Lützerath wurde geräumt und auf einmal sehen alle die Polizeigewalt, der Menschenhandel boomt international und in Deutschland werden 212 Haftbefehle gegen Reichsbürger*innen nicht vollstreckt. Immerhin gibt es in diesem Wochenrückblick auch mal von zwei kleinen Erfolgen zu berichten. #KW2
Montag, 9. Januar
Seit Ausweitung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar 2021 hat auch der Menschenhandel in bzw. aus der Region massiv zugenommen. Wie verschiedene Medien am Montag berichteten, meldete die die OSZE einen Anstieg der weltweite Online-Suchanfragen „nach sexuellen Dienstleistungen und pornografischen Darstellungen durch ukrainische Frauen und Kinder“ um bis zu 600 Prozent. Oft seien es organisierte Kriminelle, die die Betroffene übers Internet mit falschen Versprechen kontaktierten. „Diese skrupellosen Kriminellen treffen dann auf Menschen, die hilfsbedürftig sind, Geld verdienen müssen, die Sprache im neuen Land nicht sprechen und häufig auch vom Krieg traumatisiert sind“, sagt OSZE-Generalsekretärin Helga Maria Schmid. Weltweit habe der Menschenhandel massiv zugenommen: Die Organisation geht von 25 bis 27 Millionen Opfern pro Jahr aus, nur etwa 10.000 Fälle würden überhaupt bei den Strafverfolgungsbehörden landen. Menschenhandel ist ein lukratives Geschäft geschätzten 150 Milliarden US-Dollar Gewinn jedes Jahr, fünfmal so viel wie noch vor 15 Jahren. „Menschenhandel ist stark mit der Problematik der – durch die globale soziale Ungleichheit bedingten – weltweiten Wanderungs/Fluchtbewegung und der restriktiven Migrations- und Arbeitsmarktpolitik der Nationalstaaten verknüpft“, erklärt der Verein Ban Ying e.V., eine Beratungsstelle für Betroffene von Menschenhandel in Berlin und weist damit auf den größeren Zusammenhang (Kapitalismus, Kolonialismus, Grenzpolitik) hin. Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte beschäftigt sich mit den Ursachen und Folgen von Menschenhandel. „Menschenhandel findet tagtäglich in Deutschland statt – in der Pflege, im Haushalt, in der Prostitution, Landwirtschaft, Fleischindustrie oder auf dem Bau.“ Um Menschenhandel und Zwangsverhältnisse wirksam und nachhaltig zu bekämpfen, werden Verschärfungen von EU-Richtlinien oder mehr Kontrolle durch Polizei und andere Behörden nicht helfen. Es sind allenfalls punktuelle Symptombekämpfungen. Das kapitalistische Wirtschaftssystem fußt auf der Ausbeutung von Menschen. Ich will meinem Fatalismus hier nicht das letzte Wort lassen. Denn auch wenn ich davon überzeugt bin, dass perspektivisch nur fundamentale Systemveränderung das Ziel sein kann, bin ich doch auch der Meinung, dass Betroffene von Menschenhandel heute unsere Unterstützung brauchen. Wie ihr konkret helfen könnt, erfahrt ihr zum Beispiel beim Bundesweiten Koordinierungskreis gegen Menschenhandel.
Dienstag, 10. Januar
Auch kleine Erfolge gegen Diskriminierung müssen wir feiern. Wenn dieses Jahr die Blutspender-Richtlinien endlich so geändert werden, dass sie künftig nicht mehr pauschal Schwule und bisexuelle Männer und trans Personen diskriminieren, ist das so ein Erfolg. Am 1. April soll eine Gesetzesänderung in Kraft treten, die eine Änderung der bislang gültigen Verordnung erforderlich macht. Die aktuell gültige Richtlinie schließt Männer, die Sex mit Männern haben, vom Blutspenden aus, wenn sie in den zurückliegenden vier Monaten Sex mit „einem neuen oder mehr als einem Sexualpartner“ hatten. Bei allen anderen Personen gilt das nur bei „häufig wechselnden Partnerinnen und Partnern“. Eine klare Diskriminierung, findet auch der LSVD: „Die Unterstellung, dass Sexualkontakte zwischen Männern in jedem Einzelfall eine größere Infektionsgefahr bedeuten, ist genauso diskriminierend wie absurd.