In Hamburg gab es einen massiven Angriff auf die Demonstrationsfreiheit, in Georgia erschoss ein Kind vier Menschen, in Kiel wurde gegen Militarisierung demonstriert und in Belgien werden Arbeiter*innen kreativ. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW36
Montag, 2. September
Am Montag waren alle kurz entsetzt über die Ergebnisse der Landtagswahlen. Die Betroffenheit flacht dann schnell wieder ab, bis zur Brandenburg-Wahl in zwei Wochen, wenn alle wieder ganz entsetzt sind. Dass die Menschen nicht aus Frust oder Protest eine rechtsextreme Partei gewählt haben, sondern weil sie deren Antworten auf gefühlte(!) Probleme am besten finden, steht in den meisten Artikeln und Thinkpieces nicht. In Thüringen und Sachsen haben rund zwei Drittel der Wähler*innen Parteien gewählt, deren erste Antwort auf alles „Abschieben“ ist, die sich gegen geschlechtliche Vielfalt und sexuelle Selbstbestimmung aussprechen. Es wird Zeit anzuerkennen, dass der Faschismus eben gar nicht für alle „schlimm“ ist. Für viele in Deutschland ist er sogar recht attraktiv. Ich habe es hier schon letzte Woche geschrieben: Bist du deutsch, weiß, cis und hetero, rechts, Teil der bürgerlichen,, Mitte“ oder “unpolitisch, christlich oder konfessionslos, ohne Behinderung, mit festem Wohnsitz und mit einem deiner Geschlechterrolle entsprechenden Verhalten hast du gar nicht so viel zu befürchten. Wir tun immer so, als müsste das Label „Faschismus“ alle Menschen automatisch abschrecken. Das tut es aber nicht. Im Gegenteil. Die Antwort auf Faschismus ist Antifaschismus. Es ist tatsächlich so simpel. Die Antwort ist nicht – „wir müssen den Leuten zuhören und ihre Sorgen ernstnehmen“ oder „ich bin so schockiert, oh nein oh nein“. Die Antwort ist antifaschistischer Widerstand. Jede*r kann sich beteiligen, die mit den meisten Privilegien am leichtesten. Antifaschistischer Widerstand sind nicht nur Blockaden, Demos oder Sabotage. In jedem Leben gibt es verschiedene Möglichkeiten, antifaschistisch Widerstand zu leisten. Wenn ihr nicht wisst, wie, fangt an zu recherchieren. Schließt euch bestehenden Gruppen an, organisiert euch. Redet mit Arbeitskolleginnen, was ihr tun könnt. Hauptsache ihr tut mehr als nur „ich bin so schockiert“ ins Internet zu tippen.
Dienstag, 3. September
Das Hamburger Landgericht verurteilte am Dienstag zwei Menschen für eine Straftat, die sie nicht begangen haben. Eine 35-Jährige und ein 29-Jähriger wurden zu 90-Tagessätzen verurteilt, weil sie vor sieben Jahren im Rahmen der Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg Teil einer Gruppe waren, aus der heraus 14 Steine und 4 Böller Richtung Polizei geworfen wurden (ohne zu treffen). Der Demozug der linken Kapitalismusgegner*innen war damals am frühen Morgen vom Protestcamp losgezogen und wurde in der Straße Rodenbarg von zwei Polizeieinheiten gestoppt. Es kam zu massiver Polizeigewalt (14 Menschen wurden so schwer verletzt, dass sie ins Krankenhaus mussten) und 85 Festnahmen. Jetzt, sieben Jahre später, wurden die Angeklagten wegen Landfriedensbruch schuldig gesprochen sowie wegen Beihilfe zu versuchter gefährlicher Körperverletzung, tätlichem