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Ruhe in Frieden, Mouhamed

Grauen und Gewöhnung

In Dortmund hat die Polizei einen Jugendlichen erschossen, in den Kinos ist ein rassistischer Film angelaufen und am Rhein wird trotz Niedrigwasser und Brandgefahr ein Feuerwerk gezündet. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW32

Montag, 8. August

In Dortmund hat die Polizei einen 16-jährigen Jungen erschossen. Ein Kind, geboren im Senegal, das aus Mali nach Deutschland geflohen ist und erst vor wenigen Tagen aus Mainz nach Dortmund kam, wo es in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht war. Sein Name war Mouhamed (bzw. Mohamed, wie einige Medien schreiben). Wie die taz schreibt, verlor Mouhamed auf der Flucht seinen jüngeren Bruder, der im Mittelmeer ertrunken ist, die Eltern seien schon vor einigen Jahren verstorben. Seit seiner Ankunft in Deutschland im April dieses Jahres sind die psychischen Probleme des Jungens bekannt gewesen, mehrfach habe er Suizidgedanken geäußert. Am Montag war Mouhamed gerade aus einer psychiatrischen Klinik zurückgekommen, die er auf eigenen Wunsch aufgesucht hatte. Ein Betreuer der Jugendeinrichtung hatte die Polizei gerufen, weil Mouhamed im Hof der Wohngruppe mit einem Messer „hantiert“ haben soll. Die Cops rückten zu elft an, setzten Taser und Reizgas ein, bevor einer der Beamten mit einer Maschinenpistole sechs Mal auf den Jungen schoss. Fünf Kugeln trafen: in den Unterarm, zwei Mal in die Schulter, in den Bauch und in den Kiefer. Die linke Onlinezeitung Perspektive schreibt: „Hervorzuheben ist dabei, dass die Polizeibeamt:innen außerhalb des Innenhofs standen, in dem sich Mohammed befand – sie waren durch einen 1,70 Meter hohen Zaun von ihrem Opfer getrennt.“ Sollte sich bewahrheiten, dass für die Polizei keinerlei Gefahr bestand, als das Feuer auf den Jugendlichen eröffnet wurde, ist der Skandal perfekt, aber auch unabhängig davon macht diese Gewalt mich fassungslos. Es kann keine Erklärung geben, die diese brutale Tötung rechtfertigt. Aber natürlich behaupten Polizei und Innenministerium sofort, Mouhamed sei auf die Einsatzkräfte zu gerannt, habe sie „angegriffen“. Ich sehe die Cops vor mir, bis an die Zähne bewaffnet, Schutzkleidung, in voller Montur. Gerufen, weil ein Schwarzer Jugendlicher mit Suizid droht, kreuzen sie in Fußballmannschaftsstärke auf und durchsieben das Opfer mit einer Maschinenpistole. Im Interview mit dem Deutschlandfunk zeigt NRW-Innenminister Herbert Reul keinerlei Mitgefühl für das Opfer oder die Angehörigen, nur für den Polizisten, der geschossen hat. Zum Tod des Jungen sagt er „Die Bilder sind wirklich nicht gerade erfreulich“. Es ist an Zynismus, Kaltherzigkeit, Unmenschlichkeit kaum zu überbieten.

Ein verzweifeltes Kind, dem niemand hilft, droht sich das Leben zu nehmen, besorgt sich ein Messer und gefährdet dabei niemanden, außer sich selbst. Den Verantwortlichen, Betreuer einer Jugendeinrichtung, von denen ich pädagogische Kompetenz erwarte, fällt nichts Besseres ein, als die Cops zu rufen, die mit elf Leuten, Pistolen und Maschinenpistolen anrücken und den Jungen zuerst mit Reizgas, dann mit einem Taser angreifen, um ihn schließlich mit einer Maschinenpistolensalve niederzumähen. Keine psychologische Fachkraft war vor Ort, offenbar auch niemand, der Französisch oder Wolof spricht, um mit dem Jungen zu reden. Jetzt ist das Kind tot und Reul sorgt sich um den Schützen: „Den muss man auch betreuen, da muss man sich auch kümmern.“

Ich habe es so satt. Vier Menschen wurden innerhalb von sechs Tagen in Deutschland von der Polizei getötet. In Frankfurt wurde ein 23-Jähriger Somalier in einem Hotelzimmer erschossen, in Köln ein 43-Jähriger im Rahmen einer Zwangsräumung (über beide Fälle habe ich im letzten Wochenrückblick geschrieben) und am vergangenen Sonntag starb in Oer-Erkenschwick ein Mann in Folge eines Polizeieinsatzes. Der 39-Jährige soll in seiner Wohnung randaliert haben. Die hinzugerufene Polizei Recklinghausen hat laut Spiegel erst Pfefferspray eingesetzt und den Mann anschließend fixiert. Viel mehr ist aus Medienberichten nicht herauszufinden. „Aus Neutralitätsgründen“ ermittelt in diesem Todesfall übrigens die Polizei Dortmund. Im Gegenzug übernimmt dann die Polizei Recklinghausen die Ermittlungen im Fall des getöteten Mouhamed in Dortmund. What could possibly go wrong?

