Hunderttausende fliehen nach Armenien, in Iserlohn wurde eine obdachlose Frau erschossen und in Berlin nehmen wir die Vergesellschaftung von Wohnraum jetzt selbst in die Hand. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW39
Montag, 25. September
Am Montag berichtete die Tagesschau über die Zunahme der Fluchtbewegung von Armenier*innen aus der Region Bergkarabach nach der gewaltsamen Besetzung des Gebiets durch Aserbaidschan. Die armenische Regierung teilte mit, dass bis Montagmittag bereits 6.650 Geflüchtete registriert worden seien, am Sonntagabend seien es „nur“ etwa 1.000 Menschen gewesen. Jetzt, am Sonntag, während ich das schreibe, haben laut Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) mehr als 100.000 Menschen Bergkarabach verlassen und suchen Schutz in Armenien. Die selbsternannte Republik Bergkarabach, die nicht offiziell anerkannt ist und völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, hat aufgehört zu existieren. Nach dem Aserbaidschan militärisch die Kontrolle über das Gebiet übernommen hatte und den Latschin-Korridor, die einzige Verbindung zwischen Bergkarabach und Armenien, blockiert hatte, waren zuletzt kaum Lebensmittel und auch keine Medikamente mehr nach Bergkarabach gekommen. Internationale Expert*innen sprachen von einer Taktik des „Aushungerns“ der armenischen Bevölkerung Bergkarabachs und warnten vor einem drohenden Genozid. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, ein Vertrauter und Verbündeter des Aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev nannte die Eroberung einen „historischer Erfolg“. Das UNHCR bittet derweil dringend um Spenden: „Die Menschen, die an den Grenzen ankommen, sind erschöpft und traumatisiert und benötigen Soforthilfe und psychosoziale Betreuung. Es werden dringend Notunterkünfte benötigt, um sicherzustellen, dass die Menschen nicht auf der Straße landen. Jeden Tag kommen Tausende von Menschen an, die meisten von ihnen sind ältere Menschen, Frauen und Kinder.“
Dienstag, 26. September
Mein Vertrauen in die Demokratie wird in Berlin regelmäßig auf die Probe gestellt, ein besonders plakatives wie ärgerliches Beispiel dafür ist die Verschleppung des erfolgreichen Volksentscheids zu „Deutsche Wohnen und Co. Enteignen“. Am 26. September 2021 hatten sich 59,1 % der Berliner*innen für die Vergesellschaftung von Wohnraum entschieden. Passiert ist seitdem: Nichts. Auf den Tag genau zwei Jahre später hat die Initiative am Mittwoch bekannt gegeben, dass sie nicht länger auf Wegner/Giffeys Gnaden wartet, sondern die Sache nun selbst in die Hand nehmen wird. „Während wir Mieter*innen immer tiefer in der Wohnungsmisere versinken und die Immobilienkonzerne aus unserer Not Profite schlagen, lässt der Senat keinen Zweifel daran, dass er die Vergesellschaftung von Wohnraum mit allen Mitteln verhindern will. Dem werden wir nicht mehr weiter tatenlos zuschauen: Als Berliner Stadtgesellschaft schreiben wir jetzt selbst das Vergesellschaftungsgesetz, das uns der Senat seit zwei Jahren schuldig ist. Mit dem Gesetzesvolksentscheid können wir Berliner*innen die Entscheidung, die wir vor zwei Jahren getroffen haben, endlich gemeinsam umsetzen. Mehr denn je sind wir davon überzeugt, dass Vergesellschaftung das beste Mittel ist, um die Mieten langfristig bezahlbar zu machen und Wohnraum demokratisch zu verwalten“, erklärt Veza Clute-Simon, Sprecherin der Initiative. Im Unterschied zum letzten Volksentscheid könnten die Regierenden ein erfolgreichen Gesetzesvolksentscheid nicht einfach ignorieren. Die Initiative plant, das Gesetz für die Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne selbst schreiben und es durch einen zweiten, rechtlich bindenden Gesetzesvolksentscheid zur Umsetzung zu bringen. Für diese nächste Stufe wurde ein Crowdfunding gestartet, das ihr hier unterstützen könnt. In diesem Sinne: Make Immokonzerne afraid again!
