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Seenotrettung könnte in Deutschland bald bis zu zehn Jahre Knast bedeuten. (Foto: Canva)

„Schäbiger wird es nicht“

Die Ampel will Seenotrettung kriminalisieren, eine Kita in Sachsen-Anhalt will nicht mehr nach Anne Frank heißen, Textilarbeiter*innen in Bangladesch wollen mehr Geld und Jan Fleischhauer ist ein Rassist. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW45

Montag, 6. November

Am Montag wurde bekannt, dass eine Kindertagesstätte in Tangerhütte (Sachsen-Anhalt) nicht länger nach Anne Frank heißen soll. Die Leiterin der Kita sagte gegenüber der „Magdeburger Volksstimme“, die Geschichte Anne Franks sei für kleine Kinder schwer zu fassen und „Eltern mit Migrationshintergrund“ könnten nichts mit dem Namen anfangen: „Wir wollten etwas ohne politische Hintergründe.“ Ja klar, die 3,8 Prozent „Ausländeranteil“ sind schuld und ganz bestimmt nicht die 26,8 Prozent AfD-Wähler*innen in der Gemeinde. Wir befinden uns im Schnellzug zum Faschismus. Anders kann ich nicht erklären, was diese Woche alles passiert ist und gesagt wurde, ohne dass sich dagegen nennenswert Widerstand geregt hätte. Markus Söder forderte die Möglichkeit, Menschen den deutschen Pass zu entziehen, wenn sie „sich nicht zu unseren Werten und unserer Verfassung“ bekennen. Natürlich meint er damit nicht die Corona-Leugner*innen, PEGIDA-Demonstrant*innen oder seinen Vize Hubert Aiwanger, sondern Menschen, deren Vorfahren noch keinen deutschen Pass hatten. Lupenrein rassistisch. Menschen, die keinen Ariernachweis haben (ich bin mir sicher der deutschen Bürokratie würde dafür ein fancy neuer Name einfallen), sollen mit allen Mitteln dazu gebracht werden, sich in diesem Land so unwillkommen und unsicher wie möglich zu fühlen. War einst die deutsche Staatsbürgerschaft ein sicherer Hafen nach häufig jahrzehntelanger Angst vor Abschiebung, wird dieses Sicherheitsgefühl jetzt wieder genommen. Denn dafür ist es unerheblich, ob sich Söders rassistische Tagträume überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbaren ließen. Wenn der Bayerische Ministerpräsident, der regelmäßig als Kanzlerkandidat gehandelt wird, sowas sagt, dann wirkt es. Es wirkt in die gesamte Gesellschaft hinein und in die Herzen der Menschen. Auch die FDP beteiligt sich enthusiastisch am rassistischen Hetzmarathon. Der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Kubicki, fordert, eine Obergrenze von 25% Migrant*innen pro Stadtteil. „Wir müssen dazu beitragen, dass wir auch Viertel entflechten, dass wir die Residenzpflicht wieder einführen. Wir können nicht – wie in Frankreich – Banlieues sich entwickeln lassen, sondern müssen sagen: Ein Viertel einer Stadt darf nicht mehr als 25 Prozent Migrantenanteil haben, damit keine Parallelgesellschaften entstehen“, sagte der miese Hund Politiker zu Springers „Welt TV“.