“ Karl Lauterbach hat die Aktivist*innen nun endlich erhört. Er sagte: „Ob jemand Blutspender werden kann, ist eine Frage von Risikoverhalten, nicht von sexueller Orientierung. Versteckte Diskriminierung darf es auch bei diesem Thema nicht geben.“ Doch die Bundesärztekammer sieht das anders, das diskriminierende Vorgehen habe sich bewährt: „Wenn die politischen Entscheidungsträger bei den Auswahlkriterien für die Blutspende von diesem wissenschaftlichen Stand abweichen wollen, dann stehen sie auch in der unmittelbaren Verantwortung gegenüber den Menschen, wenn diese zu Schaden kommen.“
Mittwoch, 11. Januar
Wo wir beim Thema „kleine Erfolge“ sind: In Berlin können Schulzeugnisse ab Sommer geschlechtsneutral formuliert werden. Die Zeugnisvorlagen werden dementsprechend angepasst. Anstelle von „er“ oder „sie“ kann künftig auch der Name eingetragen werden. Lehrkräfte werden zudem aufgerufen, die geschlechtliche Selbstbestimmung von Schüler*innen zu respektieren. In dem Schreiben der Bildungsverwaltung an die Schulleitungen, aus dem der rbb zitiert, heißt es: „Immer dann, wenn der Wunsch besteht, in Bezug auf die geschlechtliche Identität neutral bzw. mit dem Namen angesprochen zu werden, sind geschlechtsbezogene Personalpronomen und Formulierungen zu vermeiden.“ Für Schüler*innen, die auch weiterhin mit „er“ oder „sie“ angesprochen werden möchten, ändert sich rein gar nichts. Trotzdem tobt der rechte Mob im Internet, auch Dank BZ und Bild, die aus der Meldung folgende Schlagzeile machten „Berlin gendert erstmals Schulzeugnisse“. Ähem, ich fürchte da brauchen die Redaktionen noch etwas Nachhilfe: Gegendert sind die Schulzeugnisse schon immer, neu ist lediglich die Möglichkeit, sie zu ent-gendern. Aber wer nimmt es schon so genau, wenn die Empörungsmaschine so gut läuft…
Donnerstag, 12. Januar
In Deutschland laufen 212 offene Haftbefehle gegen 155 sogenannte „Reichsbürger“. Das geht aus einer Antwort des Justizministeriums auf eine Anfrage der LINKEN hervor, über die die ARD am Donnerstag berichtete. Warum die Haftbefehle nicht vollstreckt würden, wird nicht gesagt. Auch nicht, warum nicht alle Reichsbürger*innen auch als Rechtsextreme geführt werden. Nur 43 der 155 Personen werden vom BKA dem Phänomenbereich „Politisch motivierte Kriminalität rechts“ zugeordnet. So kann man Statistiken auch fälschen. Aber das BKA ist in guter Gesellschaft. Das Bundesamt für Verfassungsschutz geht von bundesweit rund 23.000 Reichsbürger*innen aus, stuft aber nur 1.250 Personen davon als rechtsextrem ein.
Freitag, 13. Januar
Apropos Rechtsextreme: Im Einzelfall-Tages-Abreißkalender ist diese Woche mal wieder eine rassistische Chatgruppe aufgeflogen. Diesmal beim LKA Sachsen-Anhalt. Wie das Landesinnenministerium am Freitag bestätigte werden vier LKA-Beamte verdächtigt, rechtsextreme Chatnachrichten ausgetauscht zu haben. Zwei der verdächtigen Cops sollen als Personenschützer des CDU-Ministerpräsidenten Reiner Haseloff (CDU) im Einsatz gewesen sein, die beiden anderen waren offenbar beim Spezialeinsatzkommando (SEK).
