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„Sehr wahrscheinlich sind die problematischen Haltungen weiter verbreitet, als sich das in unserer Studie abbildet.“ (Foto von mir)

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Hamburgs Cops sind so rechts wie erwartet, der Leichtathletik-Weltverband will der Wissenschaft trotzen, in den USA werden Andersdenkende deportiert und Polen setzt das Asylrecht aus. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW13

Im Newsletter gestern habe ich Georg Diez zitiert, der in seiner taz-Kolumne schrieb: „Faschismus ist in vielem eine schleichende Krankheit, sie nistet sich ein, sie verbreitet sich langsam, sie verändert die Gesellschaft im Ton, im Tun, im Opportunismus auch, in der Gefälligkeit derer, die die neue Normalität mitmachen“. Diese neue Normalität hat mich diese Woche häufig beschäftigt. Haben wir uns einfach daran gewöhnt, dass internationale Verträge, Grund- und Menschenrechte nichts mehr zählen? War es schon immer so, dass Völkerrechtsbrüche als alltäglich betrachtet, Genozid als verhandelbar oder die Entführung und Deportation Andersdenkender kaum beachtet wurden? Ja, wahrscheinlich war das schon immer so, zumindest in der geographischen Peripherie, vom Zentrum der Macht aus gesehen. Am Dienstag (25. März) wurde eine türkische Doktorandin an der Tufts-Universität bei Boston im US-Bundesstaat Massachusetts auf offener Straße von Mitarbeiter*innen des Heimatschutzministeriums, dem Department of Homeland Security, gekidnappt. Die zivil gekleideten Beamt*innen stoppten Rumeysa Ozturk in der Nähe ihrer Wohnung, umzingelten sie und führten sie ab. Eine Überwachungskamera filmte den Überfall. Die Bilder sind verstörend. Zunächst fehlte von der 30-Jährigen jede Spur. Ihre Anwältin hatte keinen Kontakt zu ihr. Später kam heraus, dass die Fulbright-Stipendiatin in ein Abschiebezentrum im Bundesstaat Louisiana gebracht wurde. Ozturk hat ein gültiges Visum, doch das ist in den USA unter Trump nichts wert. Die stellvertretende Ministerin im Department of Homeland Security erklärte auf X, die „Verherrlichung und Unterstützung von Terroristen, die Amerikaner töten“ sei Grund genug für eine Abschiebung: „Ein Visum ist ein Privileg, kein Recht.“ Rumeysa Ozturk soll letztes Jahr an einem Artikel in der Uni-Zeitung mitgeschrieben haben, in dem die Hochschule aufgefordert wurde, den Genozid an Palästinenser*innen anzuerkennen. Damit gilt sie als „Hamas-Unterstützerin“. Ein Bundesgericht ordnete am Freitag an, die Deportation von Ozturk auszusetzen, damit ein rechtsstaatliches Verfahren möglich ist.

Apropos Rechtsbruch. Andrzej Duda unterschrieb offenbar am Mittwoch (26. März) ein „Gesetz zur Beschränkung von Asylanträgen“. Es sei notwendig „zur Stärkung der Sicherheit unserer Grenzen“, erklärte Polens Präsident. Das EU-Land kann nun „Notlagen“ ausrufen, die es für 60 Tage erlauben, das Grundrecht auf Asyl auszusetzen. Während einer „Notlage“ dürfen nur diejenigen Schutzsuchenden Asylanträge stellen, die „legal“ nach Polen eingereist sind. Die Menschen an der Grenze zu Belarus sind explizit ausgeschlossen. „Klar europarechtswidrige Praktiken werden in Gesetzesform gegossen – das ist eine gefährliche Entwicklung für die Rechtsstaatlichkeit in Europa“, erklärte die Referentin in der Europaabteilung von PRO ASYL, Meral Zeller: „Die Aussetzung des Asylrechts zementiert die gewaltvolle Praxis der rechtswidrigen Pushbacks an der polnisch-belarussischen Grenze. Durch das Gesetz wird sich das Leid von Schutzsuchenden weiter verschärfen.“