Angriff, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Sachbeschädigung. „Trotz der Tatsache, dass keine individuellen Straftaten nachgewiesen werden konnten, wurden die Angeklagten für ihre bloße Anwesenheit während der Proteste bestraft – ein beispielloser Angriff auf die Demonstrationsfreiheit“, erklärte der Bundesvorstand der Roten Hilfe in einer Pressemitteilung. Während des Prozesses seien weder die Polizeigewalt noch „beunruhigende Erkenntnisse über den Einsatz von V-Leuten während der Proteste“ thematisiert worden. „Diese Personen, die sich als Demonstrierende tarnten, könnten aktiv zur Eskalation beigetragen haben“, kritisiert die Rote Hilfe. Anja Sommerfeld aus dem Bundesvorstand sagt: „Das heutige Urteil im Rondenbarg-Verfahren ist ein weiterer Tiefpunkt in der Kriminalisierung von Protesten. Die Demonstrationsfreiheit wird durch solche Urteile massiv gefährdet. Wir fordern die sofortige Einstellung aller G20-Verfahren und stehen solidarisch mit allen, die von dieser Repression betroffen sind. Diese Urteile werden linken Protest nicht brechen – im Gegenteil, sie machen uns stärker. Denn: Solidarität bleibt unsere stärkste Waffe.“
Mittwoch, 4. September
Noch während über das hervorragende Abschneiden der AfD bei den Landtagswahlen diskutiert wird, kündigte Arbeitsminister Hubertus Heil von der SPD an, das Bürgergeld im kommenden Jahr nicht zu erhöhen und härtere Sanktionen einzuführen. Klar – gegen Radikalisierung hilft es sicher, den Menschen das Leben noch schwerer zu machen, als es ohnehin schon ist, wenn man vom Existenzminimum leben muss. Heil will damit ein Zeichen gegen „Sozialmissbrauch“ setzen. Sagt der, dessen Regierungskolleg*innen sich konsequent weigern, Sozialbetrüger*innen im großen Stil zu verfolgen, z.B. indem man sich die 30 Milliarden zurückholt, die dem Staat mit sogenannten „Cum-Cum-Geschäften“ verlorengegangen sind. (Details dazu im Wochenrückblick #KW34).
Die Konsequenz von Armenhass und Klassengesellschaft zeigte sich beispielhaft vor sieben Jahren in London, als 72 Menschen in einem Hochhaus verbrannten. Der “Grenfell Tower” war ein 24-stöckiger Sozialbau in North-Kensington, in dem in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni 2017 ein Brand ausbrach, der sich innerhalb kürzester Zeit ausbreitete. Der am Mittwoch veröffentlichte Untersuchungsbericht kam jetzt zu dem Schluss, dass die 72 Todesfälle allesamt vermeidbar waren. Sie seien „das Ergebnis jahrzehntelangen Versagens“ u.a. der Zentralregierung. Der SPIEGEL schreibt von einer „schier endlosen Kette von Fehlverhalten und Versagen bei Behörden und Unternehmen”, u.a. seien vor der Katastrophe „Brandschutzbestimmungen lax ausgelegt, Testergebnisse manipuliert oder falsch dargestellt und Warnungen in den Wind geschlagen worden”. Eine Tatsache, die in der Berichterstattung nur ganz selten auftaucht, ist dass 85 % der Menschen, die bei dem Brand ums Leben kamen, nicht weiß waren, die meisten stammten aus einkommensschwachen Arbeiterfamilien. Die Überlebenden und Angehörigen der Verstorbenen sind enttäuscht, dass es bis heute keine Konsequenzen für die Verantwortlichen gibt. Maria Jafari, deren Vater, Ali Yawar Jafari, im Grenfell Tower starb, erklärte nach Veröffentlichung des Abschlussberichts: „Sieben Jahre sind vergangen, und wir haben immer noch keine Gerechtigkeit, und wir müssen wieder kämpfen. Ich weiß nicht, wie viele Jahre es noch dauern wird, und niemand weiß, ob wir die Gerechtigkeit noch erleben werden.