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Versagen in Echtzeit

Gaza ist ein Massengrab, Ungarn wird noch queerfeindlicher, Großbritannien streicht trans Frauen die Rechte und eine sächsische Kleinstadt veröffentlicht Antisemitismus und Rassismus im Amtsblatt. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW16

​In Ungarn hat die rechtsextreme Regierung unter Viktor Orbán am Montag (14. April) erneut die Verfassung geändert und die Rechte von queeren Menschen weiter eingeschränkt. Künftig werden nur noch zwei Geschlechter – männlich und weiblich – anerkannt. Das Geburtsgeschlecht gilt als unveränderlich, was trans*, inter* und nicht-binären Menschen die offizielle Existenz abspricht. Die Regierung beruft sich dabei auf die angeblich „natürliche Ordnung“, der biologischen Tatsache zum Trotz, das Geschlecht vielfältiger ist als das binäre Modell von männlich oder weiblich. „Das Geburtsgeschlecht eines Menschen ist die biologische Grundausstattung, die – in Übereinstimmung mit der Schöpfungsordnung – entweder männlich oder weiblich sein kann“, heißt es im Gesetzestext. Inter* Personen werden mit der Berufung auf die christliche Schöpfungslehre einfach ausgelöscht. Wie bei Faschisten üblich, wird beim Verbot von Pride-Paraden mit dem „Kinderschutz“ argumentiert; das Recht des Kindes auf moralische, körperliche und geistige Entwicklung habe Vorrang vor anderen Rechten, einschließlich der Versammlungsfreiheit. Doch die Verfassungsänderung könnte über das Verbot von LGBTQIA-Veranstaltungen hinaus wirken. Letztlich erlaubt es die Formulierung, künftig alles zu untersagen, was einem imaginierten Kindeswohl entgegensteht, auch Proteste gegen die Regierung zum Beispiel.

​Im Unterschied zu Ungarn ist Großbritannien kein Mitglied der EU mehr, in Sachen Transfeindlichkeit gehören die beiden Länder jedoch dem selben Club an. Das höchste Gericht des Landes, der UK Supreme Court, urteilte am Mittwoch (16. April), dass trans Frauen keinen Anspruch auf Schutz im Rahmen von Frauenrechten haben. „Die Definition von Geschlecht im Gleichstellungsgesetz von 2010 stellt klar, dass das Konzept von Geschlecht binär ist, eine Person ist entweder eine Frau oder ein Mann“, heißt es in dem Urteil und Frau sei nur, wer „biologisch weiblich“ geboren sei. Die Initiative TransActual veröffentlichte ein Statement und erklärte: „Die trans Community ist über das heutige Urteil erschüttert.“ Der Prozess sei nicht fair gewesen, da ausschließlich transfeindliche Gruppen gehört worden seien, trans Betroffene und Expert*innen hätten keine Stimme gehabt. Mit dem Urteil würden trans Menschen von gesellschaftlicher Gesellschaft gänzlich ausgeschlossen: „Heute fühlen wir uns sehr ausgegrenzt“, heißt es in der Stellungnahme. Der Hass gegen trans Personen ist in Großbritannien seit Jahren massiv. Die zahlenmäßig kleine Gruppe wird zu einer Bedrohung für die gesamte Gesellschaft stilisiert. Angefacht wird die Hetze von sogenannten „Gender Criticals“, überwiegend weißen cis Frauen, die ihren Hass auf trans Frauen als „Kampf für Frauenrechte“ verkaufen wollen. Ihr prominentestes Mitglied: J.K. Rowling. Die Milliardärin spendete öffentlichkeitswirksam 70.000 Pfund an die Hassgruppe „For Women Scotland“ (FWS), die die Klage am Obersten Gericht erwirkten. Der Verein FWS, der von deutschen Medien fälschlicherweise als „Frauenrechtsorganisation“ bezeichnet wird, gründete sich 2018 einzig mit dem Ziel, die Reform zur Anerkennung des amtlichen Geschlechts in Schottland zu verhindern. Es ist allein der Transhass, der diese Vereinigung antreibt. Dass die mediale Berichterstattung über das niederschmetternde Gerichtsurteil mit Fotos von jubelnden TERFs bebildert wird, ist besonders schmerzhaft. Es wäre wie die Abschaffung des Asylrechts mit Bildern feiernder Neonazis zu untermalen. Die britische LGBTQIA-Organisation Stonewall teilt „die tiefe Besorgnis über die weitreichenden Auswirkungen des heutigen Urteils des Obersten Gerichtshofs“. Es sei „unglaublich beunruhigend für die trans Community“ und alle Unterstützer*innen. Der Supreme Court setzt sich in seiner Urteilsbegründung über wissenschaftliche Expert*innen hinweg, die schon lange erklären, dass Geschlecht nicht binär ist. Wie die Umsetzung des Urteils in der Praxis aussehen wird, ist noch völlig offen. Trans Personen sind nach dem gültigen Equality Act vor Diskriminierung geschützt, inwieweit ihre Rechte nun durch das aktuelle Urteil beschränkt werden dürfen, werden weitere Gerichtsverfahren zeigen. Fest steht aber, dass die transfeindliche Stimmung in Großbritannien weiter angeheizt wurde. Doch TransActual erklärt: „wir haben schon Schlimmeres überstanden und werden nicht aufgeben. Was auch immer die Welt uns vorwirft, wir werden zurückkommen, jedes Mal stärker und mutiger als zuvor.“