Dienstag, 9. August

Es gibt Nachrichten, die keine mehr sind. Einfach weil sich niemand mehr dafür zu interessieren scheint. Die Situation geflüchteter Menschen im Mittelmeer löst längst keine Schlagzeilen, ARD-Brennpunkte, Talkrunden und Sondersendungen mehr aus. Wir haben uns einfach daran gewöhnt, dass verzweifelte Menschen, die vor Kriegen, Hunger, Perspektivlosigkeit und Gewalt fliehen auf dieser Flucht ertrinken, erfrieren, verdursten, getötet werden. Das Mittelmeer ist ein Massengrab. Seit 2014 sind mindestens 24.023 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken (Stand 14. Juli 2022), das sind mehr Menschen als ins Stadion des SC Freiburg passen. Wie kann es sein, dass wir die Nachrichten vom Leid der Fliehenden einfach ausblenden, ignorieren oder sie mit kurzem „ach“ zur Kenntnis nehmen, aber keinen weiteren Gedanken darauf verwenden? In einem Interview mit dem „Fluter“ von 2016 erklärt der Neurowissenschaftler Claus Lamm, warum Menschen bei massenhaftem Leid einfach „auf Durchzug schalten“. Ihm zufolge haben Gefühle eine „starke Gewöhnungskomponente“ und dieser „Gewöhnungseffekt gibt es auch, was das Leid anderer Menschen betrifft“. Die ersten Meldungen von gekenterten Flüchtlingsbooten hätten bei den Menschen noch Mitgefühl geweckt, doch mittlerweile würden diese Nachrichten „in die Schublade ‚Kenne ich schon, nichts Neues‘“ gesteckt. Insbesondere, indem Menschen kategorisiert würden, als „Flüchtlinge“ oder „Muslime“, würden sie dehumanisiert, erklärt Lamm, d.h. ihnen würden „zu einem Teil ihre menschlichen Eigenschaften“ abgesprochen. Gleichzeitig reduziere sich die „Fähigkeit, mit ihnen mitzufühlen“, denn wir nähmen „sie nicht mehr als Person wahr, sondern als Kategorie“.

Lange Vorrede, für diese Nachricht: Auf einer Insel im griechisch-türkischen Grenzfluss Evros sitzen seit Tagen 39 Menschen fest, überwiegend Syrer*innen. Griechische und türkische Behörden versagen den Menschen jegliche Hilfe. Die Menschen seien nach ihrer Ankunft auf dem griechischen Festland von griechischen Sicherheitskräften aufgegriffen und gezwungen worden, sich auszuziehen, bevor sie zurück in den Fluss geschickt wurden. Laut Angaben von Mitgliedern der Gruppe seien zwei Personen, die nicht schwimmen konnten, ums Leben gekommen, als die Behörden sie zurückgedrängt hätten. Diese illegalen Pushbacks sind gängige Praxis zur Abwehr von schutzsuchenden Menschen, im Wissen und mit Duldung der EU. Am Dienstag starb ein fünfjähriges Mädchen auf Evros, offenbar nach einem Skorpionstich. Gestorben, weil die EU den Menschen jegliche Hilfe und medizinische Versorgung verwehrt. Die Angehörigen können das Kind nicht begraben, sie kühlen die Leiche im Fluss, während sie weiter auf Hilfe warten.

Mittwoch, 10. August

Keine Woche ohne Femizid. In Bad Fallingbostel ist am Mittwoch eine 24-Jährige auf einem Gehweg verblutet, nachdem mutmaßlich ihr Ex-Partner mehrfach auf sie eingestochen hatte. Wie RTL berichtet, erlitt das Opfer „diverse Stichverletzungen im Bereich des Oberkörpers, von denen zwei tödlich waren“. Der tatverdächtige 34-Jährige wurde zur Fahndung ausgeschrieben und konnte am Donnerstagmorgen festgenommen werden. Nach Informationen der BILD hinterlässt die Getötete ein zweijähriges Kind.

