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Ayşenur Halil und İkbal Uzuner wurden letzte Woche in Istanbul ermordet.

Misogynie, rein dienstlich

Feminist*innen in der Türkei protestieren gegen strukturelle Gewalt, Thomas Gottschalk jammert im SPIEGEL, in Halle tauchen am Gedenktag des Attentats Hakenkreuze auf und Neubrandenburg verbietet die Regenbogenfahne. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW41

Montag, 7. Oktober

Am 7. Oktober 2023 überfielen bewaffnete Kämpfer der Hamas israelische Zivilist*innen in einem grauenhaften und bis dato beispiellosen Angriff. 1.200 Menschen wurden getötet, über 200 verschleppt, es war der „schlimmste Pogrom an Juden seit dem Ende des Holocaust“, so die Tageschau. Der israelische Historiker und Holocaust-Forscher, Omer Bartov, findet den Pogromvergleich unpassend. Für ihn war es ein „großer terroristischer Angriff, ein Kriegsverbrechen, und möglicherweise ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Ein Jahr später wurde weltweit der Opfer des Terroranschlags gedacht, auch in Berlin. Doch wie immer, wenn der „Nahe Osten“ Thema ist, gab es auch an diesem Jahrestag ganz unterschiedliche Ansätze des Gedenkens. Während einige Gruppen ausschließlich der israelischen Opfer gedachten, nahmen andere den Tag zum Anlass, um ein Ende der seit einem Jahr andauernden Eskalation des Kriegs gegen die Palästinenser*innen und inzwischen auch den Libanon zu fordern. Wieder andere beteiligten sich erst gar nicht und setzten ihr dröhnendes Schweigen fort, dass sie seit nun einem Jahr mit der angeblichen „Komplexität“ des „Konflikts“ rechtfertigen. Zum Glück gibt es aber das Völkerrecht, das uns eine Leitlinie sein kann bei der Bewertung von Situationen wie der in Nahost. Terror gegen Zivilist*innen und sexualisierte Gewalt sind kein Widerstand und auch nicht durch das Völkerrecht gedeckt. Doch ein Völkerrechtsbruch legitimiert nicht den nächsten. Israels Krieg gegen die Zivilbevölkerung in Gaza und Libanon ist weder gerechtfertigt noch verhältnismäßig, davon zeugen die inzwischen 42.000 getöteten Palästinenser*innen, genauso wie die 1 Millionen vertriebenen im Libanon, die 2.000 Toten, die Angriffe auf UN-Mitarbeiter*innen und die mindestens 16 Fälle mutmaßlicher Kriegsverbrechen durch die IDF, die Amnesty International in Gaza untersucht. Dabei seien 370 Zivilpersonen, darunter 159 Kinder, getötet und Hunderte weitere verwundet worden. Im Norden Gazas sind 400.000 Menschen eingeschlossen, keine humanitäre Hilfe erreicht sie. „Allein die Totalblockade von Gaza ist ein Kriegsverbrechen“, sagt Julia Duchrow von Amnesty in Deutschland. Der Historiker und Holocaust-Forscher Amos Goldberg von der Hebräischen Universität Jerusalem, sagt, dass er „gezögert habe, Israels Vorgehen in Gaza als Völkermord zu bezeichnen“, aber könne angesichts der Fakten nicht mehr schweigen:

„Wenn man als Historiker das Gesamtbild betrachtet, erkennt man alle Elemente eines Genozids. Es gibt eine klare Absicht: Der Präsident, der Premierminister, der Verteidigungsminister und viele hochrangige Militäroffiziere haben dies sehr offen zum Ausdruck gebracht. Unzählige Male wurde dazu aufgefordert, Gaza in Schutt und Asche zu legen. Es wurde behauptet, dass es dort keine unschuldigen Menschen gäbe. Offene Appelle zur Zerstörung Gazas sind aus sämtlichen Schichten der Bevölkerung und der politischen Führung zu vernehmen. Innerhalb der israelischen Gesellschaft herrscht eine radikale Atmosphäre der Entmenschlichung der Palästinenserinnen und Palästinenser. In diesem Ausmaß habe ich das in den 58 Jahren, die ich hier lebe, so nicht erlebt.“

Jurist*innen in Deutschland sind skeptisch. So sagte Stefan Talmon, Professor für Völkerrecht an der Universität Bonn, im Januar zum ZDF: „Völkermord setzt eine Zerstörungsabsicht voraus, die hier meiner Meinung nach nicht vorliegt.“ Und Völkerrechtsprofessor Daniel-Erasmus Khan von der Universität der Bundeswehr München meinte im Juni, ein Vernichtungswille sei der israelischen Regierung kaum nachzuweisen.

