Es ist bereits ein paar Tage her, dass der deutsche Außenminister in den Trümmern von Damaskus stand und angesichts der kompletten Verwüstung Zweifel daran äußerte, dass vor dem Krieg geflohene Syrer*innen wieder in das Land zurückkehren könnten. „Hier können wirklich kaum Menschen richtig würdig leben“, sagte Johann Wadephul und brachte damit große Teile seiner eigenen Partei und die komplette rechte Springerpresse gegen sich auf; Wie konnte er es wagen, empathisch zu reagieren und das „Abschieben über alles“-Mantra der Bundesregierung zu stören!
Doch es steckt mehr hinter den Angriffen auf den 62-Jährigen. Ein Minister, der Mitgefühl zeigt, passt nicht in ein Kabinett, das auf Härte und unerbittliches Durchgreifen setzt. Wadephuls Aussagen zeugten von einer Anteilnahme, die beim autoritären Umbau nicht nur hinderlich ist, sondern ihm sogar gefährlich werden kann. Wer Mitgefühl mit anderen Menschen zeigt, ist weniger bereit, deren Leid und Entrechtung zu akzeptieren, und neigt zur Solidarisierung. Doch Solidarität ist der größte Feind des autoritären Staates. Seit jeher versuchen Faschismus und Kapital (=Nazis und Superreiche), den Zusammenhalt der Menschen zu brechen, sie zu spalten und gegeneinander aufzubringen. Die Deutschen haben die Entsolidarisierung und das nach unten Treten ab 1933 perfektioniert und sind die Empathie kollektiv losgeworden. Das Ergebnis ist allgemein bekannt.
Heute, keine hundert Jahre später, ist das Mitgefühl wieder zum Hauptfeind der extremen Rechten geworden. Ein Blick in die USA zeigt, wie eine Zukunft aussieht, in der ein Mobber regiert, dessen Persönlichkeit nicht nur durch extreme Selbstbezogenheit, sondern vor allem durch die vollständige Abwesenheit von Empathie gekennzeichnet ist. Dass sich emotionale Kälte in Verbindung mit grausamer Häme gegen Schwächere als herrschender Politikstil des reaktionären Nationalismus durchsetzte, haben wir maßgeblich dem orangenen Mann im Weißen Haus zu verdanken, doch Trump ist auch nur das Produkt einer autoritär-faschistischen Bewegung, die weltweit an Boden gewinnt. Diese hat der Empathie schon lange den Krieg erklärt. Charlie Kirk sagte 2022: „Tatsächlich kann ich das Wort Empathie nicht ausstehen. Ich denke, Empathie ist ein erfundener New-Age-Begriff, der viel Schaden anrichtet“. Und Elon Musk, zu dem Zeitpunkt noch Trump-Buddy und Beater der US-Regierung, erklärte im Februar: „Die grundlegende Schwäche der westlichen Zivilisation ist Empathie.“
Christen, die versuchen, die Nächstenliebe loszuwerden
Evangelikale Christ*innen in den USA arbeiten schon eine ganze Weile daran, das Konzept der christlichen Nächstenliebe loszuwerden und an seiner Stelle den „strafenden Gott“ zu etablieren, der Schwäche verachtet. Seit Kurzem im Fokus: Die Empathie. Die christliche Fundamentalistin Allie Beth Stuckey veröffentlichte im Oktober 2024 das Buch „Toxic Empathy: How Progressives Exploit Christian Compassion” („Toxische Empathie: Wie Progressive christliches Mitgefühl ausnutzen“). Nur wenige Monate später erschien „The Sin of Empathy: Compassion and Its Counterfeits” („Die Sünde der Empathie: Mitgefühl und seine Fälschungen“) des rechtsaußen Theologen Joe Rigney.

