Das Berliner Neutralitätsgesetz gerät ins Wanken. Das wurde auch Zeit, denn Religionsfreiheit und das Recht auf Selbstbestimmung müssen auch für Muslima gelten, egal ob mit Kopftuch oder ohne.
In Berlin dürfen Frauen, die ein Kopftuch* tragen nicht an öffentlichen Schulen unterrichten, das Neutralitätsgesetz verbietet das sichtbare Tragen religiöser Symbole. Dies diskriminiert in meinen Augen vor allem Muslima und Juden, denn weder Kopftuch noch Kippa lassen sich wie ein Kruzifix unter dem Hemdkragen verstecken. Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts bringt das umstrittene Gesetz nun ins Wanken.
Eine muslimische Diplom-Informatikerin hatte sich an einer Berliner Schule als Lehrerin beworben und hatte eine Absage erhalten, nachdem sie angab, ihr Kopftuch nicht ablegen zu wollen. Dagegen hatte sie geklagt und am Landesarbeitsgericht eine Entschädigung erstritten. Gestern hat das Bundesarbeitsgericht das Urteil bestätigt, die Frau sei wegen ihres Kopftuchs diskriminiert worden und das pauschale Kopftuchverbot verstoße gegen die in der Verfassung zugesicherte Religionsfreiheit.
Weiße Männer haben die Objektivität nicht gepachtet
Das Tragen von Kopftüchern in öffentlichen Ämtern ist immer wieder Thema vor Gericht und in den Medien. So urteilte das Bundesverfassungsgericht Ende Februar dieses Jahres, dass der Gesetzgeber einer muslimischen Rechtsreferendarin verbieten darf, im Gerichtssaal ein Kopftuch zu tragen.
Die Annahme, eine Frau könne weltanschaulich nicht neutral urteilen, wenn sie ein Kopftuch trägt, ist so unfassbar dumm und ignorant, dass es mir wirklich schwerfällt, hier sachliche Worte zu finden. Davon auszugehen, dass eine Frau mit Kopftuch pauschal nicht in der Lage ist, objektive Urteile zu fällen, trieft von antimuslimischen Rassismus und Misogynie. Hier liegt die übliche patriarchale Haltung zugrunde, die den weißen Mann als Normalzustand definiert, der per se als „neutral“ und „objektiv“ gilt. Jede Person, die von dieser Norm abweicht, muss zunächst auf den Grad ihrer Andersartigkeit abgeklopft werden, um zu prüfen, wie „professionell“ sie sein kann. Als wäre die Entscheidung, ein Kopftuch zu tragen, untrennbar und automatisch mit einer ganzen Reihe weiterer Haltungen verbunden, die unmöglich mit den freiheitlich-demokratischen Grundwerten vereinbar seien.
Das Individuum wird zum Beispiel
Regelmäßig entspinnt sich am Kopftuch eine erbitterte Grundsatzdebatte über Religionsfreiheit und Säkularität, Islam und Emanzipation, Selbstbestimmung und Unterdrückung. Das Kopftuch scheint für viele Menschen eine Art Einladung darzustellen, ihre persönliche (und häufig ganz und gar unreflektierte) Meinung herauszuposaunen. Es wirkt fast so, als verlöre die Frau das Recht auf körperliche Selbstbestimmung, wenn sie sich dafür entscheidet, ein Kopftuch zu tragen. Die Frau verschwindet unter dem Kopftuch, das Individuum wird zu einem Beispiel.
Die Diskussion über das Kopftuch wird häufig auf eine ekelhaft bevormundende Art und Weise geführt. Für die einen ist das Kopftuch das Symbol der patriarchalen Unterdrückung, für andere die Flagge der Islamisierung. Die einen „meinen es ja nur gut“, sie verstehen sich als Befreier*innen der Frau aus deren Opferstatus, als Anwält*innen der entrechteten Muslima, die im Islam als Tochter, Schwester oder Ehefrau von Männern beherrscht würde. Das Kopftuch sei ein Symbol der Unterdrückung, keine Frau würde sich freiwillig dafür entscheiden und wer ein Kopftuch trägt könne keine Feministin sein.
