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Solidarität mit Loujain al-Hathloul. Illustration und Foto von mir.

Neues Jahr, alte Themen

Das Jahr ging zu Ende mit guten Nachrichten aus Argentinien und schlechten von den Reporter*innen ohne Grenzen. Begonnen hat es mit Merz, was wahrscheinlich kein gutes Omen ist. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW53

Montag, 28. Dezember

Loujain al-Hathloul, eine der bekanntesten Feminist*innen Saudi-Arabiens, wurde zu fünf Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Medienberichten zufolge sah es das Gericht als erwiesen an, dass die 31-Jährige an einer Veränderung des politischen Systems und der Beschädigung der nationalen Sicherheit gearbeitet habe. Loujain al-Hathloul hatte sich dafür eingesetzt, dass Frauen den Führerschein machen dürfen und nicht länger einen männlichen Vormund haben müssen.

Die Bürgerrechtlerin wurde im Mai 2018 festgenommen und sitzt seitdem im Gefängnis. Weil ein Teil ihrer Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde, aus Rücksicht auf ihren Zustand, könnte sie im Februar oder März freigelassen werden.

Dienstag, 29. Dezember

Wie die „Reporter ohne Grenzen“ berichten, wurden im abgelaufenen Jahr weltweit mindestens 50 Journalist*innen getötet. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich kaum etwas gebessert. In der Jahresbilanz der Pressefreiheit 2020 heißt es, die „weitaus meisten von ihnen wurden gezielt ermordet, weil sie zu Themen wie Korruption, organisiertem Verbrechen oder Umweltzerstörung recherchierten (…) Mehrere wurden getötet, als sie über Demonstrationen berichteten.“

Im Beitrag der Tagesschau sagt der Geschäftsführer von „Reporter ohne Grenzen“, Christian Mihr: „Journalistinnen und Journalisten, die heute getötet werden, sind oftmals Investigativjournalisten (…) die Mächtigen, sei es in korrupten Regierungen, sei es in kriminellen Banden, gefährlich werden.“  

Mittwoch, 30. Dezember

Argentinien hat die Liberalisierung der strengen Abtreibungsgesetze beschlossen. In dem südamerikanischen Land waren Schwangerschaftsabbrüche bislang (mit wenigen Ausnahmen) verboten und wurden mit bis zu vier Jahren Gefängnis bestraft. Das neue Gesetz sieht eine Fristenlösung vor, die es Schwangeren ermöglicht, innerhalb der ersten 14 Schwangerschaftswochen eine Abtreibung vorzunehmen. Das ist ein Meilenstein in Lateinamerika, wo es bislang nur in Uruguay, Kuba und Guyana und in Mexiko-Stadt Fristenlösungen gibt.

Die Gießener Ärztin Kristina Hänel freute sich über die guten Nachrichten, wies aber auch darauf hin, dass es hierzulande nicht so gut aussieht für ungewollt Schwangere. Die Ärztin twitterte: „So, jetzt muss sich Deutschland langsam mal was einfallen lassen, wenn die katholisch geprägten Länder Irland und Argentinien Abtreibung legalisieren, als Kassenleistung behandeln und Regelungen zur Versorgung treffen.“

Donnerstag, 31. Dezember

Das Pest-Jahr 2020 ist endlich vorüber. Aber wie meine lieben Leser*innen wahrscheinlich längst wissen, ist ja nicht das Jahr an der ganzen Misere schuld, sondern der Kapitalismus. Denn die, die in diesem Hundesystem sowieso am meisten leiden, sind auch während der Pandemie am schlechtesten dran: Wohnungslose, Alleinerziehende, prekär Beschäftigte, Sexarbeiter*innen, psychisch Kranke, Menschen (meistens Frauen), die unbezahlte Care-Arbeit leisten, ausgebeutete Arbeiter*innen auf Spargelfeldern, bei Amazon, Lieferdiensten und so weiter. Was sonst so los war 2020 habe ich im zweiteiligen Jahresrückblick aufgeschrieben.

Januar – Juni

Juli – Dezember

Freitag, 1. Januar

Das vergangene Jahr hat uns gezeigt, dass der Kapitalismus nicht funktioniert, dass das aber viele Menschen auch nicht wirklich stört. Ich habe mir ein paar Gedanken dazu gemacht, was wir daraus lernen können und was wir 2021 besser machen müssen. Denn wie viele, blicke auch ich mit Hoffnung auf das neue Jahr.

2021 soll besser werden, uns entschädigen für das Vorjahr. Doch das wird kaum von selbst geschehen. Es liegt an uns, etwas zu verändern. Hier klicken zum weiterlesen.

Samstag, 2. Januar

Mit 2021 hat auch das Jahr der Bundestagswahl begonnen. Friedrich Merz bringt sich schon mal in Stellung, um alle anderen Kanzlerkandidaten rechts zu überholen.

Bereits am Neujahrstag hatte er gefordert, die Schulen schnellstmöglich zu öffnen: „Was mich am meisten beschwert, ist nicht der ökonomische Schaden durch den #Lockdown, sondern der massive Schaden in der Bildung unserer Kinder durch die geschlossenen #Schulen. Darunter leiden vor allem Kinder aus sozial schwachen Familien“, twitterte er.

