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Israel bombardiert - Deutschland finanziert. (Foto von mir)

In grellem Tageslicht

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Deutschland streitet über Definitionen, während Wissenschaftler*innen Israels Vernichtung der Palästinenser*innen als „genozidal“ bezeichnen und Friedrich Merz die Arbeiter*innen auffordert, den Profit des Kapitals zu steigern. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW20

Die Linke hat auf ihrem Bundesparteitag in Chemnitz beschlossen, sich der „Jerusalemer Erklärung“ (Jerusalem Declaration on Antisemitism, JDA) anzuschließen, einer Antisemitismus-Definition, die als Alternative zur herrschenden Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) entwickelt wurde. Der Aufschrei war vorprogrammiert. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, behauptete, die Partei sei im Kern „getrieben von Israelhass“. Von BILD bis ZDF wurden falsche Tatsachen über die JDA verbreitet, indem zum Beispiel behauptet wurde, die JDA-Definition würde israelbezogenen Antisemitismus leugnen oder die BDS-Bewegung pauschal vom Antisemitismus freisprechen. „Die Ausgrenzung von Juden, wie sie auch die Nazis zu Beginn ihrer Terror-Herrschaft (‚Kauft nicht bei Juden‘) praktizierten, ist jetzt nach der Antisemitismus-Definition der Linken NICHT mehr antisemitisch“, heißt es beim Springerblatt. Eine glatte Lüge. Nicht überraschend, aber doch immer wieder ärgerlich. Fakt ist: Laut JDA kann sich Antisemitismus in Israelkritik ausdrücken, muss aber nicht. Die Definition erlaubt eine Differenzierung, nach der Kritik an israelischer Politik nicht per se antisemitisch ist. Die IHRA-Definition hingegen ist dazu geeignet, Kritik an Israel pauschal als antisemitisch einzustufen, weil sie schwammig ist und politisch ausgelegt werden kann, statt klare Leitlinien zu bieten. Es lohnt sich, beide Definitionen mal zu lesen (IHRA, JDA).

Die Entscheidung der Partei „Die Linke“, sich einer Definition von Antisemitismus anzuschließen, die von hunderten Wissenschaftler*innen erarbeitet wurde, kann natürlich ganz grundsätzlich kritisiert werden: warum muss sich die Partei auf eine Definition einigen? Wieso überlasst sie es nicht den einzelnen Mitgliedern, individuell zu entscheiden, welcher Definition sie folgen? Das Bekenntnis von Die Linke zur JDA ist aus meiner Sicht weniger ein definitorisches Bekenntnis als viel mehr eine politische Abgrenzung zur herrschenden Politik. Die Partei drückt ihre Opposition zu der von der Bundesregierung als Standard gesetzten und politisch missbrauchten IHRA-Definition aus. Der Bundestag hat im November eine Resolution verabschiedet, die dafür plädiert, die Vergabe öffentlicher Gelder für Kultur und Wissenschaft an die IHRA-Definition zu knüpfen. Wer Fördergelder bekommen will, muss auf Linie sein. Kritische Wissenschaftler*innen oder Künstler*innen verlieren so finanzielle Unterstützung, werden aus- oder gar nicht erst eingeladen, Projekte werden gestrichen. Das ist ein Skandal. Die IHRA-Definition ist ausdrücklich als Arbeitsdefinition und nicht als rechtsverbindlicher Text formuliert. „Sie zum faktisch bindenden Text zu machen, geht gegen ihre Rechtsnatur. Sie ist viel zu unpräzise, um Rechtssicherheit zu erzeugen oder Behördenpraxis zu etablieren“, erklärten 13 Jurist*innen in einer Stellungnahme im Verfassungsblog. Auch Itamar Mann und Lihi Yona von der Universität Haifa kritisierten die Resolution und warnten: „Der Kampf gegen Antisemitismus ist dringend und notwendig. Aber er muss auf eine Weise geführt werden, die die jüdische Pluralität stärkt und nicht schwächt. (…) Der Antisemitismus selbst wollte Jüd:innen oft vorschreiben, wie sie zu sein haben – statt dies den jüdischen Gemeinschaften selbst zu überlassen.“ Wer also jetzt „Die Linke“ für das Bekenntnis zur JDA kritisiert, zur Bundestagsresolution jedoch geschwiegen hat, beweist seine Doppelmoral. Dazu kommt, dass die Entscheidung der Partei keine Wirkung über die Parteigrenzen hinaus hat. Sie kann eine differenziertere (interne) Auseinandersetzung darüber ermöglichen, was Antisemitismus ist und was nicht. Angesichts innerparteilicher Debatten um das „Existenzrecht Israels“ und womöglich antisemitischen Aussagen einzelner Parteimitglieder, schafft sich die Partei so eine Basis für die jeweilige Bewertung und das Setzen roter Linien. Gil Shohat, Leiter des Länderbüros Israel der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv, hält „die JDA für die bessere, präzisere, geeignetere Rahmensetzung, um Antisemitismus zu erkennen“ und begrüßt „daher grundsätzlich, wenn diese Definition offiziell von Seiten der Partei anerkannt wird. Gleichzeitig müssen wir uns klar sein, dass Antisemitismus zu erkennen nicht nur mithilfe von Definitionen und Kriterien möglich ist. Es ist eine universelle Haltungsfrage, die eng verwoben ist mit dem Erkennen jedweder Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.“

