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Werbe-Poster eines Fitnessstudios für Frauen. Welche Lebensqualität das sein soll, ist mir schleierhaft.

Selbsthass als Normalzustand

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Ich sehe das Bild einer Frau, oder vielmehr einen Teil davon. Oberhalb der Brüste und auf Höhe des Schritts ist das Bild abgeschnitten. Ich sehe einen schwarzen BH und schwarze Leggins. Ich sehe, dass die Frau leicht nach vorn gebeugt steht und ich sehe ihre Hände. Die linke zerrt an ihrem Bauch, greift das Fleisch. Die rechte hält eine Schere, die Klingen an der Haut, kurz vor dem Schnitt. Ich sehe nur diesen Bildausschnitt, aber ich sehe mehr. Ich sehe den Schmerz, den Hass, den Ekel. Ich sehe die Verachtung. Ich spüre den Schmerz. Wie oft habe ich schon meine Fingernägel in die unterste, die größte meiner Bauchrollen gegraben. An meinem Fleisch gerissen und es gehasst. Mich gefragt, warum ich es nicht schaffe, diesen Bauch loszuwerden, zu straffen, Muskeln aufzubauen und Fett zu verlieren. „Dünn sein“ war lange mein Wunsch, wenn ich Geburtstagskerzen ausgepustet oder eine Sternschnuppe gesehen habe.

Mit den Augen der Anderen

Ich war acht oder neun, als mein Basketballtrainer mir in den Bauch gekniffen und gesagt hat, ich sollte besser mal ein paar Sit-Ups machen. Ich war zehn, als ich zum Besuch bei meiner Oma einen Rock getragen habe und sie beim ersten Blick auf meine Beine gesagt hat: „Da hast du ja ein paar ordentliche Stempel.“

Davor war mein Körper einfach nur ein Körper. Zwei Arme, zwei Beine, ein Bauch, ein Po. Er war gut zum Klettern, beim Inlineskaten und zum Über-den-Bach-springen und nicht so gut beim Basketball oder beim Rennen. Es fühlte sich schön an, am Rücken gestreichelt und furchtbar, von meiner Schwester gekitzelt zu werden. Bis ich meinen Körper mit den Augen von anderen gesehen habe, habe ich ihn gar nicht gesehen, ihn zumindest nicht bewertet. Ich weiß heute nicht mehr genau, wie alt ich war, als ich aufgehört habe, im Sommer zum Baggersee zu fahren oder im Winter ins Hallenbad. Ich weiß nicht, wie viele Jahre ich selbst im Hochsommer Strumpfhosen unterm Kleid getragen habe, um meine weißen, dicken Beine zu verstecken.

Freundinnen sagten mir, „Du spinnst doch“, aber ich glaubte ihnen nicht. Ich war mir sicher, dass sie nur nett sein wollten. Und außerdem wusste doch auch niemand, wie schlimm es wirklich war. Ich lernte es zu kaschieren. Manchmal sah ich mich gut angezogen im Spiegel und fand mich schön. Aber dann fiel mir ein, wie ich im Bikini aussah und der Moment des Friedens war vorbei.

Selbst Schuld

Und der Hass auf meinen Körper weitete sich aus. Es war schließlich alles meine eigene Schuld. Was musste ich auch ständig fressen? Wieso war ich einfach zu faul für Sport? Ich konnte niemand anderen für meine Figur verantwortlich machen, ich hatte mir das selbst zuzuschreiben. Ich war einfach zu schwach, zu faul, zu wasauchimmer. Ich habe versucht nichts zu essen, ich habe versucht, es wieder auszukotzen. Beides hat nicht geklappt. Meine Disziplin reichte nicht mal für eine Essstörung, von Sport ganz zu schweigen.

Ich gewöhnte mich daran, mit mir selbst unzufrieden zu sein. Ich versteckte meinen Körper auch vor mir selbst. Ich betrachtete mich nicht im Spiegel, ich duschte schnell und möglichst, ohne zu genau hinzusehen. Mein Körper war mir fremd und ich hörte einfach auf, ihn zu beachten. Hin und wieder versuchte ich abzunehmen, hielt Diät, machte Sport. Aber es ging nie lange gut und letztlich nahm ich es so hin: Meine dicken Beine, meinen Schwabbelbauch, meine Disziplinlosigkeit, meine Schwäche.

Verschwendete Lebenszeit

Das erste Mal, dass ich Shorts in der Öffentlichkeit getragen habe war im Sommer 2018. Damals hatte ich nach viel Sport und strengem Verzicht auf Zucker und Fett ziemlich abgenommen und manchmal sogar das Gefühl, mich nicht für meinen Körper schämen zu müssen. Dann hörte ich mit dem Rauchen auf und wiege heute 15 Kilo mehr als vor zwei Jahren.

Ich bin weit davon entfernt, mit meinem Körper zufrieden zu sein. Aber ich arbeite daran, mich davon weniger runterziehen zu lassen. Fast mein ganzes Leben lang habe ich mich mit meinem Gewicht, meiner Figur beschäftigt, mich hässlich gefühlt und unzulänglich. Heute ist mir klar, wie viel Lebenszeit ich mit diesen Gedanken verschwendet habe. Ich weiß nicht, wie viel Spaß ich verpasst habe, weil ich nie mit den anderen zum See gefahren bin. Aber ich weiß, dass ich nicht für den Rest meines Lebens so weiter machen möchte.

Ich will das nicht mehr

Ich will Sport machen, weil ich keine Lust auf Rückenschmerzen habe und weil ich nicht immer so schnaufen will, wenn ich mein Fahrrad in den zweiten Stock trage. Vor allem aber will ich diesen Schmerz nicht mehr spüren, den der Selbsthass mit sich bringt. Das Gefühl, sich die Speckrollen am liebsten mit der Schere abschneiden zu wollen. Dieses Bild ist so gewaltvoll, so unglaublich brutal. Aber irgendjemand hat entschieden, dass es sich als Werbung für ein Fitnessstudio eignet. Wie krank das ist und wie menschenverachtend. Ich weiß nicht, wie viele Frauen es sehen und sich für ihr Bauchfett schämen. Die die Widerwärtigkeit dieses Posters nicht sehen, sondern nur ihre eigene Unzulänglichkeit. Das macht mich wütend und traurig und ich will da nicht mehr mitmachen.

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