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Beim Anschlag in Magdeburg wurden fünf Menschen getötet. (Stockphoto)

Gewollte Sensation

In Magdeburg rast ein bekannter Islamkritiker in eine Menschenmenge, in Dortmund wird einer von Mouhameds Mördern befördert, CDU und FDP verhindern die Abschaffung von §218 und die Vergewaltiger von Gisèle Pelicot werden verurteilt. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW51

Montag, 16. Dezember

Nachdem am vergangenen Wochenende Wahlkampfhelfer*innen der SPD an einer Berliner Bushaltestelle von jungen Nazis angegriffen und verletzt wurden, kamen am Montag einige Details zu den Tätern ans Licht. Die vier Täter stammen aus Halle an der Saale: Florian K. (19) und sein Bruder Pascal K. (16), Elias U. (18) und Florian B. (19) wurden festgenommen. Rund zehn bis 15 weitere Nazis hätten während des Angriffs am Rand gestanden, „gejubelt und sich gefreut“, erzählt eines der Opfer, die Carolyn Macmillan, SPD-Fraktionsvorsitzende der Bezirksverordnetenversammlung Steglitz-Zehlendorf. Elias U., der sich auf Instagram „zecken_boxen“ nennt, war bereits im Oktober beim Naziaufmarsch in Berlin-Marzahn dabei. Die überwiegend jugendliche Neonazi-Szene ist gut vernetzt, gewalttätig und „erlebnisorientiert“. Joe Düker vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie, sprach Mitte Dezember im Interview mit „Campact“ von einer „neuen Generation“ junger Nazis. Er betonte das Mobilisierungspotential, das in der Queerfeindlichkeit und dem Antifeminismus der Szene steckt: „Rechtsextreme Jugendliche, die im Sommer gegen CSD-Veranstaltungen mobilisiert haben, sahen sich womöglich durch den Anstieg an LGBTQI+-Feindlichkeit in der Gesellschaft bestätigt.“  Zwischen Juni und September gab es in Deutschland mindestens 27 queerfeindliche Demos und Störaktionen am Rande von CSDs. Jetzt, wo die Pride-Saison vorüber ist, suchen sich die Nazis neue Aktionsfelder. Joe Düker sagt: „Derzeit gibt es keinen Grund zur Annahme, dass die rechtsextremen Jugendgruppen zukünftig nicht mehr zu Protesten mobilisieren werden.“

Dienstag, 17. Dezember

Fabian S., der Mann, der den Jugendlichen Mouhamed Dramé mit einer Maschinenpistole tötete, wurde am Tag nach seinem Freispruch vom Polizeipräsidium in Dortmund zum „Beamten auf Lebenszeit“ ernannt. „Die Lebenszeiturkunde wurde dem entsprechenden Beamten ausgehändigt, da er einen berechtigten Anspruch darauf hatte“, erklärte das zuständige Präsidium am Dienstag und bestätigte entsprechende Medienberichte. Der Rechtsanwalt des Todesschützen war überrascht, dass das so schnell passierte. Es zeige, „wie sehr die Behörde hinter ihrem Beamten steht“, erklärte er und bewertete es als „ein positives Signal“. Die Angehörigen des ermordeten Mouhamed Dramé, die zum Prozess nach Deutschland gekommen waren, und der Solidaritätskreis Mouhamed, versuchen seit den Freisprüchen aller Beteiligter mit dem Gefühl der Ohnmacht und Ungerechtigkeit umzugehen. Für sie steht fest: „Dieser Mord hat System. Was Mouhamed vorfand, war ein rassistisches System, das sein Leben nicht schützte, sondern beendete. Schwarze Menschen erleben in Deutschland täglich, wie Polizei und Justiz nicht für ihre Sicherheit stehen, sondern ihre Existenz bedrohen. Sie sind kein „Freund und Helfer“, sondern eine Bedrohung für Schwarzes Leben in Deutschland. Unsere Wut bleibt laut, unser Kampf gegen rassistische, ableistische Gewalt – insbesondere in der Polizei und durch die Polizei – geht weiter.“