Während in Deutschland über Definitionen gestritten wird, bombardierte das israelische Militär am Dienstag (13. Mai) zwei Krankenhäuser in Khan Younes und tötete palästinensischen Angaben zufolge insgesamt 28 Menschen. Unter den Toten im Nasser-Krankenhaus soll auch der palästinensische Fotoreporter Hassan Aslih sein, der dort schwer verletzt behandelt wurde. Israel beschuldigt ihn, am Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen zu sein, und versuchte ihn bereits letzten Monat mit einem Luftangriff zu töten. Aslih und fünf weitere Journalist*innen wurden dabei schwer verletzt, einer getötet. Nun ist Hassan Aslih die Nummer 205 auf der Liste der seit dem 7. Oktober 2023 in Gaza getöteten Journalist*innen. Später am Tag bombardierte das israelische Militär ein weiteres Krankenhaus. Dr. Tom Potokar, ein plastischer Chirurg, der für eine internationale Hilfsorganisation arbeitet, war im „Europäischen Krankenhaus“ als es getroffen wurde. Der BBC beschrieb er „sechs enorme Explosionen hintereinander“, die das Krankenhaus „ohne jede Vorwarnung“ direkt trafen. „Es herrschte völlige Panik“.

Über 53.000 getötete Palästinenser*innen, mindestens 15.000 tote Kinder, blockierte Lebensmittel, Wasser, Medikamente, unerbittliche Bombardierung von Krankenhäusern, Schulen und Zeltlagern, Hunger als Kriegswaffe sowie wiederholte Aufrufe israelischer Minister zur völligen Zerstörung Gazas – die Indizien für einen stattfindenden Völkermord liegen seit Monaten in grellem Tageslicht. Die niederländische Zeitung NRC Handelsblad sprach mit führenden Genozidforscher*innen (u.a. Shmuel Lederman, Dirk Moses, Melanie O’Brien, Raz Segal und Iva Vukusic), die sich einig sind. Alle bezeichnen Israels Vorgehen ausnahmslos als „genozidal“. Praktisch alle ihre Kolleg*innen würden zustimmen. „Ob ich jemanden nennen kann, dessen Arbeit ich respektiere, der glaubt, dass es sich nicht um Völkermord handelt? Nein“, sagt der israelische Wissenschaftler Raz Segal. „Wissenschaftler*innen, die sagen, dass es sich nicht um Völkermord handelt, gibt es wahrscheinlich noch“, sagt Ugur Ümit Üngör, „Aber ich kenne sie nicht.“ Es sei für viele Forschende jedoch nicht einfach, öffentlich zu sprechen, sagt der niederländischer Professor am NIOD-Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozidstudien. „Vor allem, wenn es um die Fortsetzung der Finanzierung geht.“

„Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten“, sagte Friedrich Merz in seiner ersten Regierungserklärung am Mittwoch (14. Mai). „Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können.“ Der Bundeskanzler zeigt mit diesem kurzen Zitat wessen Interessen er vertritt, wem er sich verpflichtet fühlt: Dem Kapital. Was Merz hier fordert, ist, dass die Arbeiterklasse sich mehr abrackern soll, um den Profit der Kapitalist*innen zu steigern. Der „Wohlstand des Landes“, auf den er sich bezieht, ist der Profit der Unternehmen, der ausbeutenden Klasse. Der Kapitalismus basiert auf dem System der Ausbeutung; der Abschöpfung des „Mehrwerts“, der nur durch menschliche Arbeit entsteht. Dass der BlackRock-Lobbyist Klientelpolitik macht, ist nicht überraschend. Es ist jedoch ärgerlich, dass niemand protestiert.