Donnerstag, 11. August

Am Donnerstag startete „Der junge Häuptling Winnetou“ in den Kinos. Ich frage mich, ob an den Beteiligten die jahrelangen Debatten vollständig vorbeigegangen sind, oder ob es ihnen schlichtweg egal ist, dass sie mit diesem Kinofilm alle kolonialrassistischen Register ziehen. Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll. „Winnetou“, ausgedacht von einem Sachsen im späten 19. Jahrhundert, ist eine Figur, die das Bild der Deutschen von den indigenen Menschen Nordamerikas geprägt hat und bis heute dafür sorgt, dass die Kultur der Native Americans hierzulande in Form von Karnevalskostümen und skurrilen „Festspielen“ gleichermaßen ausgebeutet und verhöhnt wird. Wie selbstverständlich verwenden Deutsche die rassistische Fremdbezeichnung mit I und sehen kein Problem damit, die sich mit Federn und Lederfransen als „S***w“ oder „Häuptling“ zu verkleiden. Überall in Deutschland finden jedes Jahr große Spektakel (man spricht von „Festspielen“) statt, bei denen sich weiße Schauspieler*innen als indigene Menschen verkleiden (Red Facing) und ihre Version von „wildem Westen“ spielen, die sowohl gänzlich an der historischen Realität indigener Leben vorbeigeht als auch kolonialistische und rassistische Narrative und Stereotypen reproduziert. Aber zurück zu „Der junge Häuptling Winnetou“, dem Kinofilm, der die rassistischen Festspiele als Leinwandspektakel adaptiert. Unrechtsbewusstsein? Fehlanzeige. Die Produzent*innen, Ewa Karlström und Andreas Ulmke-Smeaton, sind von der Kritik „sehr mitgenommen“, aber „nicht willens […] beschämt oder zu Reue gedrängt zu werden, die wir nicht empfinden“. Die Gruppe „Natives in Germany“, eine Selbstorganisation „von und für Natives auf Turtle Island und Abya Yala“ sagt auf Instagram: „Wir sind fassungslos, dass im Jahre 2022 dieser Film für Kinder erscheint. Um eins klar zu machen: Der Film ist rassistisch.“ Es muss unfassbar ermüdend und verletzend sein, immer wieder das gleiche zu sagen und den Deutschen ist es einfach egal, weil sie „Winnetou“ so lieben und sich das nicht von den Gefühlen marginalisierter Menschen verderben lassen wollen. Insofern wundert es mich gar nicht, dass 2022 ein solcher Film in die Kinos kommt. Die Kasse wird klingeln, daran habe ich keinen Zweifel. Die Frankfurter Rundschau stellt die – meiner Meinung nach – entscheidende Frage: „wie kann es sein, dass ein Film, der schon in seinem Drehbuch kolonialistische und rassistische Stereotypen transportiert, mit Bundes- und Landesmitteln in Millionenhöhe gefördert wird?“ Eine Antwort gibt es nicht. Dafür haben die beiden erwachsenen Hauptdarsteller, Mehmet Kurtuluş („Apachen-Häuptling Intschu-tschuna“) und Anatole Taubman (Bösewicht „Todd Crow“) eine ganze Menge Bullshit zu sagen. Das Interview in der FR ist eine Aneinanderreihung unangenehmer Peinlichkeiten. Anatole Taubman betont in bester „Ich sehe keine Hautfarben“-Manier: „Wir sind eine Menschenrasse. Bei mir geht es, eigentlich bei allen Menschen, um Prinzipien und dass man kategorisch alle Menschen, egal welchen Geschlechts, welcher sexuellen Orientierung und welcher Religion gleich behandelt mit Respekt, Anstand und Toleranz.“ Warum spielt er dann selbst eine Rolle, die jeden Anstand und Respekt vermissen lässt? Der „Todd Crow“ im neuen Winnetou-Film ist laut Kritik in der ZEIT „eine Figur, die nicht nur versucht, durch Beringung, Hut, Gewand und Kajalstift eine Art Discounterversion von Jack Sparrow aus Fluch der Karibik zu sein. Vielmehr wird das Queere an diesem Todd Crow mehrfach explizit als Verweiblichung markiert, wenn er in Abwesenheit als ‚Tante Todd’ bezeichnet wird“. Queercoding von Bösewichtern ist nichts Neues, perfekt also für eine filmische Aneinanderreihung althergebrachter Klischees. Anatole Taubmanns Performance von „Tante Todd“ ist die queerfeindliche Kirsche auf der rassistischen Sahnehaube. Wie es bei der ZEIT weiterheißt, zahlt „die fluide Genderperformance von Crow direkt auf die Bösartigkeit der Figur ein: Seht mal, Kinder, Homosexualität ist halt gefährlich. Weshalb der Fingerzeig ‚Schau mal, so geht Familie‘ am Ende das konservative bis reaktionäre Familienbild des Films gut zusammenfasst.“

