreibt das Feuilleton den kleinen Scheißer zum „verkannte Genie“ hoch, das um den Buchpreis betrogen worden sei. Hilmar Klute fand Meyers Auftritt „gut, erleichternd und erfrischend“, wie er in der Süddeutschen schreibt. Dem „Berserker und Megamalocher im Bergwerk der Sprache“ stellt er die „eher gefällige und literarisch wenig interessante Schloss-Bellevue-Belletristik“ gegenüber, für die er – Überraschung! – eine SchriftstellerIN als Beispiel nennt. Mara Delius, Herausgeberin der „Literarischen Welt“ belächelt Hefters Buch als einen „in der kleinen Welt des Privat-Familiären einrichtenden“ Gegenwartsroman, im Unterschied zu Meyers, der „die eine ganz große Form der Literatur“ sei. Der Buchhändler Felix Palent, der vor einigen Jahren die Berliner Traditionsbuchhandlung „Knesebeck Elf“ übernahm, fordert auf Instagram sogar: „Reißt die Aufkleber von anderen Büchern ab und klebt sie alle auf dieses Monument!“, womit er Meyers Roman meint. Die Auszeichnung von Martina Hefter nennt er die „krasseste aller schiefgegangenen Entscheidungen“ des Deutschen Buchpreises. Martina Hefter lässt sich die Freude über den Preis hoffentlich nicht nehmen.

Dienstag, 15. Oktober

In Paris hat am Dienstag ein 52-Jähriger in einem Mercedes-SUV einen 27 Jahre alten Fahrradfahrer getötet. Bilder einer Überwachungskamera zeigen, wie das Auto mit Vorder- und Hinterrad über den Körper des jüngeren Mannes fährt. Zuvor hatte es offenbar einen Streit gegeben. Wie der SPIEGEL unter Berufung auf Augenzeug*innen schreibt, sei der SUV-Fahrer, um im Stau schneller voranzukommen, circa 200 Meter auf dem Radweg gefahren und habe den Fahrradfahrer den Weg abgeschnitten und dabei „leicht am Fuß“ angefahren. Daraufhin habe der Radfahrer auf die Motorhaube geschlagen und es sei zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen, bevor der Autofahrer den 27-Jährigen überrollte, der noch am Tatort seinen Verletzungen erlag. Die minderjährige Tochter des Autofahrers sei ebenfalls im Wagen gewesen, berichten verschiedene Medien. Der SUV-Fahrer wurde wegen des Verdachts auf vorsätzliche Tötung festgenommen. Autofans in Deutschland geben der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo eine Mitschuld an dem Tod des jungen Mannes, weil sie sich für die Förderung des Fahrradverkehrs einsetzt und Radwege ausbaut. Der „Stern“ schreibt: „Die starke Zunahme des Radverkehrs in Paris führt regelmäßig zu chaotischen und gefährlichen Situationen“, und lässt es so wirken, als wären das Problem nicht viel mehr die Autos, die in Europa immer nur größer und schwerer werden. Ein in Europa gebautes Auto wiegt heute im Schnitt rund 250 Kilo mehr als noch vor 20 Jahren, etwa 1,5 Tonnen. Das lässt der „Stern“ hier weg und fährt stattdessen fort: „Verantwortlich sind auch die Radfahrenden selber, die Regeln missachten und mit riskanten Fahrmanövern versuchen, schneller vorwärtszukommen.“ Ohne zu bestreiten, dass es auch Arschlöcher auf zwei Rädern gibt, ist diese Form der Täter-Opfer-Umkehr einfach nur fahrlässig. Während sich PKW-Fahrer*innen im Stadtverkehr maximal Sorgen um ihren Lack machen müssen, geht es für Radfahrende um Leben und Tod. In Frankreich sterben jährlich hunderte Radfahrer*innen bei Unfällen, 2023 waren es 226 Menschen. In Deutschland wurden 446 Radfahrer*innen im Straßenverkehr getötet. Natürlich sind nicht immer andere Verkehrsteilnehmende direkt daran schuld, aber wer schon mal mit dem Rad im Straßenverkehr unterwegs war, weiß um die unzähligen gefährlichen Situationen, die durch Autofahrer*innen und/oder die PKW-zentrierte Gestaltung des öffentlichen Raums entstehen. Die Initiative RADKOMM nennt das Auto eine „situative Waffe“ und stellt fest: „Motorisierte Gewalt ist allgegenwärtig und doch merkwürdig unsichtbar. Sie versteckt sich hinter dem notwendigen Übel, dem Sachzwang, der Nützlichkeit, der Schönheit, der Wirtschaftskraft. Deswegen sehen wir sie nicht. Sie ist ein Sekundäreffekt der Autogesellschaft, von den Stadtstrukturen hin zum täglichen Umgang im öffentlichen Raum.“ Die motorisierte Gewalt ist das Ergebnis struktureller Gewalt, die eingebettetist in die Politik, die Rechtsprechung, die Stadtplanung, die Wirtschaft. RADKOMM sagt: „Wir haben die motorisierte Gewalt verinnerlicht. Wir verteidigen sie. Wir passen uns an. Weil es bequemer ist, auf Kampfradler*innen zu schimpfen, die verantwortungslos ohne Westen und Helm durch die Stadt fahren. Weil es bequemer ist, die Schuld auf die Opfer zu schieben. Weil es uns die Illusion gibt, die Lage im Griff zu haben, die richtigen Maßnahmen zu treffen, uns zu schützen. Obwohl wir alle schon Gewaltopfer sind in dem Moment, in dem wir in die von Autos dominierte Gesellschaft hineingeboren werden.“

