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Der Pfefferhasi ist nicht begeistert. (Illustration von mir, Foto im Hintergrund via pexels.com)

Der Koalitionsvertrag analysiert

Der Koalitionsvertrag ist da. Die Ampel hat sich geeinigt. Wie ist der Koalitionsvertrag aus feministischer Perspektive zu bewerten? Ich will versuchen, auf die wesentlichen Punkte einzugehen, aber gleich vorweg: Es ist keine abschließende Analyse. Der Koalitionsvertrag hat 178 Seiten und behandelt so viele Themen, die alle für sich genommen interessant wären, durch die feministische Brille betrachtet zu werden. Versteht das Folgende also bitte nicht als umfassende Analyse, sondern als Anregung zur Auseinandersetzung. Den Koalitionsvertrag in voller Länge könnt ihr hier lesen.

Gerechtigkeit made by FDP

Der Koalitionsvertrag heißt „Mehr Fortschritt wagen“ und im Untertitel „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“. Fortschrittlich sind die Absichtserklärungen der zukünftigen Scholz-Regierung schon, aber auch nur im Vergleich zu 16 Jahren christdemokratischer Stagnation. Freiheit steht an erster Stelle und ich fürchte, es ist vor allem die Freiheit des Marktes, die gewinnen wird. Hartz-IV-Empfänger*innen sind es jedenfalls nicht, denn eine Erhöhung des Regelsatzes auf ein menschenwürdiges Niveau ist nicht vorgesehen. Wie „gerecht“ eine Politik sein kann, an der die FDP maßgeblich beteiligt ist, stelle ich hier mal zur Diskussion und „nachhaltig“ ist in einem politischen System, in dem kaum über eine Legislatur hinausgedacht wird, ohnehin nicht viel. Aber eins nach dem anderen:

Reproduktive Selbstbestimmung

Der Paragraf 219a Strafgesetzbuch wird gestrichen. Das ist richtig und wichtig, denn das sogenannte „Werbeverbot“ für Abtreibungen sorgt aktuell dafür, das Ärzt*innen, die Schwangerschaften abbrechen, darüber nicht auf ihrer Webseite aufklären dürfen. Was allerdings auch unter Rot-Gelb-Grün bestehen bleibt: Der Paragraf 218 StGB, der besagt, dass Abtreibungen verboten sind und nur unter bestimmten Voraussetzungen straffrei bleiben. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir setzen eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin ein, die Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches sowie Möglichkeiten zur Legalisierung der Eizellspende und der altruistischen Leihmutterschaft prüfen wird.“ Immerhin: es soll geprüft werden.

Selbstbestimmungsgesetz

Das „Transsexuellengesetz“ wird abgeschafft. Das ist so so so gut und wichtig. Aber es ist vor allem auch überfällig. Die künftige Bundesregierung verspricht ein „Selbstbestimmungsgesetz“, das „Änderungen des Geschlechtseintrags im Personenstand grundsätzlich per Selbstauskunft möglich macht“. Ich glaube es erst, wenn ich es sehe, aber ohne Mist, mir kommen wirklich Freudentränen der Hoffnung, während ich das hier aufschreibe. Die Ampel erklärt weiterhin, dass die „Kosten geschlechtsangleichender Behandlungen […] vollständig von der GKV übernommen“ werden müssen und sie will sicherstellen, dass intersexuelle Kinder geschützt werden. Für trans und inter Personen, „die aufgrund früherer Gesetzgebung von Körperverletzungen oder Zwangsscheidungen betroffen sind“, wird ein „Entschädigungsfonds“ eingerichtet.  

Queere Rechte

Für queere Menschen wird es unter der neuen Regierung tatsächlich ein paar Fortschritte geben. Der Koalitionsvertrag verspricht hier unter anderem:

  • „Geschlechtsspezifische und homosexuellenfeindliche Beweggründe werden wir in den Katalog der Strafzumessung des § 46 Abs. 2 StGB explizit“ aufgenommen.
  • Queerfeindliche Hassverbrechen sollen zukünftig von Polizei- und Sicherheitsbehörden erfasst werden.
  • Ein vollständiges Verbot „von Konversionsbehandlungen an Erwachsenen“ soll geprüft werden.
  • Ein ressortübergreifender Nationaler „Aktionsplan für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“ wird eingerichtet und „finanziell unterlegt“.
  • „Regenbogenfamilien“ werden „in der Familienpolitik stärker“ verankert.
  • „Das Blutspendeverbot für Männer, die Sex mit Männern haben, sowie für Trans-Personen“ wird abgeschafft, „nötigenfalls auch gesetzlich“.
  • Asylverfahren „für queere Verfolgte“ werden überprüft, ihre Unterbringung wird sicherer gemacht und es wird „eine besondere Rechtsberatung“ eingerichtet.

