Deutschland schiebt ab und Frontex will es den Kindern schmackhaft machen, Dobrindt lügt und trickst mit Skalen und Berlin streicht Vielfalt aus dem Bildungsprogramm für Kitas. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW24
In Berlin soll in Kürze ein neues Bildungsprogramm veröffentlicht werden, quasi der Lehrplan für Kitas und Kindergärten. Aktuell gilt die Version von 2014, definitiv Zeit für ein Update also. Doch wie in einem CDU-regierten Bundesland zu erwarten, ist von Progressivität keine Spur. Im Gegenteil: Anfang der Woche wurde öffentlich, dass im vorliegenden (bislang unveröffentlichten) Papier „zentrale Inhalte zur Anerkennung und aktiven Thematisierung von Diversität, queeren Lebensweisen, geschlechtlicher Vielfalt und diskriminierungskritischer Bildung komplett gestrichen oder auf ein Minimum reduziert“ worden seien, so der familien- und jugendpolitische Sprecher der SPD, Alexander Freier-Winterwer am Montag (9. Juni). Im neuen Bildungsprogramm fehle „jeder Hinweis auf diskriminierungskritische Pädagogik, geschlechtersensible Arbeit oder die Anerkennung queerer Lebensrealitäten“. Die CDU wiegelt ab und sagte dem Tagesspiegel, dass es sich um ein Papier im Entwurfszustand handle und das „Praxisbeteiligungsverfahren“ noch bis zum 26. Juni laufe. Wer genau beteiligt wird, konnte ich nicht herausfinden, das Streichen vielfaltssensibler Pädagogik riecht aber streng nach antifeministischer Intervention. Bereits vor über zehn Jahren hatte das rechtskonservative Bündnis „Demo für Alle“ begonnen, gegen die „Frühsexualisierung von Kindern“ mobil zu machen. Mit diesem diskursiven Kampfbegriff bezeichnen die Rechten jede Form der diversitätssensiblen Pädagogik, wie das Thematisieren unterschiedlicher Familienformen im Kindergarten, Kinderbücher zur körperlichen Selbstbestimmung oder queerfreundliche Inhalte jeder Art. 2013 ist es der evangelikalen Lobbygruppe gelungen, so viel Druck auf die Landesregierung in Baden-Württemberg aufzubauen, dass diese ihren Entwurf für einen vielfaltsinklusiven Bildungsplan zurückzog und letztlich eine deutlich abgeschwächtere Version verabschiedete.
Vergangenes Wochenende fand in Wernigerode (Sachsen-Anhalt) der „Harz CSD“ statt. Am darauffolgenden Mittwoch (11. Juni) wurde bekannt, dass ein 20-Jähriger zuvor gedroht hatte, die Veranstaltung anzugreifen. Er hatte in einer Kneipe damit geprahlt, Waffen und Munition zu besitzen. Bei einer Hausdurchsuchung wurden zwei Schreckschusswaffen und eine Softair-Pistole sowie Munition gefunden. Polizei und Staatsanwaltschaft zweifelten an der Ernsthaftigkeit der Drohung, sahen keine Gefahr und ließen den Mann laufen. Die CSD-Veranstalter*innen wussten bereits vor der Pride-Parade von den Ermittlungen, hatten den Mann selbst angezeigt. „Was wir nicht wussten: dass die Person weiter auf freiem Fuß ist, durch die Stadt läuft und behauptet, sie gehe gegen die CSD-Akteure vor, weil sie ihren Ruf zerstören würden“, sagte Flako Jentsch zur taz. Die Angriffe auf queere Sichtbarkeit nehmen in den letzten Jahren spürbar zu. „Queerfeindlichkeit ist spätestens seit dem vergangenen Jahr für die extreme Rechte zu einem der wichtigsten Themen geworden“, erklärt Michael Nattke, Geschäftsführer des antifaschistischen Kulturbüro Sachsen. Im vergangenen Jahr dokumentierte die Amadeu-Antonio-Stiftung „insgesamt 55 gezielte Störungen, Bedrohungen und Angriffe auf CSDs – so viele wie nie zuvor“.