Für die anderen ist die kopftuchtragende Muslima eine Bedrohung des jüdisch-christlichen Abendlandes, eine Vertreterin des politischen Islams. Das Kopftuch wird in einem Atemzug mit Parallelgesellschaften, Zwangsheirat und Vielehe, mit Ehrenmorden und Terroranschlägen genannt. Manche glauben gar, Muslima in Deutschland würden für das Tragen des Unterdrückungssymbols von ausländischen Regierungen bezahlt.
Frauenkörper als öffentliches Gut
In dieser Debatte scheint wenig Raum für Differenzierungen. Das Individuum wird negiert, die persönliche Entscheidung einer Frau wird als ungültig markiert. An diesem Punkt ist die Debatte da angekommen, wo sie immer irgendwann landet, wenn es um Frauen und ihre Selbstbestimmung geht. Das Be- und Verurteilen von Frauenkörpern und deren Erscheinungsbild ist ein öffentliches Gut im Patriarchat. Egal, ob es um die Selbstbestimmung von (ungewollt) Schwangeren, das Kopftuch, die Rocklänge, zu viel oder zu wenig nackte Haut, zu dicke oder zu dünne Körperformen oder schönheitschirurgische Eingriffe geht: Die Gesellschaft hat eine Meinung und fühlt sich im Recht, diese pauschal zu äußern.
„Wir leben im Jahr 2017 und immer noch bestimmen andere Leute für Frauen, was sie anziehen sollten und was eben nicht – alles unter dem Deckmantel der ‚wahren‘ Freiheit natürlich“ schrieb Menerva Hammad 2017 auf Edition F. Es ist einer der verhältnismäßig seltenen Texte, in dem eine kopftuchtragende Muslima selbst zu Wort kommt. Menerva Hammad schreibt: „Jede Art von Zwang, vor allem dann, wenn es um den weiblichen Körper geht, muss bekämpft werden, das gilt auch für die Bevormundung durch Frauen, die White Privilege genießen und alle anderen bemuttern und zwangsretten wollen, weil sie ‚so etwas niemals freiwillig tragen/tun würden‘. Leiste deinen Teil doch anders, indem du nicht über ‚DIE‘ Muslima urteilst, weil du ein oder zwei Verse im Koran gelesen hast und dich dadurch in deiner Weiblichkeit attackiert gefühlt hast.“ **
Freiheit und Selbstbestimmung für alle
Feminismus bedeutet für mich, das Recht auf Selbstbestimmung für alle Frauen zu verteidigen. Mein Lebensentwurf sieht weder Ehe noch Kinderkriegen vor, trotzdem verurteile ich nicht die Frauen, die sich dafür entscheiden. Ich möchte keine Sexarbeiterin sein, dennoch gestehe ich es jeder Frau zu, dies als ihren Beruf zu wählen. Ich glaube an keinen Gott und habe keine Religion, aber es steht mir unter keinen Umständen zu, den Glauben einer anderen zu be- oder verurteilen. Wir alle haben unterschiedliche Vorstellungen von Freiheit. Als Feminist*innen sollten wir gemeinsam dafür kämpfen, dass Jede*r selbstbestimmt entscheiden kann, auch wenn uns die Entscheidung persönlich nicht gefällt.
* Ich verwende hier das deutsche Wort „Kopftuch“ als allgemeinen Ausdruck für das „Hidschāb“, das in zahlreichen Varianten und unter verschiedenen Bezeichnungen vorkommt. Ich kenne mich hier nicht gut genug aus und möchte die falsche Verwendung von Begriffen vermeiden.
** Ich setze mich hier mit der Bevormundung von Kopftuchtragenden Musliminnen auseinander. Die Debatte über patriarchale Strukturen im Islam, Queerfeindlichkeit oder andere problematische Aspekte sowie feministische Emanzipationsbewegungen innerhalb der islamischen Community soll damit nicht negiert werden. Ich empfehle dazu einen zwei Jahre alten Text von Dr. Reyhan Şahin in der taz.
Herzlichen Dank. Ich lerne bei jedem Deiner Artikel dazu.
Das freut mich sehr! Vielen lieben Dank für Deinen Kommentar 🙂
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