Dienstag, 7. Oktober

Das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (Dezim) veröffentlichte am Dienstag erstmals den Bericht des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors. Die Ergebnisse zeigen das Ausmaß von Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen im Alltag, z.B. im Kontakt mit Ämtern, Polizei oder Banken, in der Freizeit, in Vereinen, in Restaurants oder im Nachtleben sowie in der Öffentlichkeit, auf der Straße, beim Einkaufen oder in den Öffis. Einen Schwerpunkt bildet das Gesundheitswesen und die Studie bestätigt die Erfahrungen vieler rassifizierter Menschen. „Die Wahrscheinlichkeit, dass mit einem Namen, der in Nigeria oder der Türkei verbreitet ist, eine positive Antwort auf ihre Terminanfrage bekommen, ist 6 bzw. 8 Prozentpunkte niedriger als bei Patient*innen mit einem in Deutschland verbreiteten Namen“, lautet ein Ergebnis. Menschen, die Rassismus erfahren, geben mehr als doppelt so oft wie der Rest der Bevölkerung an, im vergangenen Jahr medizinische Behandlungen verzögert oder vermieden zu haben, weil sie eine Schlechterbehandlung befürchten. Laut dem Arzt Nabard Faiz ist diese Sorge häufig leider berechtigt. Letztes Jahr erzählte er dem WDR von seiner Ausbilderin, die eine Patientin mit Hijab ohne Untersuchung nach Hause schicken wollte. Sie habe gesagt: „Du kennst doch diese Leute, die übertreiben etwas. Gib der ein moderates Schmerzmedikament.“ Faiz bestand auf einer Röntgenaufnahme und es stellte sich heraus: Die Frau hatte mehrfache Brüche und musste sogar operiert werden. Eine Dokumentation des NDR, die gerade veröffentlicht wurde, widmet sich dem Thema: „Schlecht behandelt? Rassismus in der Medizin“. Die 45 Minuten lohnen sich sehr, auch wenn es teilweise schwer auszuhalten ist, wie Menschen in Deutschland von Mediziner*innen und Pflegepersonal behandelt werden.

Auch am Dienstag

In Hannover-Vahrenwald tötete mutmaßlich ein 21-Jähriger eine gleichaltrige Frau mit einem Messer. Der Tatverdächtige soll in ihrer Wohnung mehrmals auf die Frau eingestochen haben, bevor sie auf die Straße fliehen konnte. Dort brach sie zusammen und starb. Der mutmaßliche Tätet wurde kurz darauf festgenommen, auch er war schwer verletzt, es ist noch unklar, ob er sich die Wunden selbst zugefügt hat. Die Polizei sprach von einem „eskalierten Beziehungsstreit“ und verharmlost damit mal wieder die tödliche Gewalt.

Ein weiterer Femizid ereignete sich einen Tag darauf, am Mittwoch, in Cloppenburg (Niedersachsen). Eine Frau, deren Alter die Polizei noch nicht bekannt gegeben hat, wurde in ihrem Wohnhaus gewaltsam getötet. In einer Halle in der Nähe des Tatorts fanden die Ermittler*innen kurz darauf einen Mann, der sich das Leben genommen hatte. Es soll sich um den Täter handeln.

Mittwoch, 8. November

Am Mittwoch berichtete u.a. die Süddeutsche Zeitung über die Pläne der Bundesregierung, die zivile Seenotrettung zu kriminalisieren. In Nancy Faesers „Rückführungsverbesserungsgesetz“ findet sich, ziemlich versteckt, eine Änderung von Paragraf 96 des Aufenthaltsgesetzes. Hier werden Strafen gegen sogenannte „Schleuser“ geregelt, also Fluchthelfer*innen, die von den Flüchtenden bezahlt werden. („Schleuser“ aus der DDR wurden und werden in der Bundesrepublik als Held*innen gefeiert, aber da waren die Fliehenden in aller Regel ja auch weiß.) Nach deutschem Recht konnte bislang nur bestraft werden, wer durch die Fluchthilfe „einen Vorteil erhält oder sich versprechen lässt“, doch das soll sich nun ändern. Nach griechischem und italienischem Vorbild will Deutschland künftig die kriminalisieren, die Menschen ohne Visum helfen, in die EU zu kommen, auch ohne Geld, aber „wiederholt oder zugunsten von mehreren Ausländern“. Initiativen der Seenotrettung, wie Mission Lifeline, Sea-Watch oder Sea Eye, müssen befürchten, für ihren humanitären Einsatz künftig mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft zu werden. „Der Vorschlag muss sofort zurückgenommen werden. Die Todeszahlen im Mittelmeer sind so hoch wie seit Jahren nicht, und das Innenministerium plant den massivsten Angriff auf zivile Seenotrettung seit unserem Bestehen. Beim Sterbenlassen gleichgültig zuschauen und zivile Rettung kriminalisieren, schäbiger wird es nicht“, sagt Oliver Kulikowski, Sprecher von Sea-Watch. Gemeinsam mit LeaveNoOneBehind, United4Rescue, SOS Humanity und der Seebrücke hat Sea-Watch eine Petition gestartet, um das Gesetz noch zu stoppen. Die Regierung hat es zwar bereits beschlossen, doch bevor es in Kraft tritt, muss noch durch den Bundestag. Hier könnt ihr mitzeichnen.