Mittwoch, 18. Dezember

Gerade hat der Deutsche Fußball-Bund (DFB), allen Bemühungen von Menschenrechtsorganisationen zum Trotz, für die Vergabe der Fußballweltmeisterschaft der Männer 2034 nach Saudi-Arabien gestimmt. Fußball-Party in einem Land, in dem Homosexualität verboten ist und mit Geld-, Haft- oder Körperstrafen bis hin zur Todesstrafe geahndet wird. Wie passend, dass der DFB nun auch die Anlaufstelle für geschlechtliche Vielfalt gestrichen hat. Wie der Tagesspiegel am Dienstag berichtete, soll die Kompetenz- und Beratungsstelle, die 2021 eingeführt wurde, nun wieder abgeschafft werden. Nüchtern erklärt der Verband: „Die externe und zu 100 Prozent vom DFB finanzierte Anlaufstelle für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt wird nach vier Jahren planmäßig auslaufen.“ Amtsinhaber Christian Rudolph hätte die Stelle gerne weitergeführt und macht sich Sorgen, was das Aus dieser Pionierarbeit für die Landesverbände, da wo Fußball als Breitensport stattfindet, bedeutet.

Auch am Mittwoch

CDU und FDP ist es gelungen, uns die historische Chance auf Abschaffung des Paragrafen 218 STGB zu nehmen. Alles, was es brauchte, war ein bisschen politbürokratisches Taktieren. Obwohl längst alles gesagt ist, setzten sie am Mittwoch im Rechtsausschuss durch, dass es eine weitere Anhörung von Expert*innen geben soll. Welche Expert*innen das sein sollen, nachdem die eigens von der Bundesregierung eingesetzte Expert*innenkommission bereits ihre Empfehlung zur Streichung des §218 gab, ist unklar. Es ist aber auch egal. Denn diese neuerliche Anhörung wurde für 17 Uhr am 10. Februar 2025 angesetzt. Keine zwei Wochen vor den vorgezogenen Bundestagswahlen und damit so spät, dass eine Abstimmung über den Gesetzesentwurf aufgrund parlamentarischer Fristen unmöglich ist. Denn nach der Anhörung ist vorgeschrieben, dass der Rechtsausschuss nochmals zu einer Sitzung zusammenkommen muss. Der letzte Sitzungstag in der aktuellen Legislatur ist der 11. Februar. Obwohl 75 Prozent der Deutschen für die Legalisierung von Abtreibung sind, schaffen es die Antifeminist*innen von CDU und FDP die längst überfällige Streichung von §218 zu verhindern – wenn nicht mit Argumenten, dann eben mit bürokratischen Tricks. Es ist bodenlos.