Dann gibt es noch die Absichtserklärung(!) „den Gleichbehandlungsartikel des Grundgesetzes (Artikel 3 Absatz 3 GG) um ein Verbot der Diskriminierung wegen sexueller Identität“ zu ergänzen „und den Begriff ‚Rasse‘ im Grundgesetz“ zu ersetzen.

Rassismus in der Polizei

Vielleicht gibt es unter der neuen Regierung eine Studie zu rassistischen Einstellungen bei der Polizei. Hierzu wird im Koalitionsvertrag zwar nicht aktiv etwas gesagt, aber es wird auf die „Institutionen des Staates“ verwiesen, die „in besonderer Verantwortung“ stünden, „an jeder Stelle fest und zweifelsfrei auf der Grundlage unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu agieren und jede Form der gruppenbezogenen Diskriminierung entschieden entgegenzutreten“. Dafür sei „Selbstkontrolle im Sinne von Supervision und Innerer Führung ebenso wichtig wie unabhängige wissenschaftliche Erkenntnisse über die innere Verfasstheit von Einrichtungen und ihren Beschäftigten“. Die Ampel erklärt: „Wir wollen entsprechende Studien fördern“. Na dann, mal sehen.

Legalisierung von Cannabis

Während mein 16-jähriges Ich über den Satz „Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein“ noch laut gejubelt hätte, sehe ich es heute etwas differenzierter. Dass es zukünftig deutsche „Coffee Shops“ geben wird, die sich für den Grasverkauf lizensieren lassen, ist nicht das, was mit „Legalize it“ gemeint war. Es ist zu befürchten, dass hier vor allem Cannabis als Absatzmarkt erkannt wurde und für profitgeile Start-Ups und Aktionär*innen kapitalisiert werden soll. Von Entkriminalisierung steht da nichts. Kleindealer*innen, die sich mit dem Verkauf von Gras und Hasch ihren Lebensunterhalt verdienten (oft auch deshalb, weil sie keinen Zugang zum legalen Arbeitsmarkt haben), werden natürlich nicht profitieren und ihr Geschäft vermutlich auf andere Substanzen verlegen müssen, um zu überleben.

Hartz IV heißt jetzt „Bürgergeld“

Überhaupt scheint sich die Situation für die Ärmsten in Deutschland nicht zu verbessern unter der sozialdemokratisch geführten Regierung. Das unmenschliche Hartz-IV-System bekommt einen neuen Namen („Bürgergeld“), die „Eingliederungsvereinbarung“ heißt jetzt „Teilhabevereinbarung“, Zuverdienstgrenzen werden angehoben und mindestens innerhalb der ersten sechs Monate Leistungsbezug soll es keine Sanktionen geben. Sarah-Lee Heinrich, Bundessprecherin der Grünen Jugend, twitterte: „Keine Erhöhung ist fatal, die Regelsätze sind unter dem Existenzminimum. Das hat nichts mit parteipolitischer Präferenz zu tun, das ist menschenunwürdig. Kann man nicht schönreden.“ Positiv hervorzuheben ist vor allem ein scheinbar kleiner Satz im Kapitel „Bürgergeld“, der es in sich hat: „Der Vermittlungsvorrang im SGB II wird abgeschafft.“ Das bedeutet, dass Menschen künftig nicht mehr zugunsten mieser Jobs aus Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen gekickt werden. Stattdessen wird mehr auf Fortbildung gesetzt und „vollqualifizierende Ausbildungen im Rahmen der beruflichen Weiterbildung unabhängig von Dauer und Grundkompetenzen“ gefördert.

Inklusion behinderter Menschen

Auch behinderte Menschen sollen unter der neuen Regierung stärker in den „allgemeinen Arbeitsmarkt“ integriert werden. Der gesetzliche Mindestlohn wird aber weiterhin nicht für Mitarbeiter*innen sogenannter „Werkstätten“ gelten. Aktuell verdienen Menschen wie Lukas Krämer, der jahrelang in einer „Werkstatt für behinderte Menschen“ (WfbM) sechseinhalb Stunden täglich Wasserhähne montiert hat, 1,35 Euro pro Stunde. Der Koalitionsvertrag verspricht: „Wir werden das Beteiligungsvorhaben zur Entwicklung eines transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystems in den WfbM […] fortsetzen und die Erkenntnisse umsetzen“. Lukas Krämer, der inzwischen nicht mehr in einer Werkstatt arbeitet, hat deshalb zum Streik aufgerufen. „Wir fordern Mindestlohn Macht blau bleib daheim geh nicht arbeiten. Ab den 01.12.2021. Das wird erst beendet wenn wir den Mindestlohn haben und die Politik endlich handelt“ fordert der 28-Jährige, dem auf Instagram mehr als 6.100 Menschen folgen.