Auch am Montag

Kevin Kühnert gab bekannt, dass er als SPD-Generalsekretär zurücktritt und auch zur nächsten Bundestagswahl nicht mehr antritt. Dass das Erwähnung im feministischen Wochenrückblick findet, liegt aber nicht an der Meldung selbst, sondern an ihrer Rezeption in den Medien, speziell in der taz. Dort kommentierte am Montag die Leiterin des Parlamentsbüros Anna Lehmann Kühnerts Rücktritt mit den Worten: „Wie die taz aus Parteikreisen erfuhr, sei Kühnert nicht lebensbedrohlich erkrankt, sondern vor allem psychisch angeschlagen.“ Mir ist beim Lesen mein Escitalopram im Hals stecken geblieben. Nicht lebensbedrohlich? Zwei Drittel aller Menschen, die Suizid begehen, haben Depressionen, Magersucht ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Todesrate, jedes Jahr sterben rund 5.000 Menschen in Deutschland im direkten Zusammenhang mit Alkoholabhängigkeit, ganz zu schweigen von den jährlich rund 14.000 Menschen, die an einer ausschließlich durch Alkoholkonsum bedingten Krankheit sterben. Psychische Erkrankungen sind tödlich! Das man das im Jahr 2024 noch betonen muss, zeugt davon, wie wenig die Sensibilisierungs- und Aufklärungskampagnen bewirken. So wenig, dass eine taz-Redakteurin es klingen lässt, als sei Kevin Kühnert nur ein bisschen „angeschlagen“, aber doch nicht wirklich krank. Und ganz ehrlich, auch wenn die Erkrankung „nicht lebensbedrohlich“ ist, ist die Entscheidung, der eigenen Gesundheit den Vorrang vor der Karriere zu geben nichts, was in den Medien belächelt werden sollte.

Dienstag, 8. Oktober

Einen Tag vor dem Jahrestag des Attentats in Halle, bei dem ein Rechtsextremist versuchte, die Synagoge zu stürmen und Jana L. und Kevin S. tötete, wurde eine Gedenktafel für die Opfer mit einem Hakenkreuz beschmiert. Die mobile Tafel steht am „TEKİEZ“ in der Ludwig-Wucherer-Straße, dem Ort, wo bis zum Terroranschlag der „Kiez-Döner“ war, wo Kevin L. erschossen wurde. Das „TEKİEZ“ ist ein deutschlandweit einzigartiger Raum des Erinnerns und der Solidarität, der Menschen am Tatort zusammenbringt und von Überlebenden antisemitischer und rassistischer Gewalt getragen wird. Insgesamt vier Hakenkreuzschmierereien wurden in direkter Nachbarschaft entdeckt. Einen Tag zuvor meldete die Stadt Zeitz in Sachsen-Anhalt, dass alle Stolpersteine gewaltsam herausgerissen und gestohlen wurden. Insgesamt zehn der Gedenksteine seien auf Plätzen und Gehwegen in der Stadt verlegt gewesen. Die Stadt ruft nun zu Spenden auf, um die Stolpersteine zu ersetzen. Landrat Götz Ulrich erklärte: „Diese Tat ist unverzeihlich und niemals zu entschuldigen. Wer dies tut, will auch den Holocaust aus unserer Erinnerungskultur herausreißen. Das größte Menschheitsverbrechen aller Zeiten muss uns immer Mahnung bleiben, wozu Menschen fähig sind und wozu Deutsche fähig waren. Die Steine müssen sofort ersetzt werden. Hierzu werden finanzielle Mittel benötigt.“

