Die Grünen wollen Paragraf 218 reformieren statt abschaffen, Nancy Faeser will Grenzkontrollen und Berlins Innensenatorin will Familien trennen. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW37
Montag, 9. September
Seit 1871 stellt der Paragraf 218 Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland grundsätzlich unter Strafe. Mit der Gründung der Bundesrepublik wurde der Paragraf nahezu unverändert ins Strafgesetzbuch übernommen. Es ist längst Zeit, ihn loszuwerden. Der Zugang zu sicheren Abtreibungen ist ein Menschenrecht und dennoch wird er in Deutschland beschränkt und kriminalisiert. Die aktuelle Bundesregierung hatte im Koalitionsvertrag angekündigt, Schwangerschaftsabbrüche „künftig außerhalb des Strafgesetzbuches“ regeln zu wollen. Am Montag machten die Grünen nun einen einigermaßen konkreten Vorschlag. In einem Fraktionsbeschluss erklärten sie: „Wir wollen Schwangerschaftsabbrüche bis zur 12. Woche legalisieren.“ Und wahrscheinlich hält sich die Partei damit sogar für progressiv. Die Forderungen der Grünen „§ 218 muss reformiert werden“ ist allerdings nichts wert: Schwangerschaftsabbrüche sind eine medizinische Grundversorgung und haben nichts im Strafrecht zu suchen. Das Angebot, sie bis zur 12. Woche zu legalisieren, sie darüber hinaus aber weiterhin als Straftat zu behandeln, ist liberale Heuchelei. Fakt ist, dass nur die ersatzlose Streichung des Paragrafen einen echten Fortschritt für die körperliche Selbstbestimmung bedeuten würde. Genau das fordert aktuell eine neue Kampagne: „Abtreibungen müssen in Deutschland legal werden – und zwar jetzt!“ 12 Wochen lang gibt es bundesweit zahlreiche Aktionen, die die Bundesregierung dazu bringen sollen, den Paragrafen 218 endlich zu streichen. Wenn ihr euch an den Aktionswochen beteiligen wollt, findet ihr hier mehr Infos. Und merkt euch schon mal den 7. Dezember vor, da wird es in Berlin und in Karlsruhe Großdemos geben.
Dienstag, 10. September
„@Bundeskanzler Scholz, welcome to the club!“, twitterte der faschistische Präsident Ungarns Viktor Orbán am Dienstag und gratulierte Deutschland zur Einführung von Grenzkontrollen. Die hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser einen Tag zuvor offiziell angekündigt. Schon kommende Woche soll es losgehen. Der Verstoß gegen das Schengen-Abkommen diene der „inneren Sicherheit“ und die wird aus Faeser Sicht eben von Leuten bedroht, die nicht so aussehen wie sie selbst. Die werden also künftig, zunächst begrenzt für die nächsten sechs Monate, „grenzpolizeilichen Maßnahmen“ unterzogen. Erst am Montag wurden die Ergebnisse einer neuen Studie zu Racial Profiling in der Polizei veröffentlicht: „Im Arbeitsalltag von Polizistinnen und Polizisten finden sich (…) zahlreiche Abläufe und Routinen, die rassistische Diskriminierung begünstigen“, so die zentrale Erkenntnis der Forschenden aus Niedersachsen. Faeser will aber nicht nur nicht-weiße Leute kontrollieren, sondern ihnen gegebenenfalls gleich die Einreise verweigern. Faeser, die Racial Profiling als „smarte Kontrollen“ verharmlost, kündigte an, die „Möglichkeit von Zurückweisungen nach Maßgabe des europäischen und nationalen Rechts“ zu nutzen. 71 Prozent der Deutschen sind einer aktuellen Umfrage zufolge für die direkte Zurückweisungen an der Grenze, völlig unabhängig von der Tatsache, dass solche Maßnahmen gegen das Europa- und das Völkerrecht verstoßen. 45 Prozent der Befragten befürworten sogar Grenzschließungen „voll und ganz“. Der Wind hat sich gedreht in Kaltland, 81 Prozent der Menschen wünschen sich mehr Abschiebungen, bei Menschen über 60 sind es ganze 95 Prozent. Ein interessanter Fakt dazu: „Ein Ost-West-Unterschied war bei den Antworten auf diese Frage nicht festzustellen.“ Alle die damals schrieben, wir würden uns noch die Merkel-Ära zurückwünschen, lagen offenbar richtig.