Staatsbürgerschaftsrecht

Im Bereich Staatsbürgerschaftsrecht tut sich hingegen endlich was. Und vielleicht ist das tatsächlich der Punkt im Koalitionsvertrag, der beweist, dass es eben doch nicht völlig egal ist, ob uns die CDU regiert oder nicht. Die zukünftige Regierungskoalition verspricht, die Mehrfachstaatsangehörigkeit zu ermöglichen und „den Weg zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit“ zu vereinfachen. „Eine Einbürgerung soll in der Regel nach fünf Jahren möglich sein, bei besonderen Integrationsleistungen nach drei Jahren“. Kinder ausländischer Eltern, die in Deutschland geboren werden sollen mit ihrer Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, sofern ein Elternteil seit fünf Jahren „einen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat“. Außerdem wird zugesagt, für sogenannte Gastarbeiter*innen den Zugang zur Einbürgerung zu erleichtern, „in „Anerkennung ihrer Lebensleistung“. Dafür soll „für diese Gruppe das nachzuweisende Sprachniveau“ gesenkt werden und eine „allgemeine Härtefallregelung für den erforderlichen Sprachnachweis“ geschaffen werden.

Wahlrecht

Menschen, die in Deutschland leben, aber keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, werden weiterhin von den Wahlen ausgeschlossen. Für eine Änderung gibt es nicht einmal eine Absichtserklärung. Die gibt es nur für die Senkung des Wahlalters. „Wir wollen das Grundgesetz ändern, um das aktive Wahlalter für die Wahl zum Deutschen Bundestag auf 16 Jahre zu senken.“

Flucht und Asyl

Richtig eklig wird es im Koalitionsvertrag, wenn es um Geflüchtete und die EU-Außengrenzen geht. Der vielleicht schlimmste Satz der 178 Seiten lautet: „Nicht jeder Mensch, der zu uns kommt, kann bleiben. Wir starten eine Rückführungsoffensive, um Ausreisen konsequenter umzusetzen, insbesondere die Abschiebung von Straftätern und Gefährdern.“ Rückführungsoffensive ist ein schönes Wort für Massenabschiebungen. Auch die neue Regierung hält an der grausamen Praxis der Abschiebehaft fest, auch wenn sie Kindern gegenüber gnädig ist. Kinder und Jugendliche sollen „grundsätzlich nicht“ in Abschiebehaft genommen werden. Das SPD-geführte Innenministerium macht trotzdem da weiter, wo Seehofer aufgehört hat. Abschieben und abschotten. Dafür soll auch die Zusammenarbeit mit der „Grenzschutzagentur“ Frontex (auch bekannt für illegale Pushbacks und das Dulden von „Gewaltexzessen“) ausgebaut („weiterentwickelt“) werden, um „irreguläre Migration wirksam reduzieren“ zu können.

Bewaffnete Drohnen und feministische Außenpolitik

„Gemeinsam mit unseren Partnern wollen wir im Sinne einer Feminist Foreign Policy Rechte, Ressourcen und Repräsentanz von Frauen und Mädchen weltweit stärken und gesellschaftliche Diversität fördern“, heißt es im Kapitel zu Multilateralismus. Feministische Außenpolitik ist ein starkes Stichwort und ich hoffe sehr, dass es nicht bei der Worthülse bleibt. Richtig dran glauben kann ich aber nicht, wenn die künftige Regierung gleichzeitig erklärt, bewaffnete Drohnen anzuschaffen. Der Einsatz soll natürlich unter Berücksichtigung des Völkerrechts passieren, na vielen Dank auch. Es werden nur „legale“ Tötungen erlaubt (WTF???), „extralegale Tötungen – auch durch Drohnen – lehnen wir ab“. Aber Hauptsache das Außenministerium hat künftig eine Frau an der Spitze. Diversity, Baby!

Fazit

Der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP verspricht keinen „Linksrutsch“ und ist aus intersektional-feministischer Sicht auch nicht der große Wurf, auch wenn die künftige Regierung einige Verbesserungen für queere Menschen auf den Weg bringen will. Die Abschaffung des „Transsexuellengesetzes“ ist ein echter Grund zur Freude und auch die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts ist positiv hervorzuheben. Insgesamt lässt sich sagen, dass der Koalitionsvertrag einem neoliberalen Verständnis von Freiheit folgt und Menschen vor allem aus kapitalistischer Verwertungslogik betrachtet. Während die alte Regierung stärker auf Sanktionen setzte, will die neue eher „Anreize“ schaffen und die Menschen besser für den Arbeitsmarkt qualifizieren. Dass die Regelsätze der Grundsicherung nicht nennenswert erhöht werden sollen, ist eine klare Absage an alle, die gehofft hatten, dass das Klima für die Ärmsten zukünftig weniger rau sein würde. Nix da! Die „Festung Europa“ wird auch unter Rot-Grün-Gelb ausgebaut und der Grenzschutz verstärkt. Humanität steht auch in Zukunft hinter der Abschottung zurück. Abschiebungen und Abschiebehaft bleiben auch im post-Seehofer Deutschland alltägliche Praxis.

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