Wenn mich jemand nach meinen Erzfeinden fragt, nenne ich neben Julian Reichelt, Till Lindemann und Luke Mockridge immer auch Sebastian Coe. Also seitdem ich die Autobiografie von Caster Semenya gelesen habe. Coe ist seit 2015 Präsident von World Athletics, dem Leichtathletik-Weltverband und er ist rassistisch, transfeindlich und misogyn. Bereits seit 2023 sind trans Frauen von Leichtathletik-Wettbewerben ausgeschlossen, nun werden auch inter Frauen verbannt. Der Verband beschloss, einen Wangenabstrichtest einzuführen, um die „biologische Zugehörigkeit“ von Athlet*innen festzustellen, das berichtet der Guardian am Dienstag (25. März). Coe nennt das einen „wirklich wichtigen Schritt zum Schutz der Frauen“. Die Organisation Intersex International Europe (OII) sieht den Vorstoß im Einklang mit den „anhaltenden weltweiten Angriffe auf die Menschenrechte von LGBTI-Personen und die aktuelle politische Situation in den USA“. Ymania Brown, Exekutivdirektorin bei Transgender Europe (TGEU) erklärt: „Wir wenden uns entschieden gegen die zunehmende Überregulierung, Medikalisierung und Pathologisierung der Körper von trans- und intersexuellen Frauen unter dem Deckmantel der Fairness. Bei dieser restriktiven Politik geht es nicht um den Schutz des Sports – es geht um Kontrolle. Wir fordern integrative, evidenzbasierte Regelungen, die die Vielfalt der menschlichen Körper und die transformative Kraft des Sports anerkennen. Jede*r Athlet*in, unabhängig von der Geschlechtsidentität oder den Geschlechtsmerkmalen, verdient das Recht, sicher, gleichberechtigt und in Würde an Wettkämpfen teilzunehmen.“ Mit den Tests soll das gelingen, was der Wissenschaft unmöglich ist: eine klare Trennung des vermeintlich binären Geschlechts in zwei sich diametral entgegenstehenden Kategorien. „Es wird noch immer nach biologischen Faktoren gesucht, die vermeintlich gegebene und unabänderliche Differenzen bedingen würden, und die es erlaubten, eindeutig zwischen ‚Frau‘ und ‚Mann‘ zu unterscheiden“, sagte Biolog*in Heinz-Jürgen Voß bereits 2009 im Interview mit dem „Gen-ethischen Netzwerk“. Das Bild, das die Naturwissenschaft von Geschlechtsentwicklungen haben, sei „äußerst lückenhaft“, so Voß: „Biologie und Medizin sind auf dermaßen viele Faktoren gestoßen, die die Ausbildung von Genitalien beeinflussen, dass der Versuch, diese Faktoren zwanghaft zweigeschlechtlich einzuordnen, zunehmend scheitert. Die derzeitigen biologischen Modelle der Geschlechtsentwicklung werden der festgestellten Komplexität nicht mehr gerecht.“ Ein Übersichtsartikel, der 2016 in „Nature“, einer der anerkanntesten Wissenschaftszeitungen, veröffentlicht wurde, stellte klar, dass Geschlecht keinesfalls binär sei. „Die Annahme, es gebe zwei Geschlechter, ist zu simpel“, erläutert die Autorin Claire Ainsworth. Ein Geschlechtstest, wie von World Athletics beschlossen, muss sich also entscheiden, welches Merkmal über das Geschlecht „entscheidet“ – aber das ist wissenschaftlich nicht haltbar. Was ist wichtiger: Chromosomen (neben XX und XY gibt es auch XXY, X0 und weitere Variationen), Hormone (der Testosteronspiegel variiert auch innerhalb der binären Kategorien stark), Gonaden (manche Menschen haben Hoden oder Eierstöcke, manche haben beides oder keins von beiden), Genitalien: (auch hier gibt es sehr unterschiedliche Ausprägungen), Zellrezeptoren (wie ein Körper auf Hormone reagiert, ist genetisch sehr verschieden), Muskelmasse? Die Biologie gibt hier keine eindeutige Antwort – denn alle diese Merkmale können unabhängig voneinander sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Ein Geschlechtstest, der in zwei Kategorien einteilen will, ignoriert also die biologische Realität und zwingt komplexe, vielfältige Körper in ein starres System. Das ist nicht nur unwissenschaftlich, sondern auch diskriminierend und menschenrechtswidrig. Sebastian Coe hat sich vielleicht auch deshalb bereits auf Klagen eingestellt. „Ich hätte mich nie auf den Weg gemacht, die weibliche Kategorie im Sport zu schützen, wenn ich nicht bereit gewesen wäre, die Herausforderung direkt anzunehmen“, sagte er im Hinblick auf mögliche Gerichtsverfahren.