Freitag, 12. August

Letztes Jahr ist eine der letzten Zeitzeug*innen, die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano, verstorben. Anfang dieses Jahres erschien das Buch „Nie Schweigen“, das laut Verlag „letzte Interview“ mit ihr, „eine Botschaft an die Jugend“. Als Co-Autor des Buchs wird Sascha Hellen genannt. Hellen ist Eventmanager und eine recht schillernde Figur in der „Promi-Szene“ NRWs. 2019 verurteilte das Landgericht Bochum Sascha Hellen zu zwei Jahren Haft und 200 Sozialstunden wegen Betrugs in 12 Fällen und Unterschlagung in zwei Fällen. Zwei Jahre später wurde er erneut wegen Betrugs verurteilt, weil er sich von einer befreundete TV-Ärztin mehr als einer halben Million Euro geliehen haben, die er nicht zurückzahlte. Warum ich euch das alles erzähle? Nun ja, diese Woche wurde eine Promo-Veranstaltung für das Buch „Nie Schweigen“ Mitte September bekannt, zu der neben dem Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Abraham Lehrer, dem BKA-Präsident Holger Münch und FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger auch der Autor Ahmad Mansour sowie der Sänger der rechten Band „Frei.Wild“, Philipp Burger, eingeladen waren. Veranstalter ist die Firma „LAMALO Consulting“, auf deren Webseite aktuell mysteriöserweise keine Inhalte auffindbar sind. Dank des Internet-Archivs lassen sich aber frühere Versionen herstellen und schnell wird klar: „LAMALO Consulting“ und das „Büro Sascha Hellen“ teilen sich Telefon- und Faxnummer. Es deutet also alles daraufhin, dass der Betrüger Sascha Hellen das Vermächtnis von Esther Bejarano missbraucht, um Geld zu verdienen (Tickets ab 21,50€). Dabei scheint jedes Mittel recht, auch ein Podium mit einem Rechtsextremisten. „Gegen diese plumpe Vereinnahmung des Andenkens an Esther Bejarano sprechen wir uns als VVN-BdA in aller Deutlichkeit aus. Gegen die Normalisierung rassistischer, faschistischer und völkischer Positionen hat Esther immer gekämpft“, schrieb der VVN-BdA auf Twitter. Am Freitag verkündete die LAMALO GmbH, dass Philipp Burger ausgeladen wurde. Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, sagte zur Berliner Zeitung: „Das Gespräch instrumentalisiert die Erinnerung an Esther Bejarano. Ein Jahr nach ihrem Tod wird versucht, ihr politisches Vermächtnis zu verdrehen […] Wie sollen vorwiegend Konservative und Rechte eine links-progressive Person wie Esther angemessen würdigen? Aus diesem Kreis sehe ich keinen einzigen, den Esther zu ihrer Lebzeit als politische Mitstreiter gesehen hätte.“

Samstag, 13. August

Das Europäische Waldbrand-Informationssystem (EFFIS) verzeichnet in diesem Jahr bereits 660.000 Hektar verbrannten Wald in Europa. Zum Vergleich: Die Fläche von Berlin beträgt 89.180 Hektar. Das ist ein neuer Hochstand und die Sommermonate sind noch nicht vorbei. EFFIS-Koordinator Jesus San-Miguel sagte laut Tagesschau: „Die Situation ist beunruhigend – und wir sind gerade erst in der Mitte der Brandsaison.“ In Koblenz hielt man es dennoch für eine gute Idee am Samstag, trotz des stellenweise ausgetrockneten Flussbetts, ein Festival am Rhein mit Feuerwerk(!) stattfinden zu lassen. Gegen die Brandgefahr verspritzte die Feuerwehr stundenlang tausende Liter Wasser auf die umliegenden Hänge. Während einer Dürre in Europa. Ich fürchte, Deutschland hat nicht mal ansatzweise verstanden, was gerade los ist und noch auf uns zukommen wird.

Sonntag, 14. August

Das war auch schon der Wochenrückblick. Wieder viel zu lang und ohne Lichtblick. Deshalb gibt es zum Sonntag noch eine kleine gute Nachricht:

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