Merz reproduziert damit nicht nur das klassenfeindliche Narrativ der „sozial Schwachen“, die sich nicht gut um ihre Kinder kümmern würden. Es schwingt immer eine Verachtung für die Armen mit, wenn von „sozial Schwachen“ die Rede ist. So auch bei Merz. Die begriffliche Nähe zu „Asozialen“ ist hier sicher kein Zufall. Dabei sind die damit Gemeinten nicht sozial, sondern finanziell schwach. Darüber hinaus macht Merz mit seiner Aussage klar, dass er die institutionalisierte Ungleichheit unseres Bildungssystem als eine unveränderliche Gegebenheit versteht bzw. darstellen möchte.

Ich will versuchen, das kurz auszuführen. Vermutlich unbeabsichtigt gibt Merz damit zu, dass die massiven Klassenunterschiede sich erheblich auf die Bildungsgerechtigkeit auswirken. Denn natürlich spielen einkommensabhängige Faktoren wie die Wohnungsgröße oder die technische Ausstattung für den Bildungserfolg eine Rolle. Insofern ist es richtig, dass Kinder aus ärmeren Elternhäusern oft schlechtere Lernbedingungen haben, als in einer Familie, in denen jedes Kind über ein eigenes Zimmer, einen PC und Nachhilfe per Skype verfügt. Doch diese Unterschiede bestehen grundsätzlich, nicht nur während Corona. Die Ungerechtigkeit existiert unabhängig davon, ob die Schulen geöffnet sind oder nicht. Wie verschiedene Studien belegen, hängt der Bildungserfolg von Kindern direkt mit dem finanziellen Status der Eltern zusammen. Das gilt auch ohne Pandemie.

Die Forderung, die Schulen schnellstmöglich zu öffnen, um die Benachteiligung ärmerer Kinder zu beenden ist also eine Verhöhnung der Tatsachen. Merz sieht die Verantwortung für den Bildungserfolg eines Kindes bei dessen Eltern, während es in Wahrheit Aufgabe des Staates ist, die Bildungsgerechtigkeit zu verbessern. Würde es Merz um Chancengleichheit gehen, hätte er bspw. fordern können, dass Kinder kostenlose Endgeräte für den Fernunterricht erhalten oder den Familien die Gebühren für den Internetanschluss erlassen werden. Er könnte sich grundsätzlich dafür einsetzen, dass Kinderarmut bekämpft wird, bspw. durch eine Kindergrundsicherung oder einer Erhöhung von Löhnen und Arbeitslosengeld.

Doch ich glaube, Merz will mit seiner Aussage etwas anderes ausdrücken. Indem er sagt, dass Kinder aus armen Familien besonders unter dem Lockdown leiden, erweckt er den Eindruck, die Lebensbedingungen dieser Kinder seien in ihrem häuslichen Umfeld grundsätzlich schlechter als in der schulischen Umgebung. Doch das ist so nicht richtig, denn erstens sagt der ökonomische Status der Eltern nichts darüber aus, ob das Kind in einer liebevollen Familie aufwächst, denn häusliche Gewalt trifft Kinder unabhängig ihrer Herkunft. Und zweitens erfahren arme Kinder in der Schule häufig Diskriminierung, auch durch Lehrer*innen. Grundsätzlich ist die Schule für viele Kinder alles andere als ein Ort der herzlichen Zuwendung und individuellen Förderung. Merz suggeriert mit seiner Aussage, Kinder aus „sozial schwachem“ Umfeld bräuchten die Schule, um dem vermeintlichen Elend zu Hause zu entkommen. Das ist ein Paradebeispiel für Klassismus.  

Aber Merz wäre nicht Merz, wenn er dem Klassismus nicht noch eine gute Portion Rassismus folgen lassen würde. Einen Tag nach seiner getwitterten Sorge um die Kinder, machte er klar, dass Geflüchtete unter seiner Kanzlerschaft keine Chance mehr auf Asyl in Deutschland hätten. „Dieser Weg ist nicht mehr geöffnet“, sagte er im Interview mit der Berliner Morgenpost. Er sprach sich für konsequente Abschiebungen aus, auch in Kriegs- und Krisenländer, und ergänzt: „Ich mache mir aber auch keine Illusionen: Wir werden bis auf weiteres nicht in dem Umfang abschieben können, wie das eigentlich notwendig wäre.“ Die komplette Abwesenheit jeglichen menschlichen Mitgefühls wird auch in seiner Haltung zur Seenotrettung deutlich, der er eine Absage erteilt: „Die klare Botschaft an die Flüchtlinge wie an die Schlepperorganisationen muss sein: Es ist lebensgefährlich, und es wird keinen Erfolg haben.“ Sollte es mit der Kanzlerkandidatur für die CDU nicht klappen, kann er es mit solchen Aussagen auch einfach nochmal bei der AfD versuchen, die nimmt ihn sicher mit Kusshand.

Sonntag, 3. Januar

Letzte Woche habe ich an dieser Stelle noch auf die Österreicher*innen geschimpft, die trotz hoher Infektionszahlen die Skigebiete stürmen. Hätte mir denken können, dass die Deutschen sich da in keiner Hinsicht vernünftiger oder solidarischer verhalten. Ob im Harz, Winterberg oder Willingen, Überfüllung, Verkehrschaos, Polizeieinsätze. Es wird mir angst und bange, wenn ich daran denke, dass hier an die gleiche Eigenverantwortung der Menschen appelliert wird wie bei der Bekämpfung des Klimawandels. Ich denke, wir sind verloren.

Apropos Klimawandel: Heute hat Greta Thunberg Geburtstag. Die schwedische Klimaaktivistin ist 18 Jahre alt geworden. Ein herzliches „Grattis på födelsedagen“ von mir.

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