Am Dienstag (10. Juni) stellte Alexander Dobrindt die aktuellen Zahlen des Bundesamts für Verfassungsschutz vor. Keine Quelle, der ich vertraue, insofern schätze ich die Aussagekraft der Daten ziemlich gering ein. Der Innenminister jedoch ist darauf angewiesen – schließlich ist der „Kampf gegen Extremismus“ eine seiner wichtigsten Aufgaben. Im Koalitionsvertrag verkündeten Union und SPD: „Wir treten allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen und jedweder Gewalt mit derselben Entschlossenheit und Konsequenz entgegen – ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.“ Die Bundesregierung macht hier bewusst keine Abstufung hinsichtlich der jeweiligen Bedrohung, auch wenn Realität bekanntermaßen anders aussieht. Alexander Dobrindt, der einst die Linkspartei verbieten lassen wollte, die AfD indes lieber „wegregieren“ will, musste sich also etwas einfallen lassen, damit das Schreckgespenst des „Linksextremismus“ nicht neben dem zunehmenden Naziterror verblasst. Der CSU’ler griff also in die Billige-Tricks-Kiste und präsentierte bei der Pressekonferenz die Zahlen kurzerhand mit unterschiedlicher Skalierung, sodass das „Linksextreme Personenpotential“ im Verhältnis größer aussieht. Er sagte wörtlich: „Gewaltorientierte Linksextremisten steigen deutlich auf 11.200“, während sich die Zahl im Vergleich zum Vorjahr in Wahrheit überhaupt nicht veränderte. Wenn mal wieder jemand ein Beispiel für Propaganda braucht: Hier, bitteschön.
Der Hessische Flüchtlingsrat machte am Donnerstag (12. Juni) auf eine besondere Widerlichkeit der europäischen Deportationsindustrie aufmerksam: Ein Kinderbuch für die eigene Abschiebung – ausgedacht und hergestellt bereits 2023 von der EU-Grenzschutzagentur Frontex. „Mein Leitfaden zur Rückkehr“ heißt die menschenverachtende Publikation, die mit bunten (und natürlich allen Diversity-Kriterien entsprechenden) Illustrationen, Kinder und Jugendliche während und nach der Abschiebung begleiten soll. „In euphemistischen Worten und in vermeintlich kindgerechter Sprache verniedlicht sie das Herausreißen Minderjähriger aus ihrem Leben“, beschreibt Netzpolitik.org das „zynische Machwerk“. Es gibt verschiedene Fassungen, für Kinder, für Jugendliche und auch für unbegleitete Minderjährige. Dazu gibt es ein „Beschäftigungsbuch“ für Kinder zwischen vier und elf Jahren, in dem sie z.B. ankreuzen können, wie sich der Abschied anfühlt oder „einige lokale Gerichte, die ich gerne probieren möchte“ zeichnen dürfen. Es ist so zynisch, dass ich inständig hoffe, dass es von einer KI erdacht wurde und nicht von einem Menschen mit schlagendem Herzen. Die Abschiebung wird als „große Veränderung“ beschrieben: „Möglicherweise erinnerst Du Dich nicht mehr an das Heimatland Deiner Familie. Vielleicht bist Du traurig darüber, dass Du Deine Freunde oder die Schule verlassen musst. Vielleicht machst Du Dir Sorgen über den Umzug und bist unsicher, wie Dein Leben danach aussehen wird“, heißt es pseudo-einfühlsam. „Alle diese Gefühle sind normal“ – pastellig-positiver Therapiesprech, um den Horror der rassistischen Deportationsmaschinerie zu verschleiern. Auch auf die Inhaftierung im Abschiebeknast werden die Kleinen vorbereitet. Unter der Überschrift „Wo bleibst du bis zu Deiner Abreise“ heißt es: „Möglicherweise bleibst Du zusammen mit anderen Migranten, die auch in ihre Heimatländer zurückkehren werden, in einer Einrichtung. (…) Möglicherweise darfst Du die Einrichtung verlassen, vielleicht aber auch nicht.“ In der Ausgabe für unbegleitete minderjährige Schutzsuchende werden die Kinder darauf hingewiesen, dass mit „Heimatland“ „auch ein anderes Land gemeint sein“ kann, „das Dich aufnehmen möchte und in das Du freiwillig reist“.