Mittwoch, 27. September
Am Mittwochmorgen wurde in Iserlohn (NRW) eine getötete Frau aufgefunden. Die 57-Jährige war zuletzt obdachlos und schlief in der Innenstadt vor einer Bankfiliale. Ein 29-jähriger Mann ist dringend tatverdächtig, die Frau mit zwei Schüssen in den Kopf getötet zu haben. Die „Bild-Zeitung“ spricht von einer „Hinrichtung“. Der mutmaßliche Täter wurde von einem SEK festgenommen, auf ihn sind zwei Schusswaffen zugelassen, aber ob eine davon die Tatwaffe ist, ist noch nicht bekannt. Täter und Opfer schienen sich nicht zu kennen und in keiner Verbindung zueinander gestanden zu haben. Die Staatsanwaltschaft geht von Mord aus Heimtücke aus. Gewalt gegen obdachlose und wohnungslose Menschen ist leider keine Seltenheit. „Gewalt gegen wohnungslose und sozial ausgegrenzte Menschen ist ein alltägliches Phänomen in unserer Gesellschaft“, erklärt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W): „Die Gewalt gegen wohnungslose Menschen reicht dabei von Beleidigung und Nötigung über Diebstahl und Raub bis hin zu Körperverletzungen, Totschlag und Mord. Auch die Vertreibung von wohnungslosen Menschen aus dem öffentlichen Raum oder die Verwehrung der Nutzung öffentlicher Infrastruktur sind Formen von Gewalt.“ Seit 1989 erstellt die BAG W anhand systematischer Presse-Auswertungen Listen zur Gewalt gegen wohnungslose Menschen und erklärt dazu: „Die dokumentierten Fälle sind lediglich Mindestwerte. Hinzu kommt ein nicht-erfasstes Dunkelfeld der Gewalt gegen wohnungslose Menschen.“ Im Jahr 2022 wurden 13 wohnungslose Menschen gewaltsam getötet, in fünf Fällen waren die Täter selbst wohnungslos. Die Abwertung von arbeitslosen oder obdachlosen Personen ist kein Randphänomen, sondern tief verwurzelt in der Gesellschaft und den Köpfen der Menschen. Die „Mitte-Studie“ der Friedrich Ebert Stiftung, die vergangene Woche vorgestellt wurde (und die ich im letzten Wochenrückblick näher beleuchtet habe), untersucht auch die Verbreitung klassistischer Einstellungen in der Bevölkerung und stellt fest: „Der Klassismus ist seit vielen Jahren auf einem hohen Niveau.“ In der aktuellen Befragung stimmten 34,8 % der Aussage „Langzeitarbeitslose machen sich auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben“ „eher“ bis „voll und ganz“ zu. 19,8 % der Befragten finden „Bettelnde Obdachlose sollten aus den Fußgängerzonen entfernt werden“. Weitere 22,4 % sehen das „teils/teils“ so. Auch in Berlin wurde ein obdachloser Mann kürzlich massive Gewalt angetan. Der 38-Jährige wurde am 23. September mit schweren Kopfverletzungen in der Genslerstraße in Alt-Hohenschönhausen gefunden. Er befindet sich derzeit auf einer Intensivstation und schwebt in Lebensgefahr. Wie die Klinik mitteilte, wurde eine Hirnblutung festgestellt, er muss künstlich beatmet werden. Es wird „mit dem Ableben des Verletzten“ gerechnet.
Donnerstag, 28. September
Friedrich Merz macht seinem Ruf als Türöffner für den Faschismus weiterhin alle Ehre. Im TV-Format „Welt-Talk“ des Springer-Hauses „Die Welt“ sagte der CDU-Vorsitzende: „Die Bevölkerung, die werden doch wahnsinnig, die Leute, wenn die sehen, dass 300.000 Asylbewerber abgelehnt sind, nicht ausreisen, die vollen Leistungen bekommen, die volle Heilfürsorge bekommen“, sagte Merz und ergänzte: „Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine.“ Widerlicher Rassismus, es ist nichts neues. Aber es funktioniert. Merz ist im Gespräch, seine Aussagen sind im Gespräch und die Empörung aller, die noch nicht hundertpro auf AfD-Linie sind, sorgt nur mehr dafür, dass sich die Reichweite erhöht. Sofort beginnen besonders findige Journalist*innen aufzulisten, wie viele (oder wenige) Leistungen „abgelehnte Asylbewerber*innen“ tatsächlich in Deutschland erhalten oder schreiben Reportagen darüber, wie schnell und easy sie einen Zahnarzttermin über Doctolib bekommen haben. Okay, das letzte habe ich mir ausgedacht, aber ich schließe nicht aus, dass irgendjemand tatsächlich gerade an so etwas arbeitet. Was ich sagen will: Es geht