Mittwoch, 11. September
Mittwochnacht verletzte in Stralsund ein 42-jähriger Mann seinen aus Syrien stammenden Nachbar mit einer säurehaltigen Flüssigkeit. Die Staatsanwaltschaft geht von einem „überraschenden Angriff“ aus und sprach von „Heimtücke“. Die Tat verletzte das Opfer lebensbedrohlich, der schwerverletzte Mann wurde mit einem Rettungshubschrauber in die Klinik gebracht. Der mutmaßliche Täter wurde festgenommen, die Staatsanwaltschaft erließ Haftbefehl wegen versuchten Mordes aus möglicherweise rassistischer Motivation. Die Tat reiht sich ein in eine lange Liste von tagtäglichen rassistischen Attacken. 2023 zählte die Polizei 2.378 politisch motivierte Straftaten gegen Geflüchtete, fast doppelt so viele wie im Vorjahr. Es besteht ein klarer Zusammenhang zur rassistischen Rhetorik der selbsternannten Mitte. „Wenn Rechte im Parlament ‚Remigration‘ fordern und sogar Regierungsmitglieder Geflüchtete für alle möglichen gesellschaftlichen Probleme verantwortlich machen, Abschiebungen ‚im großen Stil‘ ankündigen oder Asylsuchende gar als Invasoren bezeichnen, wie in Großbritannien geschehen, fühlen Rassistinnen und Rassisten sich ermächtigt, auf Menschenjagd zu gehen und Geflüchtete zu terrorisieren“, sagt Clara Bünger, die für die Linken im Bundestag sitzt.
Donnerstag, 12. September
Im Bundestag wurde am Donnerstag über das sogenannte „Asyl- und Sicherheitspaket“ diskutiert. Vorgesehen ist eine ganze Reihe von Gesetzen, die sich gezielt gegen Geflüchtete, aber auch gegen andere Personen richten, die dem Staat ein Dorn im Auge sind. U.a. will die Bundesregierung Sozialleistungen für Schutzsuchende kürzen und für manche sogar gänzlich streichen. „Bett, Brot und Seife“ heißt das Prinzip, das Menschen gerade so am Leben erhalten, ihnen aber darüber hinaus keine menschenwürdige Existenz ermöglichen soll. Abschiebungen sollen erleichtert und häufiger umgesetzt werden. Die Polizei soll deutlich mehr Befugnisse erhalten und beispielsweise Gesichtserkennungssoftware einsetzen dürfen, also einen „biometrischen Abgleich mit öffentlich zugänglichen Daten aus dem Internet“ durchführen, um Menschen aufzuspüren. Eine Verletzung der „Privatsphäre der gesamten Bevölkerung“, warnt Amnesty International und der Chaos Computer Club sieht die „die Grundrechte von Millionen von Bürger:innen“ in Gefahr. Die Organisationen haben zusammen mit weiteren zivilgesellschaftlichen Gruppen eine gemeinsame Erklärung abgeben. „Die als Fortschrittskoalition angetretene Regierung bricht ihren Koalitionsvertrag, öffnet der Massenüberwachung Tür und Tor und untergräbt die Grundrechte besonders schutzbedürftiger Gruppen“, erklärte eine Sprecherin des digitalpolitischen Vereins D64. Nicht zuletzt bedeuten die ausgeweiteten Polizeibefugnisse eine Einschränkung der Demonstrationsfreiheit. „Auch das Recht auf Protest ist bedroht, wenn Menschen sich künftig fragen, ob Fotos von Demonstrationen mit Gesichtserkennung ausgewertet werden. Wir brauchen gerade jetzt eine aktive Zivilgesellschaft, die sich im wahrsten Sinne des Wortes traut, Gesicht zu zeigen – keine eingeschüchterte„, sagt Christian Mihr, stellvertretender Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland. Was die Ampel-Regierung vorbereitet, würde unter einer künftigen AfD-Regierung noch weitaus schlimmere Konsequenzen haben. Eine CCC-Sprecherin rief die Bundesregierung auf, „jegliche technischen Voraussetzungen zu verhindern, die früher oder später nicht nur zur Überwachung, sondern auch zur gezielten Unterdrückung genutzt werden können“.
In Berlin hat Innensenatorin Iris Spranger von der SPD unterdessen einen „Fünf-Punkte-Plan“ vorgestellt. Dieser sieht u.a. vor, Menschen, die Deutschland nicht haben will, noch leichter in Gefängnisse sperren zu können. „Wir werden prüfen, wie wir die gesetzlichen Möglichkeiten der Abschiebehaft und des Ausreisegewahrsams noch konsequenter nutzen können, wenn sich Ausreisepflichtige der Abschiebung entziehen“, erklärte Spranger. Außerdem will sie noch häufiger Familien auseinanderreißen: „Es ist nicht hinzunehmen, dass Abschiebungen daran scheitern, dass einzelne Familienmitglieder weggeschickt oder versteckt werden, um Abschiebungen von Familien zu vereiteln.“ Dass es noch immer Menschen gibt, die sich gegen die unmenschliche Politik regierender Rassist*innen einsetzen, ist der Senatorin ein Dorn im Auge. Entsprechend sieht ihr Plan hier auch eine Lösung vor: Organisationen, die versuchen, Abschiebungen zu verhindern oder bedrohte Menschen warnen, soll die Förderung entzogen werden. Irgendwas sagt mir, dass als nächstes ein Kopfgeld vorgeschlagen wird: Wer einen „ausreisepflichtigen“ Menschen aufspürt und bei den Behörden abliefert, kriegt eine Prämie oder so. Zynisch? Ja, mag sein, aber halt auch längst nicht mehr undenkbar.