Über 6.000 Menschen wurden bis Ende März aus Deutschland abgeschoben, „überdurchschnittlich viele“, wie die Tagesschau bereits im Mai berichtete. Verantwortlich für die Massendeportationen war noch die alte Bundesregierung, aber natürlich ist auch unter Innenminister Dobrindt kein Rückgang der Zahlen zu erwarten. Dobrindt kündigte bereits vor Wochen an: „Wir werden den Familiennachzug für subsidiär Geschützte umgehend aussetzen, wir werden die sogenannte Expresseinbürgerung abschaffen, wir werden dafür sorgen, dass die freiwilligen Aufnahmeprogramme so weit wie möglich auch beendet werden und werden umgehend nach Afghanistan und Syrien Straftäter auch abschieben“. Die meisten der deportierten Menschen bleiben für die Öffentlichkeit namenlose Zahlen in der Gesamtstatistik, nur wenige Fälle bekommen mediale Aufmerksamkeit. In Naumburg (Sachsen-Anhalt) wurde ein zehnjähriges syrisches Mädchen von der Polizei aus dem Schulunterricht geholt, um sie gemeinsam mit ihrer Familie nach Bulgarien abzuschieben. „Das Mädchen soll sich aus Angst an die Lehrerin geklammert haben“, sagt Martina Fuchs, Sprecherin des Flüchtlingsrates Sachsen-Anhalt e.V. Die CDU-Innenministerin nannte das Vorgehen „rechtmäßig und mit Augenmaß“. Im März wurde eine 60-jährige, krebskranke Syrerin von der Ausländerbehörde aus dem Krankenhaus geholt und nach Bulgarien deportiert. Und diese Woche wurde eine Kita-Mitarbeiterin aus Offenbach nach Litauen abgeschoben. Die Frau war vor drei Jahren aus Afghanistan geflohen und befand sich gerade im zweiten berufspraktischen Anerkennungsjahr zur Erzieherin. Am Morgen vor der Arbeit habe die Polizei vor ihrer Tür gestanden: „Ich war im Schlafanzug. Ich durfte nur das Nötigste mitnehmen“, berichtet sie. Die Tagesschau widmete ihr einen eigenen Beitrag und bekräftigt damit mal wieder das Narrativ, dass Geflüchtete nur dann Schutz verdienen, wenn sie für die Deutschen nützlich sind. Die Erzählung vom „hart arbeitenden Flüchtling“ ist nur ein weiterer Baustein in der rassistischen Menschenverachtung, die das Abschiebesystem darstellt. Sie teilt Menschen nach ihrem vermeintlichen „Nutzen“ in wertvoll und entbehrlich ein. Beim Asylrecht dürfen aber volkswirtschaftliche Überlegungen keine Rolle spielen – die Würde eines Menschen hängt nicht davon ab, ob er Einkommenssteuer zahlt.
Weitere Meldungen diese Woche
Am Donnerstag (12. Juni) tötete mutmaßlich ein 19-jähriger Mann eine 55 Jahre alte Frau auf deren Hof in Unkenbach (Rheinland-Pfalz). Medienberichten zufolge trat er ihr in den Rücken, schlug sie auf den Kopf und stach dann mehrfach mit einem Messer auf sie ein. Bei dem Opfer soll es sich um die Mutter der 14 Jahre alten Ex-Freundin des Täters handeln. Diese soll er bereits in der Vergangenheit bedroht und belästigt haben. Der 19-Jährige flüchtete zunächst, wurde aber noch in der Nacht festgenommen.
Maja T., nicht-binäre*r Genoss*in aus Thüringen und derzeit in Ungarn inhaftiert, befindet sich seit über einer Woche im Hungerstreik, um gegen die menschenunwürdigen Haftbedingungen zu protestieren. Doch die Justiz glaubt Maja nicht, der Prozess wird fortgesetzt. „Dass die ungarischen Behörden Majas Hungerstreik nicht ernst nehmen, ist erschütternd und zeigt zugleich das Versagen des ungarischen Justizsystems. Majas Gesundheitszustand lässt keine weiteren Verhandlungen zu“, sagte Majas Vater zur taz. Am Samstag (14. Juni) findet in Jena eine bundesweite Antifa-Demo statt, die auf die Situation von Maja und allen anderen inhaftierten Antifaschist*innen aufmerksam machen will. Hier gibt’s mehr Infos.
Bei der Brandserie in Wemelskirchen (Nordrhein-Westfalen) vermuten die Ermittler*innen Brandstiftung. Am vergangenen Wochenende hatte es hier in drei Mehrfamilienhäusern kurz hintereinander gebrannt. 40 Menschen mussten von der Feuerwehr gerettet werden, zehn kamen ins Krankenhaus. Alle drei Häuser wurden mehrheitlich von „Menschen mit Migrationshintergrund“ bewohnt. Die Polizei sieht jedoch wie üblich „keinen konkreten Hinweis auf eine politisch oder ausländerfeindlich motivierte Tat“.
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