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Die Bundesregierung streicht die Mittel für die zivile Seenotrettung. (Foto: Canva)

Kein Ausrutscher

Die Zeit veröffentlicht einen menschenverachtenden Text und depubliziert ihn dann, die Polizei hat schon wieder einen Menschen erschossen, in Wilhelmshaven starb ein Kind bei einem Brandanschlag und die Bundesregierung setzt den Familiennachzug aus. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW26

In der Nacht zu Montag (23. Juni) ist in Wilhelmshaven der vierjährige Moussa Conde bei einem Brandanschlag auf die Wohnung seiner Familie getötet worden. Sein sechsjähriger Bruder ist in kritischem Zustand im Krankenhaus. Die 37 Jahre alte Mutter und ihre weiteren vier Kinder zwischen sieben und 18 Jahren sind Medienberichten zufolge außer Lebensgefahr. Die Familie aus Westafrika lebte in der Dachgeschosswohnung eines Mehrfamilienhauses, das „ausschließlich von Menschen mit jüngerer Zuwanderungsgeschichte“ bewohnt wurde, so die taz. „Nach derzeitigem Ermittlungsstand wurde Unrat und Sperrmüll im Eingangsbereich des leerstehenden Geschäftes im Erdgeschoss eines Wohngebäudes in Brand gesetzt“, heißt es in einer Polizeimeldung. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen eines möglichen Tötungsdelikts. Die Familie sei immer wieder rassistisch beleidigt worden, u.a. vom ehemaligen Hauswart, deshalb habe die Mutter auch in wenigen Tagen umziehen wollen. Jessica Obame, Gründerin der Afrika Union Wilhelmshaven, sagte zur taz: „Das hat sie immer wieder gesagt, sie wollte dort raus.“ Wilma Nyari, die die „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“ mitgründete und heute u.a. beim „Runden Tisch Kolonialisierung/Dekolonialisierung“ in Wilhelmshaven organisiert ist, sagt, dass die Stadt kein guter Ort für Schwarze Menschen und der Rassismus schlimmer geworden sei: „Das hat mit Wilhelmshaven zu tun, aber auch mit dem allgemeinen Klima in Deutschland“. Wilma Nyari hat zusammen mit Jessica Obame eine Spendenaktion für die Familie von Moussa Conde gestartet, die neben den Kosten für die Beerdigung, auch beim „Wiederaufbau ihres Lebens“ helfen soll. „Sie haben nicht nur einen unersetzbaren Verlust erlitten, sondern auch ihr Zuhause und ihr gesamtes Hab und Gut verloren“, heißt es im Fundraiser. Der Rassismus in Deutschland nimmt nicht nur „gefühlt“ zu. Am Mittwoch (25. Juni) stellte der Antidiskriminierungsverband Deutschland (advd) das „Zivilgesellschaftliches Lagebild Antidiskriminierung“ vor und meldete einen enormen Anstieg der Diskriminierungsfälle im vergangenen Jahr, 14,4% mehr Fälle als im Vorjahr. Beratungsstellen bundesweit meldeten 3.332 neue Vorfälle, am häufigsten ging es um Rassismus (62% der Fälle). Besonders stark hat Alltagsdiskriminierung zugenommen, so der Bericht, aber auch die Diskriminierung am Arbeitsplatz und im Bildungsbereich.