Eine Dachdeckerfirma in Sebnitz schaltete im städtischen Amtsblatt, das am Donnerstag (17. April) erschien, eine ganzseitige Anzeige, offenbar zum 30-jährigen Bestehen des Betriebs. Neben Dank an die „Kunden und Geschäftspartner“ enthält die Annonce auch den Hinweis, dass ab 2026 ein Ausbildungsplatz zu vergeben ist: „ABER keine Hakennasen, B****s oder Zeppelträger!“ Der Dachdeckermeister Ronney Weis macht klar, dass er keine Jüdinnen*Juden oder Schwarze Menschen als Lehrlinge will. Was „Zeppelträger“ heißen soll, kann ich nicht sagen. Der MDR glaubt, es geht um Muslime, der Spiegel hat ChatGPT gefragt und mutmaßt, dass Menschen gemeint sein könnten, die eine Maske tragen, „was auf einen Hintergrund in der Coronaleugner- und rechtsesoterischen Szene hinweisen könnte.“ Sebnitz‘ Bürgermeister, Ronald Kretzschmar, hat Anzeige gegen den Dachdecker und den Verlag gestellt, der die Anzeige angenommen und veröffentlicht hat. „Wittich Medien“ erklärte auf Anfrage des MDR, die Veröffentlichung sei ein „schwerwiegender Fehler, für den wir aufrichtig um Entschuldigung bitten“. Ronney Weis hingegen versteht die Aufregung nicht, er sei sich „der Tragweite der verwendeten Begriffe nicht bewusst gewesen“, so der MDR. „Wenn Antisemitismus und rassistische Hetze wieder öffentlich salonfähig gemacht werden, stehen wir auf – laut, sichtbar und solidarisch. Am Montag sind wir viele! Kommt zur Kundgebung auf den Markt und zeigt: Sebnitz ist kein Ort für Nazis!“, erklärte Peter Brettschneider, Ortsvorsitzender der Linken Sebnitz, auf Instagram.

Ostdeutschland – Sachsen – Sebnitz: April 2025 – UNFASSBAR!