Mittwoch, 9. Oktober

In Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern) stimmte die Stadtvertretung dafür, das Hissen der Regenbogenfahne am Bahnhof künftig zu verbieten. 15 Stadtvertreter*innen stimmten dafür, elf dagegen und ganze acht enthielten sich. In der Stadtvertretung ist die AfD Stärkste Kraft mit neun Sitzen, ebenfalls für den Antrag stimmten Vertreter vom BSW, die „Bürger für Neubrandenburg“ (BfN) sowie die „Wählergemeinschaft Projekt NB“. Eingebracht wurde der Antrag von Tim Großmüller, der für die rechtspopulistische Wählergruppe „Stabile Bürger Neubrandenburg“ (SBNB) in der Stadtvertretung sitzt. Großmüller, ein rechter Gym-Bro, der auf Instagram u.a. gegen Ricarda Lang hetzt, war mit einem T-Shirt mit der Aufschrift „Lieber ein grünes Haus, als einen Grünen im Haus“ zur Sitzung erschienen und hatte neun weitere Anträge im Gepäck, u.a. für ein Verbot von „Werbung mit homosexuellen Inhalten“ und ein „Genderverbot“, die aber allesamt wegen Formfehler abgelehnt wurden. Am Tag nach der Stadtvertretersitzung erklärte Neubrandenburgs parteiloser Oberbürgermeister Silvio Witt seinen Rücktritt. Der 46-Jährige, der mit einem Mann verheiratet ist, war schon lange offener und verdeckter Queerfeindlichkeit ausgesetzt, auch aus den Reihen der Stadtvertretung. Er sei „hinter vorgehaltener Hand etwa ‚Das Mädchen‘ genannt worden sein“, berichtet der Nordkurier. „Die Signale aus Neubrandenburg sind beschämend und unerträglich und erinnern zugleich an die dunkelste Zeit unserer Geschichte“, kommentierte die Fraktion „Die Linke“ im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern den Beschluss der Neubrandenburger Stadtvertretung. „Besonders enttäuschend ist das Abgeordnete der CDU und des BSW keine Hemmungen hatten dem zuzustimmen oder sich zu Enthalten. Mit einem solchen Antrag ein Zeichen gegen Schwule, Lesben und Transpersonen zu setzen, ist einer weltoffenen Stadt wie Neubrandenburg nicht würdig. Die Trägerinnen und Träger dieser Entscheidung lehnen eine Stadt der Vielfalt ausdrücklich ab“, erklärte der parlamentarische Geschäftsführer, Torsten Koplin. In Neubrandenburg sammeln nun Bürger*innen Unterschriften gegen das Verbot. Die Petition mit dem Titel „Für das Wiederaufhängen der Regenbogenflagge in Neubrandenburg!“ hatte am Sonntagnachmittag bereits rund 2.600 stimmen.

Donnerstag, 10. Oktober

Der 11. Oktober ist Weltmädchentag, leider selten ein Tag für gute Nachrichten. Und auch dieses Jahr machte vor allem eine Meldung Schlagzeilen: „370 Millionen Mädchen Opfer sexualisierter Gewalt“ lautete die Überschrift auf Tagesshau.de am Donnerstag. Anlass ist die Veröffentlichung einer neuen UNICEF-Studie, nach der weltweit 370 Millionen Mädchen vor ihrem 18. Lebensjahr sexualisierte Gewalt erlebt haben. Besonders gefährdet seien Teenagerinnen zwischen 14 und 17 Jahren und Mädchen in Krisenregionen, wo Vergewaltigungen als Kriegswaffe eingesetzt werden. Die meisten Täter stammen aus dem familiären Umfeld. Claudia Cappa, Kinderschutzexpertin bei und Leiterin der Erhebung fordert umfassendere Maßnahmen zum Schutz von Mädchen und weitreichende strukturelle Veränderungen: „Wir müssen die Ungleichbehandlung der Geschlechter bekämpfen, ebenso falsche Vorstellungen über Männlichkeit und sexuelles Anspruchsdenken der Männer sowie die Stigmatisierung der Opfer.“

Freitag, 11. Oktober

„Rein dienstlich“ habe Thomas Gottschalk Frauen im Fernsehen begrapscht, erklärte der Prototyp des ekligen Onkels in einem am Freitag erschienenen SPIEGEL-Interview. „Wie ein Schauspieler, der im Film küsst, weil es im Drehbuch steht. Das lasse ich mir nicht als Attacke vorwerfen“, sagt er und vergisst, dass Schauspieler*innen am Set ihre Zustimmung zur Kussszene geben. (Und wenn nicht, dann handelt es sich um einen sexualisierten Übergriff.) Gottschalk jammert, dass ihm die Haare ausfallen, aber noch mehr über die Jugend, die ihre „Work-Life-Balance“ zu wichtig nähme und nicht geohrfeigt werden wolle (ihm hätte es ja auch nicht geschadet). Aber vor allem regt er sich darüber auf „in eine bestimmte Ecke gestellt“ zu werden, während er M- und Z-Wort dropt. Es ist wie erwartet, inklusiver der Misogynie, wenn er über das Aussehen von Frauen herzieht und behauptet, Frauen würden kosmetische Eingriffe durchführen lassen, „weil sie ihrem Kerl beweisen wollen, sie hätten eine glatte Haut“. Seine Gegrapsche sei damals übrigens vollkommen okay gewesen, nur heute sei es eben nicht mehr „politisch korrekt“. Gottschalk erklärt: „Ich betrete heute auch keinen Aufzug mehr, in dem nur eine Frau steht. Was mache ich, wenn sie im zweiten Stock rausrennt und ruft: ‚#MeToo, der hat mich angefasst!‘?“ Keine Sorge Tommy, die Gründe sind uns egal, wir sind einfach froh, wenn du Abstand hältst, danke.