Nachdem am Montag (23. Juni) spanische Behörden im Mittelmeer mehrere Leichen mit gefesselten Händen und Füßen entdeckt haben, kündigte die Bundesregierung an, künftig keine Mittel mehr für die zivile Seenotrettung zur Verfügung zu stellen. Das bestätigte das Auswärtige Amt am Donnerstag (26. Juni). Letztes Jahr hatte der Bund Seawatch, SOS Humanity und andere Hilfsorganisationen noch mit insgesamt 2 Millionen Euro gefördert. „Wir füllen seit zehn Jahren die Lücke auf dem Mittelmeer, die eigentlich von europäischen Staaten – und somit auch von Deutschland – geschlossen werden müsste. Die finanzielle Unterstützung hat für Sea-Eye zusätzliche Missionen ermöglicht und ganz konkret Menschenleben gerettet. Jetzt kann es passieren, dass wir trotz Seenotfällen im Hafen bleiben müssen. Die Förderung der Seenotrettung durch die Bundesregierung darf nicht still und unkommentiert gestrichen werden. Weniger Menschen werden dann aus Seenot gerettet“, erklärt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye und fordert: „Deshalb muss der Bundestag die Unterstützung im Bundeshaushalt fortsetzen. Der Schutz von Menschenleben und Menschenrechten darf in Deutschland nicht weniger wichtig sein als massive Investitionen in Rüstung. Das politische Signal wäre fatal. Ich appelliere an alle Abgeordneten der demokratischen Parteien im Bundestag: Sorgen Sie dafür, dass die Förderung ziviler Seenotrettung fortgeführt wird und wir weiterhin Leben retten können.“ Der deutsche Außenminister, Johann Wadephul, forderte schon vor zwei Jahren die Gelder für die Seenotrettung zu streichen, da diese „den menschenverachtenden Schleuserbanden deren Geschäft“ ermöglichen würde, so Wadephul: „Dafür sollte kein deutsches Steuergeld verwendet werden.“ Diese Behauptung ist mit keinerlei Fakten belegt, im Gegenteil: Eine Studie fand 2023 heraus, dass kein Zusammenhang zwischen Seenotrettung und der Zahl der Überquerungsversuche im Mittelmeer besteht. Das Märchen vom „Pull-Faktor“ ist ein rechtes Narrativ. Der Geschäftsführer von SOS Humanity, Till Rummenhohl, machte darauf aufmerksam, wie „absurd“ es ist, „dass so viel Geld für die Abschottung Europas ausgegeben wird, während so wenig Geld für die Rettung von Menschen offenbar immer noch zu viel ist“.

Der Großangriff auf die Sicherheit und das Leben geflüchteter Menschen ging am Freitag (27. Juni) ungebremst weiter. Der Bundestag beschloss, den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte auszusetzen. Menschen, die in Deutschland Schutz vor Gewalt oder drohender Folter erhalten, haben keine Möglichkeit mehr, ihre Angehörigen nachzuholen. Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) feiert das Gesetz als seinen Erfolg auf dem Weg der vollkommenen Abschottung Deutschlands. Zwar ist das Recht auf Familie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehalten, doch wen interessieren 2025 noch Menschenrechte? Die SPD offenbar nicht so sehr, denn die stimmte gemeinsam mit dem Koalitionspartner und AfD für die Aussetzung der Familienzusammenführung, „mit Bauchschmerzen“ natürlich, man kennt’s. Lediglich zwei Abgeordnete der SPD, Hakan Demir und Maja Wallstein, stimmten dagegen.

Die Zeit veröffentlichte am Donnerstag (26. Juni) einen Beitrag von Maxim Biller, in dem dieser unter anderem einen Witz über das Erschießen von Araber*innen macht, das Aushungern der Menschen in Gaza als „strategisch richtig“ bezeichnet und das Völkerrecht als „bigotte Beschwörungsformel“ zu einer Frage des politischen Standpunkts degradiert. (hier der archivierte Text) Nach öffentlicher Kritik entschied sich die Zeit-Redaktion, den Artikel von der Webseite zu nehmen, die Printausgabe war längst gedruckt. Der Beitrag „enthielt mehrere Formulierungen, die nicht den Standards der ZEIT entsprechen“, heißt es auf der Webseite: „Unsere aufwändige redaktionelle Qualitätssicherung hat leider nicht gegriffen. Wir haben den Text deshalb nachträglich depubliziert.“ Eine Entschuldigung oder kritische Auseinandersetzung damit, wie es der Text überhaupt in die Zeitung geschafft hat, sucht man vergebens. „Solche Texte sind kein Ausrutscher. Sie zeigen, wie tief Rassismus und Entmenschlichung in Teilen der deutschen Medien verankert sind. Sie sind Ausdruck einer Medienlandschaft, in der arabisches Leben entwertet und Gewalt gegen Araber salonfähig gemacht wird“, kommentierte Sawsan Chebli auf Instagram. Der Autor Ahmad Katlesh fragt, wie es sein kann, „dass ein Schriftsteller so etwas veröffentlichen kann – spöttisch, entmenschlichend und von der Redaktion unhinterfragt übernommen -, während ich hundertmal nachdenken muss, bevor ich überhaupt antworten kann?“ Katlesh stellt fest: „Das geht über die Grenzen hinaus. Und dies ist nur ein Beispiel von vielen, die in letzter Zeit erschienen sind und die Araber*innen ihrer Menschlichkeit berauben. Eine Entschuldigung ist nicht genug. Man stelle sich nur die Reaktion vor, wenn der Autor Araber wäre und der Witz umgekehrt wäre.“