Donnerstag, 19. Dezember

Am Donnerstag ging der Prozess gegen Dominique Pelicot und die zahlreichen weiteren Männer zu ende, die die heute 72-jährige Gisèle Pelicot insgesamt mutmaßlich 200-mal vergewaltigten. Das französische Gericht verurteilte den Ehemann der Geschädigten, der seine Frau über Jahre regelmäßig betäubte, vergewaltigte und von mindestens 82 weiteren Männern vergewaltigen ließ. Die Taten filmte er. Die weiteren Täter waren zwischen 22 und 70 Jahre alt. 50 von ihnen waren neben Dominique Pelicot angeklagt. Als Haupttäter wurde Pelicot zu 20 Jahren Haft verurteilt, nur er erhielt die Höchststrafe. Manche Täter kamen geradezu glimpflich davon. Einem wurde es als strafmildernd angesehen, dass er die bewusstlose Frau „nur“ mit den Fingern vergewaltigte, ein anderer hatte behauptet, keine Erektion gehabt zu haben und wurde deshalb zu lediglich drei Jahren Haft verurteilt. Und doch: Alle wurden verurteilt. Das ist ein Meilenstein, denn die allermeisten Vergewaltiger werden niemals verurteilt. Wenn es überhaupt zur Anzeige kommt, liegt die Verurteilungsquote bei gerade einmal acht Prozent. Dass sich Gisèle Pelicot entschied, auf ihr Recht auf Anonymität zu verzichten, hat sicher dazu beigetragen, dass dieser Prozess weltweite Aufmerksamkeit erregte. „Die Scham muss die Seiten wechseln“, ein Zitat, dass Madame Pelicot zugeschrieben wird, wurde zum Symbol. Und noch etwas bleibt hängen: Die Täter bilden einen Querschnitt der Gesellschaft: alle Altersgruppen, alle Berufe, alle Schichten, Ehemänner und Väter genauso wie Singles – es gibt kein Muster, außer die Tatsache, dass alle Männer aus der näheren Umgebung kamen. Sie waren nicht etwas weitangereist, sie kamen aus der Nachbarschaft. Wie naiv wäre es zu glauben, dass der Fall Pelicot ein Einzelfall ist. Erst am Mittwoch veröffentlichte die ARD eine absolut verstörende Recherche über Telegram-Gruppen, in denen sich Männer über sexualisierte Gewalt an Frauen aus ihrem Umfeld austauschen, neben Tipps und Anleitungen zum Einsatz von K.O.-Tropfen und Einladungen wie die von Dominique Pelicot, finden sich darin auch unzählige Videos der Taten. Die größte der beobachteten Gruppen hatte über 70.000 Mitglieder.  

Freitag, 20. Dezember

Ein 50-jähriger Mann hat einen grauenhaften Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg verübt. Mit einem Auto fuhr er über 400 Meter durch die Menge, tötete vier Frauen und ein neunjähriges Kind, verletzte mehr als 200 Menschen, 41 davon schwer. Der Täter wurde festgenommen. Es handelt sich um einen Arzt aus Bernburg, der 2006 aus Saudi-Arabien nach Deutschland kam. Seit Oktober sei er „urlaubs- und krankheitsbedingt“ nicht mehr im Dienst gewesen. Nach Recherchen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung war er mehreren Behörden bekannt und offenbar bereits häufiger mit Gewaltandrohungen aufgefallen. Er sei ein „Aktivist und vehementer Islamkritiker“, schreibt die Tagesschau und verweist u.a. auf ein Interview mit ihm, das die FAZ im Juni veröffentlichte. Darin sagte er: „Ich bin der aggressivste Kritiker des Islams in der Geschichte“. Der Attentäter war Fan der AfD. Auf Ex-Twitter hatte er über 40.000 Follower*innen. Die saudischen Behörden sollen Deutschland vor einer Radikalisierung des Mannes gewarnt haben und auch Bekannte des späteren Massenmörders sollen sich an Behörden gewandt haben, da sie ihn für gefährlich hielten. Doch passiert ist nichts. Woran das liegt, wird jetzt sicher Thema verschiedener (interner) Untersuchungen sein. Doch auch ohne besondere Insights drängt sich der Verdacht auf, dass Taleb A., so der Name des Terroristen, einfach nicht ins Bild gepasst hat. Gefährder – das sind schließlich „Islamisten“ und nicht deren Kritiker. Der mediale Umgang mit der, nun mehr und mehr ans Licht kommenden, Identität des Täters zeigt, wie wenig wir in Deutschland über Radikalisierung wissen. Zunächst schienen sich alle einig: Ein Täter aus Saudi-Arabien? Das muss ein Moslem sein! Instagram-Stories wurden aufgenommen, Tweets und Artikel wurden geschrieben und „Islamismus“ stand als Motiv fest. Als klar wurde, dass es „so einfach“ nicht ist, wurden viele dieser Postings schnell wieder gelöscht, Verwirrung machte sich breit. Wie kann das sein? Ein Araber, der den Islam kritisiert und in einem blutigen Terroranschlag Menschen tötet? Das passt nicht ins Narrativ. Doch: „Diese Phänomene sind nicht neu. Es gab sie schon immer und die Verwunderung darüber sagt eigentlich sehr viel über Medien, Mechanismen und Debatten aus“, sagt Burak Yilmaz, Pädagoge und Autor aus Duisburg: „Es sagt viel über Zuschreibungen und Annahmen aus und darüber, dass wir als Gesellschaft in Bezug auf Radikalisierung und Terror immer noch in Kinderschuhen stecken. Ob in der Analyse, in den Reaktionen und Einordnungen auf Terror, in den Handlungsstrategien und vor allem in unserer Solidarität. Denn während wieder der Täter von Magdeburg überall gezeigt wird und diese Sensation von ihm gewollt und geplant ist – weil neben der Ideologie auch der Narzissmus und die Persönlichkeitsstrukturen eine Rolle spielen- tauchen die Namen und Geschichten der Opfer nirgendwo (!) auf.“