Mittwoch, 16. Oktober

Dass Friedrich Merz ein mieser Antifeminist ist, muss ich euch vermutlich nicht erzählen, aber die Tatsache, dass er wahrscheinlich spätestens im kommenden September deutscher Bundeskanzler wird, macht ihn leider relevant genug, um ihn auch diese Woche mal wieder zu erwähnen. In der TV-Sendung „Frühstart“ von RTL / NTV erzählte er am Mittwoch, was er von einer paritätischen Besetzung der Ministeriumsposten hält: nichts. Er sei ja als Frauenförderer bekannt, aber eine Quote lehnt er ab, mit der Begründung, die Verteidigungsministerin sei „eine so krasse Fehlbesetzung“ gewesen. Und schiebt hinterher: „Wir tun damit auch den Frauen keinen Gefallen“. Allein dieses „Wir“ lässt soooooo tief blicken. Es macht „die Frauen“ zu den Anderen, der Abweichung, dem Sonderfall. Merz sagt nicht weniger als: Frauen haben prinzipiell erstmal kein Recht auf höchste politische Ämter, es sei denn, sie beweisen sich ihm und seinesgleichen. Gleichberechtigung? Gleichheitsgrundsatz im Grundgesetz? Nicht mit Friedrich „Oberchauvi“ Merz. Als einziges(!) Argument für seine Absage an gerechte Besetzung von Posten nutzt er den Rücktritt von Christine Lambrecht als Verteidigungsministerin, die zuvor (damals noch in einer CDU-geführten Regierung) bereits das Familien- und anschließend das Justizministerium geleitet hatte. Apropos Fehlbesetzung: Hat Friedrich Merz schon mal von Andreas Scheuer gehört oder von Jens Spahn? Wie um alles in der Welt kommt er darauf, dass das Scheitern Lambrechts als Verteidigungsministerin mit ihrem Geschlecht zu tun hat? Rhetorische Frage, wir alle kennen die Antwort: Misogynie.

Donnerstag, 17. Oktober

In Köln-Mühlheim hat am Donnerstag offenbar ein 53-Jährige seine 38 Jahre alte Ex-Partnerin getötet. Die Frau war am Nachmittag schwerverletzt aus dem Fenster ihrer Wohnung im vierten Stock gestürzt. Ob sie sprang oder gestoßen wurde, ist derzeit noch unklar. Den Ermittlungskräften zufolge hätte sie weder den Sturz noch die schweren Stichverletzungen überleben können. Kurz nach der Frau stürzte der Mann ebenfalls aus dem Fenster, er überlebte lebensbedrohlich verletzt und wurde notoperiert. Der mutmaßliche Täter wird verdächtigt, seine Ex-Partnerin getötet zu haben. Beide waren an der gleichen Adresse gemeldet. „Die Ermittler gehen derzeit von einer Beziehungstat nach Trennung der Verstorbenen von dem Beschuldigten aus“, teilte die Staatsanwaltschaft dem Kölner Stadtanzeiger mit und vermeidet wie üblich den Begriff Femizid, obwohl das offenbar genau das ist, was in Köln passierte. „Die Trennungssituation ist ein Risikofaktor für Femizide. Es passiert oft nicht sofort. Aber eine Trennung führt zu einem enormen Macht- und Kontrollverlust. Der Ex-Partner versucht das über massivere Gewalt zu kompensieren“, erklärte die Anwältin und Buchautorin Asha Hedayati im Mai im Interview mit der ZEIT. Sie sagt außerdem: „Häusliche Gewalt wurde lange als privates Problem gesehen. Wenn sie öffentlich wurde, wurde sie als Beziehungstat verharmlost. Häusliche Gewalt ist möglich, weil staatliche Institutionen sie nicht ernst nehmen. Das sieht man bei der Polizei, bei den Gerichten. Politisch werden nur Maßnahmen präsentiert, die sich angeblich gegen Gewalt richten, aber Frauen wenig schützen, wie Videoüberwachung im öffentlichen Raum. Der gefährlichste Ort für eine Frau ist immer noch das eigene Zuhause.“