Ilko-Sascha Kowalczuk (@ilkokowalczuk.bsky.social) 2025-04-16T22:14:40.906Z

In Zwickau erhielt die Oberbürgermeisterin Constance Arndt eine rechtsextreme Drohung, die sie am Dienstag (15. April) auf Instagram veröffentlichte. Der Absender, der sich „Adolf Hitler“ nennt, schrieb ihr über ein digitales Kontaktformular: „Denken Sie an Walter Lübke. Immer schön aufpassen.“ Als E-Mailadresse ist „nsu@gmail.com“ angegeben. Drohungen wie diese seien kein Einzelfall sagt Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) zur Freien Presse. In Oelsnitz (Erzgebirge), wo bei der vergangenen Bundestagswahl 46,7 Prozent die AfD gewählt haben, bat eine Lehrerin um Versetzung, nachdem sie auf dem Schulparkplatz von drei Vermummten mit Reichskriegsflagge beleidigt und angegriffen wurde. Die Unbekannten riefen „Sieg Heil“ und „Wir schicken dich ins KZ“. Der Vorfall ereignete sich bereits im Januar, wie Zeit Online am Montag (14. April) berichtete. Dem Schulleiter sei bewusst, dass Rechtsextremismus in der Region ein Problem ist. Es habe Hakenkreuz-Schmierereien gegeben und erst vor wenigen Tagen seien „rechtsradikale Aufkleber“ entdeckt worden. Es gebe Elternhäuser, „die tendieren in eine rechtsradikale Richtung und geben dieses Denken an ihre Kinder weiter“, sagt der Schulleiter, aber es beträfe „nicht die Mehrheit der Schüler“. Im vergangenen Jahr wurden 154 rechtsextrem motivierte Vorfälle von den Schulaufsichtsbehörden in Sachsen erfasst. In Zeithain im Landkreis Meißen dursuchte die Polizei am Donnerstag (17. April) eine Wohnung, in der ein 16-Jähriger offenbar große Mengen tödliches Gift hergestellt und aufbewahrt hatte. Im Dachgeschoss seines Elternhauses soll der Jugendliche die Pflanzengifte Rizin und Aconitin gemischt haben. Trotz des Verdachts auf Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz, wurde kein Haftbefehl ausgestellt, was darauf schließen lässt, dass es sich nicht um einen Tatverdächtigen mit sogenanntem Migrationshintergrund handelt. Einfach ein ordinary white boy, der in seinem Kinderzimmer Biowaffen bastelt, was soll schon schiefgehen. An der TU Ilmenau in Thüringen hat ein 21-Jähriger bereits am vergangenen Donnerstag überwiegend ausländische Studierende mit Gummigeschossen attackiert. Aus einem Auto heraus zielte und schoss der Mann mit einer Pistole auf vorbeilaufende Menschen. Ein politisches Motiv werde geprüft, so die Polizei. Der Tatverdächtige wurde kurzzeitig festgenommen, aber schnell wieder freigelassen – auch hier handelt es sich sicher um einen weiß-deutschen Mann, der in der Logik deutscher Sicherheitsbehörden ja gar keine Gefahr darstellen kann, solange sich die Gewalt gegen nicht-weiße Menschen richtet. Verzeiht mir den Zynismus, aber es ist einfach so bodenlos.