“ Hisam Choucair, der sechs Familienmitglieder verloren hat, nannte die Untersuchung einen „Witz“, die über Jahre Ressourcen bündelte, die es für die strafrechtlichen Ermittlungen gebraucht hätte. Er sagte: „Diese Untersuchung wurde uns aufgezwungen … Für mich als direktem Verwandten hat diese Untersuchung nichts gebracht. Im Gegenteil, sie hat die Gerechtigkeit, die meine Familie verdient, verzögert.“
Donnerstag, 5. September
Im US-Bundesstaat Georgia hat ein 14-Jähriger an einer Schule vier Menschen erschossen und mindestens neun weitere verletzt. Das Kind, das zynischerweise “Colt” heißt, wurde festgenommen und wird jetzt wegen Mordes an zwei Schülern und zwei Lehrkräften angeklagt. Der Vater des Jungen ist ebenfalls angeklagt, da er seinem Sohn die Waffe, ein halbautomatisches Gewehr im AR-15-Stil, letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt haben soll. Und das, nachdem es bereits Ermittlungen gegen den Jungen gegeben hatte. Er soll im Mai 2023 im Internet mit einem Amoklauf an einer Schule gedroht haben. Das Attentat war das 45. an einer US-Schule allein in diesem Jahr. Forderungen nach strengeren Waffengesetzen laufen seit Jahrzehnten ins Leere. Schätzungsweise drei Millionen Kinder in den USA werden jedes Jahr Zeuge einer Schießerei. Waffengewalt prägt das Leben dieser Kinder. Schusswaffen sind die häufigste Todesursache bei Kindern und Jugendlichen – ein Problem, das nur in den USA auftritt. Die Wahrscheinlichkeit, dass US-amerikanische Kinder im Alter von 5 bis 14 Jahren durch Schusswaffen getötet werden, ist 21-mal höher als in wirtschaftlich vergleichbaren Ländern. J.D. Vance, Trumps designierter Vizepräsident, findet das zwar schade, aber auch nicht zu ändern. Es sei ein „Fact of Life„, also eine Art Naturgesetz, dass Kinder in der Schule erschossen würden, etwas woran man sich gewöhnen müsse, denn “Psychos” wüssten, dass Schulen “weiche Ziele” seien, sagte er auf einer Wahlkampfveranstaltung in Arizona am Donnerstag. Es brauche eben mehr Security, um Täter am Eindringen in Schulgebäude zu hindern. Die Waffengesetze erwähnte Vance mit keinem Wort.
Auch am Donnerstag
In München wurde ein 18-jähriger Österreicher erschossen, der in der Nähe des israelischen Generalkonsulats und des NS-Dokumentationszentrums in München Schüsse abfeuerte. Dem bayerischen Innenministerium zufolge soll er möglicherweise vorgehabt haben, einen Anschlag auf das israelische Generalkonsulat zu verüben. Die Hintergründe müssten jedoch erst noch aufgeklärt werden. Gegen den 18-Jährigen sei in der Vergangenheit bereits wegen islamistischer Radikalisierung ermittelt worden. Der Vorfall ereignete sich am Jahrestag des Olympia-Attentats: Am 5. September 1972 hatten palästinensische Angreifer im Olympischen Dorf in München zwei Menschen erschossen und neun Geiseln genommen, die während eines dilettantischen Befreiungsversuchs der deutschen Polizei getötet wurden.