Freitag, 18. Oktober

Der Bundestag verabschiedete am Freitag das sogenannte Sicherheitspaket, das u.a. „Leistungskürzungen für ausreisepflichtige Asylbewerber, mehr Kompetenzen der Sicherheitskräfte im Kampf gegen islamischen Extremismus und eine Verschärfung des Waffenrechts, vor allem mit Blick auf Messer“ vorsieht. Die Initiative „Notlage Menschlichkeit“ nennt es einen „pauschalen Generalverdacht gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund“, mit „massiven Einschnitten in Grundrechte aller“. Der Entwurf aus der Feder von SPD, Grünen und FDP stellt einen gefährlichen Paradigmenwechsel da – weg von der Universalität der Menschenrechte, hin zu Rassismus, Restriktion und Populismus. Der CDU/CSU gehen die Maßnahmen nicht weit genug und Kanzlerkandidat Friedrich Merz kündigte an, dass es mit ihm unbedingt auch grundgesetz- und europarechtswidrige Zurückweisungen an der Grenze geben würde. Im Bundesrat wurde das Gesetz noch am Abend überraschend gestoppt, wie es damit weitergeht ist derzeit unklar. Eine Wendung zum Positiven ist allerdings leider nicht zu erwarten.

Samstag, 19. Oktober

Weniger als hundert Nazis waren trotz bundesweiter Mobilisierung zur groß angekündigten Demo „Gegen Linkspropaganda und Lügen der Antifa“ nach Berlin-Marzahn gekommen, angemeldet waren 400. Organisiert wurde der Aufmarsch vom „Dritten Weg“ und den Neonazi-Gruppen „Jung und Stark“ sowie „Deutsche Jugend Voran“ (DJV), als Reaktion auf eine feministische Demo, die unter dem Motto „Patriarchat sterben lassen – Antifaschistisch kämpfen“ gegen Antifeminismus, Rassismus und Femizide Stellung bezog. Die Anmeldung im Bezirk Marzahn-Hellersdorf war eine ganz bewusste Entscheidung, um im Kiez Präsenz zu zeigen, in dem die AfD bei der Europawahl 25,3 Prozent der Stimmen erhielt. Viele der jungen Neonazi-Kader leben hier und immer wieder kommt es zu Angriffen auf linke oder queere Jugendliche und rassistischen Übergriffe auf Anwohner*innen. Die Nazis fassten die Präsenz der Antifa in „ihrer Homezone“ natürlich als Provokation auf und machten im Vorfeld auf Social Media Stimmung. Eine der Gruppen fantasierte auf Instagram von der „riesen Demo der Antifa“ und behauptete „Es wird eine der größten und ernstesten Demos!“ Typisches Maul-Aufreißen, man kennt’s. Trotzdem zeigt sich hier die Verschiebung, die seit einiger Zeit zu beobachten ist: Während bis vor wenigen Jahren grundsätzlich Linke die Gegendemonstrationen anmeldeten, um rechtsextreme Veranstaltungen nicht unwidersprochen zu lassen und im besten Fall zu blockieren, treten heute immer häufiger die Nazis als Gegendemo auf. Fast jeder CSD in Ostdeutschland wurde dieses Jahr von Naziaufmärschen begleitet. Gegendemos haben gerade unter jungen Leuten ein großes Mobilisierungspotential. Das martialische Auftreten, die Zurschaustellung rechter Männlichkeit, das Gefühl, die Mehrheitsgesellschaft maximal zu provozieren gepaart mit der Lust auf „Action“ und dem Wunsch nach Zugehörigkeit ziehen insbesondere junge Männer, immer mehr aber auch junge Frauen an. Während Naziaufmärsche „früher“ oft biedere, fast militärisch anmutende Prozessionen, häufig Schweige- oder Trauermärsche, waren, bei denen alte Männer was von damals erzählten und „die coolen Kids“ auf der anderen Seite der Bullenreihe standen, erinnern die heute verstärkt gewählten Aktionsformen mehr an Auswärtsfahrten von Fußballfans. Auch gestern war der hohe Anteil extrem junger Teilnehmer*innen der Nazidemo auffällig. Auf ihre Kosten kamen sie jedoch ganz augenscheinlich nicht, am Ende bestand die Demo aus nicht mal mehr 50 Personen. Die Antifa war mit ungefähr 1.500 Menschen vor Ort, ein starkes Zeichen, dass die Rechten sich auch weiterhin nicht sicher fühlen können in Berlin.

Sonntag, 20. Oktober

Verschiedene Medien berichteten heute über einen mutmaßlich vereitelten Anschlag auf die israelische Botschaft in Berlin. Ein 28-jähriger Mann aus Libyen wurde in Bernau bei Berlin festgenommen. Er soll Kontakte zum „Islamischen Staat“ haben. Der SPIEGEL veröffentlichte die Meldung am Vormittag und sprach von der „jüdischen Botschaft“. Während der Artikel auf der Website inzwischen korrigiert ist, ist der Post auf der Plattform „X“ nach wie vor unverändert online. Bei aller Bestürzung über einen womöglich geplanten Terroranschlag, darf so etwas nicht passieren. Gleichzeitig überrascht es kein bisschen, angesichts der seit Jahren (und seit einem Jahr verstärkten) vorherrschenden Agenda im deutschen Journalismus, Israel als ausschließlichen Repräsentant der Jüdinnen*Juden darzustellen, auch um jede Kritik an der Politik des Landes als „antisemitisch“ delegitimieren zu können.

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