Samstag, 14. Januar
In dieser Woche begann die Polizei im Auftrag von RWE mit der Räumung von Lützerath, bzw. dem, was von dem Dorf übrig ist. Ich verzichte an dieser Stelle darauf, euch einen historischen Überblick über „Lützi“ zu geben, über den Braunkohleabbau in NRW und die Deals, die der Energiekonzern RWE mit Bundes- und Landesregierungen geschlossen hat, um seinen Profit zu maximieren. Ich verzichte auch darauf nachzuerzählen, wie sich am Beispiel Lützerath die Heuchelei der Grünen vortrefflich illustrieren lässt und ich gehe auch nicht darauf ein, inwiefern die Aktionen der „Letzten Generation“ in Kunstmuseen mit den Blockaden der Abrissbagger im Tagebau zusammenhängen. Ich beschränke mich heute auf das, was am Samstag passierte, als rund 35.000 Menschen nach Lützerath kamen (bzw. so nah ran, wie sie konnten) und gegen die Räumung, den Braunkohleabbau und den damit verbundenen Verstoß gegen das UN-Klimaschutzabkommen demonstrierten. Die Polizei, die bei ihren Einsätzen schweres Gerät von RWE verwendet (wie bspw. diesen Gefangenentransporter), ging mit selbst für Polizeiverhältnisse krasse Brutalität gegen die Demonstrierenden vor. Sanitäter*innen vor Ort meldeten am Abend zahlreiche Verletzte, darunter Schwerverletzte. Zu den von der Polizei verursachten Verletzungen zählten:
- zahlreiche Knochenbrüche verschiedenster Körperteile
- mindestens eine bewusstlose Person
- zahlreiche gezielte Schläge auf den Hals mit Fäusten und Schlagstöcken
- mindestens ein Hundebiss, der Krankenhaus behandelt werden muss
- zahlreiche Verletzungen durch Pfefferspray
- zahlreiche weitere Verletzungen, darunter mindestens eine Rippenprellung
Die Polizei leugnet ihrerseits natürlich jede „unverhältnismäßige“ Gewalt. Aber die öffentliche Empörung ist da. Immerhin! Erfahrungsgemäß regt sich der bequeme Mittelschichts-Bürgi eben erst dann, wenn es ihn selbst betrifft. Während Schwarze Menschen in diesem Land seit jeher auf die Polizeigewalt aufmerksam machen, die sie tagtäglich erleben, müssen weiße Menschen erst andere Weiße sehen, die von Cops verprügelt werden, um über das Problem von Polizeigewalt zu reden.
Ein bisschen aufheitern konnte mich dieses Video von Cops im Schlamm:
Und wenn wir schon über Polizeigewalt reden, in den USA ist mal wieder ein Schwarzer Mann von den Cops getötet worden. Der 31-jähriger Englischlehrer Keenan Anderson starb bereits letzte Woche, wie CNN am Samstag berichtete. Anderson starb an einem Herzstillstand, nachdem er wiederholt von der Polizei getasert worden war. Seine Cousine, die „Black Lives Matter“ Mitbegründerin Patrisse Cullors schrieb auf Instagram: „Keenan verdient es, jetzt am Leben zu sein, sein Kind verdient es, von seinem Vater aufgezogen zu werden. Keenan, wir werden für dich und für alle unsere Lieben kämpfen, die von staatlicher Gewalt betroffen sind.“ Keenan Anderson hinterlässt einen sechsjährigen Sohn. Zwei weitere Männer wurden dieses Jahr vom LAPD getötet, schreibt Cullors: Takar Smith (45) war Schwarz, sechsfacher Vater und er befand sich in einer ernsthaften psychischen Krise als die Polizei ihn in der Küche seiner Exfrau erschoss. Ein Video zeigt, dass keinerlei Gefahr für die Cops oder andere Personen bestand. Auch der 35-jährige Oscar Sanchez, bzw. Oscar Leon laut seiner Familie, wurde von der Polizei erschossen, während er sich in einem psychischen Ausnahmezustand befand. Auch hier bestand keine Gefahr für Dritte.
Sonntag, 15. Januar
Die Tagesschau meldet heute, dass das Bundesinnenministerium (Nancy „Girl Boss“ Faser) über eine Verschärfung des Strafrechts nachdenkt nach den Vorkommnissen in der Silvesternacht in Berlin. „Die aktuelle Entwicklung einer zunehmend brutalen Gewalt gegen Polizei- und Rettungskräfte unterstreicht, dass es hier eines klaren rechtspolitischen Signals bedarf, das die besondere Verwerflichkeit dieser Taten deutlich herausstellt und qualifiziert bestraft“, heißt es in einem Schreiben des BMI an die Koalitionsfraktionen im Bundestag. Auch eine SPD-Innenministerin hat einfach keine besseren Ideen hat als härtere Strafen, um egal welchen Problemen zu begegnen. Was die Tagesschau hingegen nicht berichtete, war eine Korrektur der Zahlen, die sie nach Silvester ungeprüft von der Polizei übernahm. Während es hieß, 145 Personen 18 verschiedener Nationalitäten seien im Zuge der „Ausschreitungen“ in Neukölln festgenommen worden, korrigierte die Polizei ihre Statistik Anfang der Woche. Die meisten (zwei Drittel) der 38(!) wegen „Böllerattacken“ auf Polizist*innen und Feuerwehrleute festgenommenen waren deutsche Staatsbürger und unter 21 Jahre alt.
Das war es für heute mit dem Wochenrückblick. Wie immer gilt: Wenn ihr meine Arbeit auch finanziell unterstützen wollt, könnt ihr das einmalig per PayPal oder mit einer Fördermitgliedschaft auf Steady tun. Ich freue mich auch über jede Neuanmeldung zu meinem kostenlosen Newsletter.
Immer wieder mind-blown wie die Staatsgewalt reagiert, wenn friedlich demonstriert wird.