Freitag, 6. September
Ich habe heimlich gehofft, hier nicht mehr über den unsäglichen Luke Mockridge schreiben zu müssen, aber das war natürlich völlig naiv. Dieser Hundesohn hört leider einfach nicht auf, ekelhaft zu sein und mit seiner enormen Reichweite menschenfeindlichen Müll zu verbreiten. Am Freitag begannen verschiedene Personen mit Behinderung auf Instagram damit, darauf aufmerksam zu machen, dass Luke Mockridge sich im Podcast „Die Deutschen“ in menschenverachtender Weise über Sportler*innen mit Behinderung lustig macht. Unter anderem sagt er über die Paralympischen Spiele: „Es gibt Menschen ohne Beine und Arme, die wirft man in ein Becken – und wer als Letzter ertrinkt, der hat halt gewonnen.“ Natürlich ist das klassisches „Rage Baiting“, also kalkulierte Provokation, die genau die Empörung erwartet, die sie erhält. Denn das bringt Aufmerksamkeit und Reichweite. „Komiker“ wie Luke Mockridge wissen ganz genau, bei wem sie mit solchen Aussagen punkten und gerieren sich bei Widerspruch gern als Opfer der „Political Correctness“. Möglicherweise ist es diesmal jedoch etwas aus dem Ruder gelaufen, denn es berichtete nicht nur die Tagesschau über die diskriminierenden Sprüche des Mannes, dem vor drei Jahren von verschiedenen Frauen übergriffiges Verhalten vorgeworfen haben, sondern Mockridges Haus-Sender Sat1 kündigte an, die neue Show mit dem 35-Jährigen nicht auszustrahlen. Als Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn im Raum standen, stellte sich der Sender noch zu 100% hinter seine Cashcow. Nun ist Mockridge wohl zu weit gegangen. Sat1 will ihm Zeit geben „einen Weg“ zu finden, „seiner Entschuldigung Taten folgen zu lassen und das Thema (…) weiter aufzuarbeiten“.
Samstag, 7. September
Mehr als 1.000 Menschen demonstrierten am Samstag in Kiel gegen Krieg und Militarisierung. Die Demo bildete den Abschluss des sechstägigen Protestcamps „Rheinmetall entwaffnen“ im Werftpark in Kiel-Ellerbek. Die Aktivist*innen fordern „Widerstand gegen die neue Normalität von Aufrüstung, tausendfachen Tod, Flucht und Vertreibung“ und wollen „zusammen mit unterschiedlichen Gruppen und Bewegungen für eine gerechte, ökologische und feministische Welt kämpfen, uns internationalistisch vernetzen und die Kriegsindustrie konkret stören“. Neben Rheinmetall richteten sich die Aktionen gegen mehrere in der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt vertretenen Rüstungsunternehmen wie German Naval Yards und ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS), Ziel war „ihre Produktion von Kriegsgerät zu blockieren“. Dass das nicht funktioniert hat, lag auch an der massiven Polizeigewalt. Wie der NDR unter Berufung auf das Bündnis berichtet, wurden bei einer Demo in der Nacht zu Freitag drei Personen schwer und Dutzende weitere leicht verletzt. Eine Person sei aufgrund schwerer Verletzungen im Gesicht operiert worden. Die Polizei hatte zunächst behauptet, es sei eine „friedliche Demonstration ohne Verletzte“ gewesen. Auch bei der Abschlusskundgebung am Samstag ging die Polizei wieder brutal gegen die Protestierenden vor. „Auf der Demonstration gab es immer wieder willkürliche Polizeigewalt und wahllose Festnahmen“, erklärte das Bündnis in einer Pressemitteilung. Die Einsatzkräfte hätten sich „unter unwahren und fadenscheinigen Begründungen“ durch die Menschen geprügelt und dabei einige schwer verletzt, zitiert der NDR.
Sonntag, 8. September
Zum Abschluss noch ein Good-Practice-Beispiel im Arbeitskampf aus Belgien. In einem Audi-Werk in Brüssel, das vor der Schließung steht, haben Mitarbeiter*innen rund 200 Autoschlüssel gestohlen, sodass die Fahrzeuge das Werk nicht verlassen können. Mit diesem Faustpfand soll die Geschäftsführung dazu gebracht werden, „Klarheit in die Zukunft des Werkes in Brüssel zu bringen“, wie es bei der Tagesschau heißt. Rund 3.000 Menschen sind in dem Werk beschäftigt und aktuell bedroht, ihre Jobs zu verlieren. Die Werksleitung ist sauer und droht den Schlüsseldieb*innen mit einer Strafanzeige. Ich hoffe, die Belegschaft hält solidarisch zusammen gegen die Bosse.
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