Freitag, 13. September
Seit mehr als 30 Jahren lebt Robert Azirović in Deutschland. Er wurde 1993 in den Niederlanden geboren, wohin seine Eltern im Jugoslawienkrieg geflohen waren. Als Robert acht Monate alt war, kam die Familie nach Deutschland. Robert wuchs in einer Geflüchtetenunterkunft im Erzgebirge auf und zog später nach Chemnitz, wo er heute noch lebt. Alle paar Monate musste sich Robert A. bei den Behörden melden, denn als „Staatenloser“ war er in Deutschland lediglich geduldet, er erhielt weder eine dauerhafte Aufenthalts- noch eine Arbeitserlaubnis. Also engagierte er sich ehrenamtlich, u.a. bei den Grünen. Weil er für seinen Lebensunterhalt nicht arbeiten durfte, bekam er Sozialleistungen. 2019 wurde er wegen eines Drogendelikts zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, für Sachsen Ausländerbehörde bedeutete das ein „besonderes Abschiebeinteresse“. Im Juli wurde Robert A. bei einem seiner regelmäßigen Besuche dort überraschend festgenommen und zum Flughafen in Frankfurt am Main verschleppt. Dank des Engagements des Sächsischen Flüchtlingsrats und breiter Unterstützung aus der Zivilgesellschaft, konnte die Abschiebung nach Serbien zunächst gestoppt werden. Sachsen Innenminister kündigte an, einen Härtefall zu prüfen. Die zuständige Kommission verkündete am Freitag ihre Entscheidung: Es liege kein Härtefall vor – Robert soll abgeschoben werden. In ein Land, in dem er noch nie war. Die Härtefallkommission besteht aus neun Mitgliedern, von denen mindestens sechs sich für ein Bleiberecht hätten aussprechen müssen. Neben dem Sächsischen Flüchtlingsrat sitzen Vertreter*innen der Kirchen, der Freien Wohlfahrtspflege (wie bspw. die AWO), des Sächsischen Städte- und Gemeindetags und der Staatsregierung im Gremium. Es sind Menschen, die über das Leben eines Einzelnen beraten und am Ende entscheiden: den schieben wir ab. Unvorstellbar, aber leider Alltag in Deutschland. So wie Robert leben zehntausende Menschen mit dem Wissen, dass es jeden Moment so weit sein könnte und die Deportation vollzogen wird. Um die Anwaltskosten bezahlen zu können, ist Robert auf Spenden angewiesen. Hier könnt ihr etwas beitragen.
Samstag, 14. September
In Wismar fand am Samstag der erste CSD in der Geschichte statt. Rund 2.100 Menschen kamen nach Angaben des NDR in der Hansestadt zusammen, um für queere Sichtbarkeit und Menschenrechte zu demonstrieren. Wie in so vielen Städten zuvor kam es auch hier zu Störungen durch rechte Gruppen. Rund 200 Rechtsextreme versammelten sich in der Nähe des Bahnhofs und griffen einzelne CSD-Besucher*innen an. Der NDR spricht in klassischer Hufeisen-Manier von „gegenseitigen Beschimpfungen“. Auch nach Abschluss der Veranstaltungen kam es zu Übergriffen, im Regionalzug nach Rostock wurden queere Menschen von einer großen Gruppe Neonazis bedroht und beschimpft.
Sonntag, 15. September
In Eberswalde (Brandenburg) ist in der Nacht zu Sonntag aus bisher ungeklärter Ursache ein Brand in einem Döner-Imbiss ausgebrochen. Zwei Menschen, darunter ein Kind, sind im Feuer, das schnell auf das ganze Wohnhaus überging, ums Leben gekommen. Laut BILD-Zeitung handelt es sich um eine Mutter und ihrem Sohn, die erst kürzlich in das Haus gezogen seien. Das dreistöckige Haus sei vollständig ausgebrannt, teilte die Feuerwehr mit. Es ist noch vollkommen unklar, was passiert ist, dennoch ruft so eine Meldung in diesen Zeiten, in denen rassistische Hetze zum Mainstream geworden ist, schreckliche Befürchtungen hervor. Im Laufe der Woche wissen wir hoffentlich mehr.
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