Weitere Meldungen diese Woche

Marie Nejar ist gestorben. Die Schwarze Deutsche Zeitzeugin der NS-Zeit war schon als Kind auf St. Pauli rassistischer Diskriminierung ausgesetzt. Goebbels persönlich soll die Anweisung gegeben haben, Nejar in NS-Propagandafilmen einzusetzen. Sie spielte an der Seite von Hans Albers und Heinz Rühmann. Später musste sie in einer Keksfabrik zwangsarbeiten. Nach dem Krieg hatte sie eine kurze Karriere als Sängerin. Der Rassismus setzte sich fort. Erst mit der Zeit merkte sie, „dass man uns ausnutzte, uns als Deppen auftreten ließ“. Mit 27 Jahren beendete sie ihre öffentliche Karriere und wurde Krankenschwester. Am Sonntag ist Marie Nejar im Alter von 95 Jahren verstorben.

Diese Woche ist auch Nadja Abd el Farrag gestorben. Die als Dieter Bohlens Partnerin „Naddel“ bekanntgewordene Schwarze Deutsche wurde ihr Leben lang von der deutschen Öffentlichkeit verlacht und gedemütigt. „Man kann mit ihrer Geschichte viel über die Grausamkeit des Nullerjahre-Fernsehens erzählen. Aber was mit Abd El Farrag passierte, folgt einem größeren Muster. Es erzählt von der Selbstverständlichkeit, mit der eine Frau klein gemacht und gehalten werden kann, die in ein ungleiches Machtgefüge geraten ist und damit öffentlich als beliebig rangierbare Verfügungsmasse markiert wurde“, schreibt Anja Rützel in einem Nachruf im SPIEGEL. Gedemütigt wurde Nadja Abd el Farrag offenbar auch von ihrem Mann. In einem Podcast erzählte sie vor ein paar Jahren von „Unterdrückung“, von finanzieller Gewalt und Ausbeutung durch Dieter Bohlen. „Ich war wie eine Bedienstete“, sagt sie. Gedemütigt habe er sie, sie würde „scheiße“ aussehen. „Er hat einen so niedergemacht (…) Ich hatte nachher zum Schluss (…) kein Selbstwertgefühl, kein Selbstvertrauen mehr“. Bohlen sei auch körperlich gewalttätig geworden. Er habe sie an den Haaren die Treppe runtergeschleift, im Keller hinter einer Stahltür eingesperrt. Nadja Abd el Farrag wurde nur 60 Jahre alt.

Auch diese Woche wurde über mehrere Feminizide berichtet. In Lahr (Schwarzwald) erschoss am Mittwoch (14. Mai) ein 30-jähriger Polizist zunächst seine 37 Jahre alte Ex-Partnerin und dann sich selbst mit der eigenen Dienstwaffe. Die Leichen wurden in einer Wohnung entdeckt, nachdem die Nachbar*innen die Polizei gerufen hatten. Am vergangenen Samstag (10. Mai) stach ein 26-Jähriger in einer Spielhalle in Fulda (Hessen) mehrfach auf eine 23 Jahre alte Frau ein und tötete sie. Täter und Opfer sollen „in einem persönlichen Verhältnis miteinander“ gestanden haben. In Nienburg (Niedersachsen) tötete am Montag (12. Mai) mutmaßlich ein 33 Jahre alter Mann seine 37-jährige Ex-Freundin auf einem Parkplatz. Er stach mehrfach auf sie ein und flüchtete anschließend mit dem Auto. Ebenfalls am Montag tötete mutmaßlich ein 38-Jähriger in Varel am Jadebusen (Niedersachsen) seine getrennt lebende 37-jährige Ehefrau. Der Täter soll die Frau mit dem Auto überfahren haben, als diese zu Fuß auf dem Gehweg unterwegs war. Gegen den Täter habe ein gerichtlich angeordnetes Annäherungsverbot gegolten. Die Getötete hinterlässt sieben Kinder.

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