US-Vizepräsident J.D. Vance versuchte in einem Interview bei Fox das Prinzip der Nächstenliebe zum egozentrierten Sich-selbst-am-nächsten-Sein umzudeuten und erklärte, das Konzept „ordo amoris“ bedeute: „Man liebt seine Familie, dann liebt man seinen Nachbarn, dann liebt man seine Gemeinde und dann liebt man seine Mitbürger im eigenen Land. Und danach kann man sich auf den Rest der Welt konzentrieren und ihm Priorität einräumen.“ Das ging sogar dem (inzwischen verstorbenen) Papst zu weit, der konterte: „Christliche Liebe ist keine konzentrische Ausweitung von Interessen, die sich nach und nach auf andere Personen und Gruppen ausdehnt.“ Die wahre „ordo amoris“, sei eine „Liebe, die Brüderlichkeit schafft, offen für alle, ohne Ausnahme.“
Sozial-Emotionales Lernen: das trojanische Pferd des Progressivismus
Die christliche Rechte in den USA lässt sich davon nicht beeindrucken. Im Gegenteil: Der Heilige Krieg gegen die Empathie wird fortgesetzt, unter anderem an Schulen. Hier ist es das „Sozial-Emotionale Lernen“ (SEL), das den Konservativen ein Dorn im Auge ist. Im Wesentlichen geht es bei SEL darum, den Schüler*innen zu vermitteln, wie sie mit ihren Emotionen umgehen, gute Entscheidungen treffen, zusammenarbeiten und sich selbst und andere besser verstehen können. In Deutschland ist der zusammenfassende Begriff „soft skills“ besser bekannt. 2022 gab es in allen 50 US-Bundesstaaten Standards für SEL in der Vorschule, doch es liefen bereits in mindestens der Hälfte der Staaten Kampagnen dagegen. In Indiana brachte der republikanische Senator Gary Byrne im Frühjahr einen Gesetzesentwurf ein, der SEL aus dem Schulalltag verbannen soll. SEL würde „den Fokus auf die akademischen Kernfächer minimieren“ und die Anforderungen an Lehrkräfte erhöhen, „die bereits behaupten, überarbeitet und unterbezahlt zu sein“, so Byrne. Ideologischer argumentieren Gruppen wie „Defending Education“, die in SEL eine linke „Indoktrinierung“ sehen, vor der sie ihre Kinder schützen wollen. Die notorische Hass-Gruppe „Moms for Liberty“ warnt, SEL dringe „in einen Bereich des Lebens des Kindes vor, in den die Schule nichts zu suchen hat“ und würde die Werte und Moralvorstellungen des Kindes „ersetzen“.

In Florida rief der Bildungsbeauftragte des ultrarechten Gouverneurs Ron de Santis 2023 die Schulen dazu auf, SEL von den Lehrplänen zu verbannen, da es unvereinbar mit dem Gesetz des Bundestaates sei. Er erklärte: „Die spaltenden und diskriminierenden Inhalte (…), die als ‚sozial-emotionales Lernen (SEL)‘ bezeichnet werden, haben in den Klassenzimmern Floridas keinen Platz.“ Das seit 1960 seinen Radikalfundamentalismus verbreitende „Christian Research Institute“ feierte im vergangenen Jahr ein Gesetz in Louisiana, das das Aushängen der „10 Gebote“ in jedem Klassenraum des Staates zur Pflicht machte. Im gleichen Atemzug wurde SEL als „Trojanisches Pferd für die Grundsätze und Sakramente des Progressivismus“ bezeichnet; Lehrkräfte würden SEL nutzen, um „oberflächliche Vielfalt und Identitätspolitik“ zu lehren und die Kinder dazu anhalten „Identität über Leistung“ zu stellen „und sich für soziale Gerechtigkeit“ zu engagieren.
Turbo-Individualismus und Antifeminismus
Doch der Kampf gegen die Empathie wird nicht nur von rechten Christ*innen geführt. Ganz vorne mit dabei sind auch die Libertären und Turbokapitalist*innen, die den totalen Individualismus zum Ziel erklären. Ganz im Sinne von Friedrich Nietzsche wird Mitleid als Schwäche angesehen, die dem persönlichen Fortkommen im Weg steht. Der Kapitalismus fördert die Individualisierung und Entsolidarisierung; Möge der Stärkste gewinnen, wer mit Schwächeren mitleidet verliert. Aus der Perspektive der Libertären, die die persönliche Freiheit des Individuums über alles stellen, muss die Empathie gesellschaftlich überwunden werden, die nur hinderlich ist. Wenn wir nicht mehr mitfühlen mit den Armen, den Obdachlosen, den Schutzsuchenden gehören steuerfinanzierte soziale Sicherungssysteme endlich der Vergangenheit an. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, wer weniger (Start-)Kapital zur Verfügung hat, hat eben Pech. Einer der berühmtesten Vertreter dieser Weltsicht ist der Milliardär Peter Thiel, der den Universalismus ablehnt, der alle Individuen als grundsätzlich gleich ansieht, und stattdessen auf anti-egalitäre Prinzipien setzt, die „überlegene Personen“ hervorbringen, die sich über die Massen erheben. Hallo Faschismus!