Donnerstag, 9. November

Während viele Deutsche lieber nur an den Mauerfall im Jahr 1989 denken würden, ist der 9. November auch das Datum, das als „Reichspogromnacht“ in die Geschichte eingegangen ist. Am 9. November 1938 brannten in Deutschland die Synagogen, Schlägertrupps zerstörten jüdische Geschäfte und andere Einrichtungen, brandschatzten und randalierten. Jüdinnen*Juden wurden misshandelt, getötet und verhaftet. „Spätestens nun konnte jeder in Deutschland sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord staatsoffiziell geworden waren“schreibt die Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb) und ergänzt: „Diese Nacht war das offizielle Signal zum größten Völkermord in der Geschichte“. 85 Jahre später haben Antisemitismus und Rassismus in Deutschland immer noch Konjunktur. Das Bundeskriminalamt verzeichnete seit dem 7. Oktober, dem Tag des Terroranschlags der Hamas auf Israel, eine „Welle antisemitischer Übergriffe“, mindestens 80 Fälle von Sachbeschädigung mit antisemitischem Bezug wurden gezählt, meldete die ARD am Donnerstag.  In Thüringen wurde am Donnerstag eine neue Wahlumfrage durchgeführt. Zehn Monate vor der Landtagswahl erreicht die AfD 34 Prozent, ist damit mit Abstand stärkste Kraft vor CDU (22%) und Linke (20%). In Sachsen, wo die AfD derzeit mit 32,5% der Stimmen rechnen kann (gefolgt von der CDU mit 28,5%), erlebte am Donnerstag die Reuters-Journalistin Riham Alkousaa die Auswirkungen des rassistischen Klimas im Land. Auf der Plattform, die früher Twitter hieß, erzählte sie: „Wir sind ein eingetragener Wanderverein in Deutschland, hauptsächlich Syrer*innen aus ganz Deutschland. Wir haben heute eine Wanderung in der Sächsischen Schweiz gemacht und als wir zu unserer Herberge zurückkamen, wartete die Polizei auf uns. Jemand hat die Polizei gerufen, weil eine Gruppe von Ausländern gesehen wurde, die als illegale Flüchtlinge gemeldet wurden!“ (Übersetzung von mir.)

Freitag, 10. November

Am Freitagabend wurde Jian Omar, Abgeordneter im Berliner Abgeordnetenhaus und Sprecher der Grünenfraktion für Migration, Partizipation, Flucht & Städtepartnerschaften, vor seinem Wahlkreisbüro in Moabit von einem Unbekannten mit einem Hammer angegriffen. Der Angreifer rief: „Du scheiß Ausländer, Leute wie Sie hat man früher in Gaskammer gesteckt“. Der Politiker berichtete darüber auf der Onlineplattform, die früher Twitter hieß. Die Polizei sei schnell vor Ort gewesen und habe aufgrund der politischen Motivation den Staatsschutz eingeschalter, so Omar. Laut Tagesspiegel bestätigte die Polizei den Einsatz bislang jedoch nicht.

Nochmal Freitag

Ebenfalls am Freitag wurde bekannt, dass auch das fünfte Opfer des Baustellenunglücks in der Hamburger Hafencity an seinen schweren Verletzungen gestorben ist. Ich hatte im letzten Wochenrückblick darüber berichtet. Die Leiche des Mannes wurde zu seiner Familie in Albanien überführt. Die Gewerkschaft IG BAU hat ein Spendenkonto für die Hinterbliebenen der verstorbenen Bauarbeiter eingerichtet:

GFW der IG BAU
IBAN: DE49 5005 0000 0000 6719 09
HELADEFFXXX
Stichwort „Bauunglück Hamburg HafenCity“