Weitere Meldungen diese Woche

Auch diese Woche kam es wieder zu mehreren Feminiziden. Bereits am vergangenen Sonntag (22. Juni) wurde in Müllheim im Hochschwarzwald (Baden-Württemberg) eine 43-Jährige mutmaßlich von ihrem 46 Jahre alten Ehemann in der gemeinsamen Wohnung mit einem Messer getötet. Am Montag (23. Juni) tötete in Osnabrück (Niedersachsen) ein Mann seine 43 Jahre alte Ex-Partnerin auf offener Straße. Der 41-Jährige erschoss die Frau vor einem Wohnhaus im Stadtteil Schinkel und richtete die Waffe anschließend gegen sich selbst. Er starb im Krankenhaus. Täter und Opfer sollen drei gemeinsame Kinder im schulpflichtigen Alter gehabt haben. Seit 2020 habe es mehrere Verfahren gegeben und es seien Beratungsstellen involviert gewesen sein, schreibt der NDR unter Berufung auf die Staatsanwaltschaft: „Die Strafverfahren hätten aber in keinem Fall zu einer Verurteilung des 41-jährigen mutmaßlichen Täters geführt. Um was für Verfahren es sich dabei handelte, gab die Staatsanwaltschaft nicht an.“ An einer Mahnwache in Osnabrück, die vom Autonomen Frauenhaus organisiert wurde, beteiligten sich rund 500 Menschen. Am Mittwoch (25. Juni) wurde in Rathenow eine 43-jährige Frau vor einer Imbissbude („Asia-Imbiss“) mit einem Messer angegriffen und tödlich verletzt, sie starb kurz nach der Tat im Krankenhaus. Der BZ zufolge soll es sich bei der Getöteten um die Betreiberin des Imbisses handeln. In Alzenau im Landkreis Aschaffenburg (Bayern) tötete am Donnerstagabend (26. Juni) mutmaßlich ein 66-Jähriger zwei Schwestern im Alter von 64 und 69 Jahren durch „massive Gewalteinwirkung“. Laut Bayerischem Rundfunk war die Polizei zu einem „Familienstreit“ in einem Wohnhaus gerufen worden, als sie eintraf, waren beide Frauen, die in dem Haus gelebt haben, bereits tot. Der Mann soll der getrenntlebende Ehemann der 64-Jährigen gewesen sein.

In Wangen im Allgäu (Baden-Württemberg) hat die Polizei am Donnerstag (26. Juni) erneut einen Menschen erschossen. Es ist der 14. Fall tödlicher Polizeigewalt im laufenden Jahr. Der 27-jährige Asylbewerber befand sich in einer Geflüchtetenunterkunft, die Einsatzkräfte waren gekommen, um ihn zu einem Gerichtstermin abzuholen. Der Afghane habe „plötzlich“ ein Messer gezogen und die Polizist*innen bedroht. „Daraufhin machten die Beamten von der Schusswaffe Gebrauch und erschossen den Mann“, heißt es bei der Frankfurter Rundschau. Ein Polizist sei beim Einsatz schwer, aber nicht lebensbedrohlich verletzt worden. Was tatsächlich passiert ist, werden wir vielleicht nie erfahren, da es keine unabhängige Ermittlungsbehörde gibt. Andere Polizist*innen untersuchen nun den Schusswaffengebrauch ihrer Kolleg*innen. Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland 22 Menschen von den Cops erschossen, so viele wie seit 25 Jahren nicht. Wenn der Trend so weitergeht, wird 2025 ein neues Rekordjahr. Die Initiative Cilip führt eine Chronik tödlicher Polizeigewalt, seit 1976 hat sie 527 polizeiliche Todesschüsse erfasst.

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