„Der Gazastreifen hat sich in ein Massengrab für Palästinenser*innen und jene, die ihnen helfen, verwandelt. Wir erleben in Echtzeit die Zerstörung und Vertreibung der gesamten Bevölkerung in Gaza,” sagte Amande Bazerolle von „Ärzte ohne Grenzen“ in Gaza in einer Stellungnahme vom Mittwoch (16. April). Die Hilfsorganisation prangert die jüngste Massentötung von humanitären Nothelfer*innen durch das israelische Militär an. Am 30. März wurden in Rafah im Süden des Gazastreifens die Leichen von 15 Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen in einem Massengrab gefunden. Sie seien im Hilfseinsatz von israelischen Soldat*innen getötet worden. Es gebe klare Belege dafür, „dass die Helfenden eindeutig gekennzeichnet und als solche identifizierbar waren, was die ursprüngliche Darstellung der israelischen Behörden infrage stellt“, heißt es in der Erklärung von „Ärzte ohne Grenzen“. „Diese schreckliche Tötung von Helfenden ist ein weiteres Beispiel für die eklatante Missachtung des Schutzes von humanitär und medizinisch Helfenden durch die israelischen Streitkräfte. Das Schweigen und die bedingungslose Unterstützung von Israels engsten Verbündeten bestärken diese Handlungen“, sagt Claire Magone, Generaldirektorin von „Ärzte ohne Grenzen“ Frankreich. Amande Bazerolle erklärt: „Die israelischen Behörden blockieren seit über einem Monat vorsätzlich jegliche Hilfsgüter für den Gazastreifen. Humanitär Helfende müssen mitansehen, wie Menschen leiden und sterben, während sie mit erschöpften Vorräten Hilfe leisten und dabei denselben lebensbedrohlichen Bedingungen ausgesetzt sind (…) Unter solchen Umständen können sie ihren Einsatz auf keinen Fall erfüllen. Das ist kein humanitäres Versagen – das ist eine politische Entscheidung und ein vorsätzlicher Angriff auf die Überlebensfähigkeit eines Volkes, der ungestraft ausgeführt wird.” Israel selbst streitet die Vorwürfe nicht mal mehr ab. „Israels Politik ist klar: Es kommt keine humanitäre Hilfe nach Gaza“, verkündete der israelische Verteidigungsminister Israel Katz, die Blockade von Hilfsgütern sei eines der wichtigsten Druckmittel gegen die Hamas. ​Israel plant, Teile Gazas, des Libanons und Syriens dauerhaft zu besetzen. IDF-Truppen sollen in den sogenannten „Sicherheitszonen“ bleiben, was nichts anderes als eine gewaltsame Aneignung von Territorium ist, die allgemein als Verstoß gegen das Völkerrecht angesehen wird.

Weitere Meldungen diese Woche

Erneut wurde in Berlin eine Frau von ihrem (Ex-)Partner getötet. Es ist der dritte Feminizid innerhalb von zwei Wochen. Nach Spandau (3. April) und Moabit (10. April) wurde am Donnerstag (17. April) in Britz eine 37-Jährige Frau schwerverletzt im Hausflur eines Wohnhauses gefunden, sie starb noch am Tatort. Der mutmaßliche Täter ist der 44 Jahre alte, getrenntlebende Ex-Partner. Zwei Töchter mussten die Gewalttat offenbar mit ansehen. Insgesamt habe das Paar vier Kinder gehabt, so ein Nachbar.

Eine Recherche von FragDenStaat.de brachte diese Woche ans Licht, dass in neun Bundesländern interne Vorschriften existieren, angebliche Gewalt gegen Polizist*innen härter zu verfolgen als tatsächliche Polizeigewalt. Exemplarisch wird eine geheime Anweisung des Justizministeriums in NRW veröffentlicht, in der es heißt, dass bei Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger*innen die Einstellung eines Verfahrens wegen Geringfügigkeit „regelmäßig nicht in Betracht“ komme. Normalerweise hat die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, die Anklage fallenzulassen, wenn kein großer Schaden entstanden ist. Im Falle von Taten, die sich gegen die Polizei richten, geht das ganz offiziell nicht. „Hier wird durch die Exekutive de facto ein Sonderstrafrecht geschaffen“, sagt Lukas Theune, Anwalt und Geschäftsführer des Republikanischen Anwältinnen-und-Anwälte-Vereins (RAV).

An der Florida State University erschoss am Donnerstag ein 20-jähriger Student zwei Menschen und verletzte fünf weitere. Der Täter, ein Republikaner, der Politikwissenschaft studierte, benutzte offenbar eine Dienstwaffe seiner Mutter, einer Polizistin. Kommiliton*innen des Täters beschreiben ihnen als „beyond conservative“, er habe über die „Verheerungen des Multikulturalismus“ und des Kommunismus gesprochen und darüber „wie sie Amerika ruinieren“. Auf Instagram zitiert er die Bibel, in seinem Profilbild trägt er ein Kreuz um den Hals. (CNN)

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