Samstag, 12. Oktober

Schon wieder wurde ein Mensch in psychischer Ausnahmesituation von der Polizei erschossen. In Bochum hatte ein 32-Jähriger in seiner Wohnung randaliert und Gegenstände aus dem Fenster geschmissen. Die Nachbar*innen riefen die Polizei. Als die anrückte, sei der Mann mit einem Hammer in der Hand aus der Wohnung gekommen, er soll die Einsatzkräfte angegriffen haben, bevor er sich wieder in seine Wohnung zurückzog. Die Cops riefen daraufhin eine Spezialeinheit dazu, natürlich keine mit psychologischen Kenntnissen, sondern die Rambo-Truppe. Die verschaffte sich gewaltsam Zugang zur Wohnung und feuerten auf den Mann, der noch am Tatort verstarb. Laut einem Sprecher der Polizei liegen erste Hinweise vor, dass der Getötete psychisch krank war.

Auch am Samstag

„Erdoğan Mörder! AKP Mörder!“, riefen die Protestierenden am Samstag in Istanbul. Die feministische Demonstration richtet sich gegen das erschreckende Ausmaß misogyner Gewalt und die Untätigkeit der Regierung. die brutalen Femizide der letzten Wochen hatten die Proteste ausgelöst. In Istanbul hatte ein 19-jähriger Mann in aller Öffentlichkeit seine Freundin und seine Ex-Freundin, İkbal Uzuner und Ayşenur Halil, ermordet und zerstückelt. 299 Morde an Frauen wurden seit Anfang des Jahres bereits registriert, weitere 160 „verdächtige Todesfälle“ gelten offiziell als Suizide oder Unfälle. Die Türkei ist 2021 aus der Istanbul-Konvention ausgestiegen, die den Schutz von Frauen vor Gewalt zur staatlichen Aufgabe erklärt. Die AKP-Regierung begründete das mit der angeblichen Bedrohung traditionelle Familienwerte und der Förderung von Homosexualität durch die Konvention. Die Gewalt gegen Frauen und alle, die sich nicht dem heteronormativen Rollenbild entsprechend verhalten, ist das Symptom eines zutiefst patriarchalen und misogynen Systems. Die Betroffenen sind oft schutzlos, Täter werden nicht verfolgt und Opfer erhalten keinen oder kaum Schutz. Die Frauenverachtung zeigt sich auch in Aussagen führender Politiker. So sagte Präsident Erdoğan beispielsweise „Frauen und Männer kann man nicht gleichstellen“ und „Die einzige Karriere einer Frau ist die Mutterschaft“. Der frühere Vizepremier Bülent Arınç sagte: „Eine Frau, die lacht, ist unanständig.“ Neben der Demonstration in Istanbul wurde auch in Ankara und Izmir protestiert und sogar in konservativ geprägten Städten wie Şanlıurfa habe es Aufrufe zu Demonstrationen gegeben.

Sonntag, 13. Oktober

Seit gestern läuft der Parteitag der Berliner AfD im brandenburgischen Jüterbog. Die Partei hatte wohl gehofft, im Umland mit weniger Protest konfrontiert zu werden, aber einige hundert Antifaschist*innen waren trotzdem in die Kleinstadt im Landkreis Teltow-Fläming gekommen. Die extrem rechte Partei kündigte an, bei der kommenden Bundestagswahl die Regierung übernehmen zu wollen und schickt die Nazi-Erbin Beatrix von Storch als Berliner Spitzenkandidatin ins Rennen. 87 Prozent stimmten für die 53-jährige, die ironischerweise „Antisemitismusbeauftragte“ der AfD-Bundestagsfraktion ist.

Wenn ihr euch an der Kampagne für ein AfD-Verbot beteiligen wollt, findet ihr hier alle Infos.

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