Samstag, 21. Dezember

Wisst ihr noch: „Feministische Außenpolitik“? Dass das von Anfang an ein Scam war und Annalena Baerbock genauso wenig feministisch ist, wie ihre Amtsvorgänger, bewies die Grünen-Politikerin diese Woche erneut. Im Nachgang des Treffens mit ihrem türkischen Amtskollegen, Hakan Fidan, forderte sie die kurdischen Anti-IS-Kämpfer*innen auf, die Waffen niederzulegen. Damit folgt Baerbock den Forderungen der Türkei und ignoriert, dass derzeit mehr als 200.000 Menschen vor islamistischen Söldnertrupps und den Angriffen der Türkei auf die Region auf der Flucht sind. Baerbock sagte zwar, die Sicherheit der Kurd*innen sei „essentiell“, doch wie sich die kurdische Bevölkerung in Nord- und Ostsyrien ohne Waffen gegen das türkische Militär, dessen dschihadistische Proxy-Truppe (die Syrische Nationale Armee, SNA) sowie die IS-Terrormilizen schützen soll, sagte sie nicht. Erst am Mittwoch hatte Baerbock Kobanê als „Symbol für den mutigen Kampf der Kurdinnen und Kurden gegen die Terrorherrschaft des IS“, bezeichnet. Ein „Symbol“ eben, das die Bundesregierung benutzt, wie es ihr gerade in den Kram passt.

Sonntag, 22. Dezember

Die Woche endet mit einem Feminizid*. In Bochum tötete am Mittag mutmaßlich ein 57 Jahre alter Mann seine 56-jährige Ehefrau. Der Mann rief selbst die Polizei und gestand die Tat am Telefon. Er ließ sich widerstandslos festnehmen. Notärztliche Einsatzkräfte versuchten noch am Tatort die schwerverletzte Frau zu reanimieren, jedoch ohne Erfolg,

*Ich habe mich entschlossen von nun an von „Feminiziden“, statt von „Femiziden“ zu sprechen. Der Begriff „Feminizid“ ist umfassender und beschreibt nicht nur die Tötung von Frauen, sondern auch die strukturellen und institutionellen Bedingungen, die diese Tötungen ermöglichen oder fördern. Dazu gehören staatliches Versagen und gesellschaftlich verankerte Misogynie und allgemeine Gleichgültigkeit. Der Begriff geht auf das spanische Wort „feminicidio“ zurück, das u.a. durch die mexikanische Wissenschaftlerin und Aktivistin Marcela Lagarde geprägt wurde.

Es ist sicher nicht falsch „Femizid“ zu sagen, aber da ich nicht nur über den Einzelfall berichten, sondern die strukturellen Ursachen und die Systematik der Gewalt sichtbar machen will passt „Feminizid“ für mich besser.

+++ Der Wochenrückblick verabschiedet sich in die Winterpause+++ Den nächsten Wochenrückblick lest ihr am 19. Januar+++ Vergesst nicht, den (kostenlosen!) Newsletter zu abonnieren, um auf dem Laufenden zu bleiben.+++

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