nicht darum, dass Merz Aussagen Bullshit sind, dass er bewusst lügt, um Stimmung gegen Geflüchtete zu machen. Es braucht hier keinen Faktencheck, es sollte langsam überall angekommen sein, dass es Rassist*innen nicht an Fakten mangelt. „Denken wir immer noch, wenn wir Leuten sagen, dass Nazis lügen, reicht das? Also ja, was Merz sagt ist faktisch einfach komplett falsch, aber im Ernst mit Fakten haben wir lange niemanden mehr überzeugt“, schrieb die Aktivistin und queer-politische Bildungsarbeiterin Luise Gonca Demirden auf Instagram: „Rechte Aussagen werden immer wieder gesendet, dann Aufschrei und Aufklärung was faktisch falsch daran war, dann Relativierung von der anderen Seite und dann ein paar Wochen später wieder ne rechte Aussage. Es ist scheissegal wir drehen uns im Kreis (…)“. Wann hören wir auf über die Stöckchen zu springen, die uns längst nicht nur offen Rechtsextreme regelmäßig hinhalten?! Luise sagt: „Wir müssen glaube ich mal ganz klar benennen, dass Antifaschismus nicht heißt, Nazis belehren und Daumen drücken. Rechte Ideologien müssen konsequent aus allen machtausübenden Bereichen der Gesellschaft verbannt werden und dann müssen sie ebenso konsequent gesellschaftlich geächtet werden.“
Freitag, 29. September
Nachdem am Donnerstagabend ein 20-Jähriger in Kassel festgenommen wurde, erhärtet sich der Verdacht, dass der Mann eine 14-Jährige gewaltsam tötete. Die genaue Todesursache des Mädchens aus Bad-Emstal, das seit Mittwochnacht als vermisst galt, ist noch nicht öffentlich bekannt. Der mutmaßliche Täter und das Opfer sollen sich über eine gemeinsame Clique gekannt haben.
Ein weiterer Femizid ereignete sich am Freitag in Lübeck. Ein 24 Jahre alter Mann soll seine 55-jährige Mutter laut Staatsanwaltschaft „mit stumpfer Gewalt gegen den Kopf“ getötet haben. „Die häusliche Situation zwischen Mutter und Sohn soll angespannt gewesen sein“, berichtet der NDR. Die Frau soll sich kurz zuvor hilfesuchend an die Polizei gewendet haben. Sie habe sich gewünscht, „dass ihr Sohn aufgrund seiner Erkrankung in Obhut genommen werde“, heißt es beim NDR. Die Initiative „Femizide Stoppen“ zählte im laufenden Jahr bereits 82 Morde an Frauen in Deutschland. Die 14-Jährige aus Kassel und die 55-Jährige aus Lübeck könnten die Opfer 83 und 84 sein sein. Die offiziellen Zahlen werden im kommenden Jahr veröffentlicht. 2021 wurden in Deutschland 113 Femizide gezählt.
Samstag, 30. September
Am Samstag fand in Stendal (Sachsen-Anhalt) die CSD-Parade statt, an der rund 300 Menschen teilnahmen. Wie schon viele Prides zuvor in diesem Jahr, wurde auch die Stendaler Veranstaltung angegriffen. Ein 36-jähriger Mann beleidigte Teilnehmende und attackierte sie auch körperlich. In diesem Jahr gab es von fast jedem CSD in Deutschland Meldungen von Angriffen und Bedrohungen. Die Hetze und die hassschürenden Falschbehauptungen, die politisch, medial und vielfach auch in Sozialen Netzwerken über queere Menschen verbreitet werden, zeigen Wirkung. Auch die bereits erwähnte Mitte-Studie der Friedrich Ebert Stiftung verzeichnet einen Anstieg queerfeindlicher Einstellungen in der Bevölkerung. Der Aussage „Es ist ekelhaft, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen“ stimmten dieses Jahr 16,2 % der Befragten zu, vor zwei Jahren waren es „nur“ 8,7 %.
Sonntag, 1. Oktober
Es ist der 1. Oktober und was nach heißer Schokolade, Herbstspaziergang und Pfützenspringen klingt bedeutete in der Realität heute Chillen am See, Eis essen gehen, Sonnenmilch und T-Shirt-Wetter. In Wien (wo ich mich gerade aufhalte) sind für morgen 27 Grad angekündigt. What the actual f*ck?! New York überflutet, der Amazonas trocknet aus, Teneriffa verbrennt. Aber klar, das hat alles nichts mit nichts zu tun. Schaffen wir lieber noch ein paar größere Parkplätze, damit die SVUs bequemer in die Innenstadt kommen und genießen wir das Nackensteak beim Grillen auf der Terrasse – geht ja bestimmt auch im November noch bei milden Temperaturen.
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