Eine am Freitag (28. März) veröffentlichte Studie der Akademie der Polizei Hamburg in Kooperation mit der Polizeiakademie Niedersachsen brachte ans Licht, was ohnehin kein Geheimnis war: Rund ein Viertel der Polizist*innen ordnet sich „politisch rechts oder rechtsaußen“ ein. Mit Blick auf die Bundestagswahl, bei der fast die Hälfte CDU/CSU und AfD wählten, ist „ein Viertel“ jetzt nicht unbedingt aufsehenerregend. Im Detail wird es dann aber doch noch interessant: 45,1 Prozent stimmen abwertenden Aussagen gegen asylsuchende Menschen zu. Nimmt man den „Graubereich“ dazu, sind es 65,7 Prozent der Befragten. Die Abwertung langzeitarbeitsloser Menschen lehnten nur 40,8 Prozent der Polizist*innen ab. Vergessen wir zudem nicht die Tatsache, dass die Umfrage praktisch unter Kolleg*innen stattfand und die „soziale Erwünschtheit“ der Antworten definitiv eine Rolle spielt. Dazu kommt: Die Teilnahme war freiwillig. Rechtsextreme Cops haben wahrscheinlich gar nicht erst mitgemacht. Eva Groß, eine der Studienleiterinnen, sagte im Interview mit der Zeit: „Sehr wahrscheinlich sind die problematischen Haltungen weiter verbreitet, als sich das in unserer Studie abbildet.“ Polizei“gewerkschaft“, CDU und AfD kritisieren die Studie

Weitere Meldungen diese Woche

Hamdan Ballal, einer der beiden Regisseure des diesjährigen Oscargewinners „No Other Land“ wurde am Montag, von mehreren israelischen Siedlern in seinem Geburtsdorf Susiya im Westjordanland überfallen. Die Angreifer drangen in sein Haus ein, schlugen ihn  zusammen. Später soll Ballal von IDF-Soldat*innen aus einem Krankwagen gezerrt und mit verbundenen Augen verschleppt worden sein. Inzwischen ist er wieder frei (ND) „Weil er unser (Leid) in die ganze Welt getragen und gezeigt hat, was die Siedler uns antun, wollen sie sich an ihm rächen, weil die ganze Welt weiß, was vor sich geht, was die Siedler uns antun“, sagte Ballals Ehefrau Lamya zu CNN.

In Niedersachsen ist die Volksinitiative „Stoppt Gendern“ krachend gescheitert. Die Landeswahlleitung teilte mit, dass lediglich 21.665 gültige Unterschriften gesammelt wurden. Es hätten mindestens 70.000 sein müssen, damit sich der Landtag mit der Forderung beschäftigt. (Queer.de)

Der Prozess gegen Daniela Klette hat begonnen. Die 66-Jährige steht in Celle vor Gericht, ihr werden versuchter Mord, unerlaubter Waffenbesitz sowie versuchter und vollendeter schwerer Raub vorgeworfen. Klettes Anwaltsteam kritisiert die Vorverurteilung seiner Mandantin: „Jeder geht von der Schuld unserer Mandantin aus.“ So werden in der Anklage z.B. Bezüge zur RAF hergestellt, obwohl die Mitgliedschaft gar nicht bewiesen wurde. Die Sicherheitsmaßnahmen seien vollkommen überzogen gemessen an den Tatvorwürfen. Daniela Klette selbst fordert ihre Freilassung und erklärte: „Ich bin mir meiner Lage bewusst. Der Prozess wird mit politischem Kalkül geführt, trotz gegenteiliger Behauptungen.“ (NDR)

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