Samstag, 11. November

Jan Fleischhauer, der vor kurzem noch für das extrem rechte Onlineportal „NIUS“ arbeiten wollte, hat im Focus eine Kolumne veröffentlicht, die den tiefsitzenden Rassismus und Chauvinismus ihres Autors offenbart. „Die Juden oder die Aggro-Araber: Wir müssen uns entscheiden, wen wir halten wollen“, lautet die Überschrift. „Man kann den Titel so oder so verstehen. ‚Halten‘ tut man Haustiere. Oder offenbar Minderheiten. Und man ‚hält‘ sie aus. Unterhält sie. Zahlt Unterhalt. Als Fremde. Jede dieser Deutungen überschreitet die Grenze zum offenen Rassismus“, kommentierte Autor und Publizist Max Czollek auf Ex-Twitter. Fleischhauer sagt ganz offen, die „antisemitischen Troublemaker“, das sind Muslime, „aufgeregte junge Männer“, die nicht etwa auf einen Brunnen klettern, sondern ihn „besteigen, um ihre Flagge zu hissen“, die „der Bundesregierung ungehindert ins Gesicht lachen“. Nicht „Rechtsradikale“ sind beim Antisemitismus das Problem, sondern die „Aggro-Araber“ und ihre „Kumpane“, so Fleischhauer und er macht eindeutig klar: „Die“ gehören nicht zu „uns“. Max Czollek fasst es folgendermaßen zusammen: „Noch mal in Kurzform: wenn du sagst, dass Deutsche sich entscheiden sollten, ob sie ‚Juden‘ oder ‚Aggro-Araber‘ behalten, dann sagst du damit auch, dass beide Gruppen nicht zu den Deutschen dazugehören. Das ist dann gleichzeitige antisemitisch und rassistisch. Mazzel Tov.“

Auch am Samstag

Die Tagesschau berichtete über die Proteste der Textilarbeiter*innen in Bangladesch, die seit Wochen für höhere Löhne kämpfen. Drei Menschen wurden dabei inzwischen getötet, 150 Fabriken, wurden auf unbestimmte Zeit geschlossen. In Bangladesch gibt es ca. 3.500 solcher Fabriken, in denen vier Millionen Menschen arbeiten, die auch Kleidung für den deutschen Markt, bspw. von ALDI, H&M oder Gap produzieren. 85% des Exports des Landes sind Textilien. Die Arbeiter*innen fordern eine Anhebung des Mindestlohns auf umgerechnet mindestens 190 Euro pro Monat, also eine Verdreifachung des aktuellen Niveaus.

Sonntag, 12. November

Letzte Woche Sonntag habe ich über die Entführung einer Vierjährigen durch ihren Vater berichtet, der damit den Betrieb am Hamburger Flughafen zum Stillstand brachte. Heute ging ein – auf den ersten Blick zumindest – ähnlich klingender Fall in Brandenburg zu Ende. Im Brandenburgischen Ort Vieritz hatte sich ein schwer bewaffneter Mann fast 35 Stunden lang in seinem Haus verschanzt und mit einem Maschinengewehr nach draußen geschossen. Zunächst hielt der Mann auch sein Kind und vermutlich auch dessen Mutter als Geiseln. In der Nacht zu Samstag konnten Mutter und Kind fliehen. Als sie das Haus verließen, schoss der Tatverdächtige aus dem Inneren. Ein weiterer Mann aus dem Haus, der ebenfalls bewaffnet war, konnte von der Polizei überwältigt werden. Der „hochgradig aggressive“ Hausbewohner, der Medienberichten zufolge Anhänger der „Reichsbürger“ sein soll, wurde am frühen Sonntagmorgen schließlich tot aufgefunden. Ob er sich selbst das Leben nahm, oder von den Einsatzkräften erschossen wurde, ist noch unklar. Im Haus wurden zahlreiche Schusswaffen und weitere gefährliche Gegenstände gefunden, u.a. eine Handgranate. Losgegangen war als am Freitagnachmittag, als das Jugendamt wegen möglicher Kindeswohlgefährdung einen Beschluss des Amtsgerichts durchsetzen wollte: Der Mann habe sich geweigert, sein Kind in der Schule anzumelden.

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