Mit Donald Trump hat die extreme Rechte einen Präsidenten gefunden, auf den sich libertäre Tech-Bros und christliche Nationalisten wunderbar einigen können. Bei dessen zweiter Amtseinführung bat die Bischöfin Mariann Edgar Budde den US-Präsidenten um Gnade für queere Menschen und Einwanderer*innen, die Angst vor Abschiebungen haben: „In the name of our God, I ask you to have mercy upon the people in our country who are scared now.“ Während Trump eine Entschuldigung von der „boshaften Bischöfin“ forderte, nannte der bereits erwähnte Joe Rigney Buddes Rede eine Erinnerung daran, „dass Feminismus ein Krebsgeschwür ist, das eine Politik der empathischen Manipulation ermöglicht“. Hier kommt die dritte Front im Krieg gegen die Empathie ins Spiel: Der Antifeminismus.
Empathie wird als Schwäche angesehen, als weibliche Eigenschaft, die die Gesellschaft verweichlicht. Und „der Feminismus“ ist schuld an ihrer Verbreitung. Der rechtskonservative Feldzug gegen das Mitgefühl kann nicht unabhängig vom Antifeminismus und Maskulinismus der Szene verstanden werden. Während Jungs und erwachsenen Männern erzählt wird, sie müssten hart und stark sein, um als „echte Männer“ anerkannt zu werden, werden Weichheit, Anteilnahme, Zärtlichkeit und Mitgefühl als weibische Schwächen markiert. Für Joe Rigney sind Frauen („das empathische Geschlecht“) gerade deshalb „ungeeignet“, zu regieren, „weil diese Empathie manipuliert werden könnte“.
„Suizidale Empathie“ – neurechter Kampfbegriff
Ähnliche Töne spuckt der NiUS– und Cicero-Autor Benedikt Brechtken: „Die suizidale Empathie von jungen, weißen, formal gebildeten, feministischen Frauen für den Islam werde ich nie verstehen“, twitterte der Möchtegern Musk, der es bislang nur zum Vorsitzender der JuLis in Recklinghausen geschafft hat, vor ein paar Tagen. „Suizidale Empathie“: diesen rechten Kampfbegriff, der nichts anderes als die Verschwörungserzählung vom „Großen Austausch“ in neuem Gewand darstellt, haben wir dem kanadischen Marketingprofessor und überzeugten Islamfeind Dr. Gad Saad zu verdanken. Saad veröffentlichte 2020 seinen Bestseller „The Parasitic Mind: How Infectious Ideas Are Killing Common Sense” („Der parasitäre Geist: Wie ansteckende Ideen den gesunden Menschenverstand zerstören“). Das Buch erhielt begeisterte Empfehlungen von Jordan Peterson und Elon Musk. Saad vergleicht darin „progressive Studenten, radikale Feministinnen und sogar bestimmte liberale Juden“ mit Holzgrillen, eine Spezies, die sich angeblich freiwillig einem Parasiten opfert: „Sie verinnerlichen fremde Ideen, die sie dazu bringen, gegen ihre eigenen Interessen zu handeln und im Grunde genommen Selbstmord zu begehen.“

Das Mitgefühl mit Anderen als „Selbstmord“ zu bezeichnen, ist besonders perfide, wenn man sich bewusst macht, wer sich besonders stark gegen die Empathie einsetzt: Das Militär, der Todeskult schlechthin. Und so schließt sich der Kreis und dieser Text kommt zum Ende. Wadephul hat Empathie gezeigt, eine menschliche Regung, die dem Sozialabbau im Wege steht, der Ausbeutung der Arbeiterklasse und nicht zuletzt der Militarisierung der Gesellschaft. Der autoritäre Kapitalismus braucht keine Empathie, er braucht Soldat*innen, entrechtete Arbeiter*innen und Konsument*innen.
Im Umkehrschluss brauchen wir es umso mehr: Das Mitgefühl für Mitmenschen, unabhängig davon, wo diese geboren wurden, wie sie aussehen, ob sie trans sind oder cis, eine Behinderung haben oder nicht, ohne Angesicht ihres sozialen Status und unabhängig von ihrer vermeintlichen „Nützlichkeit“. Die empathische Solidarität ist das letzte Bollwerk gegen die vollkommene Verrohung der politischen Kultur. Die echte „Brandmauer“ gegen einen darwinistischen Kapitalismus, in dem nur überlebt, wer es sich leisten kann. Und das ist keinesfalls ein Plädoyer für die Toleranz der Intoleranten. Empathie zu haben heißt nicht, „nett zu sein“ im Kampf gegen den Faschismus. Es heißt, sich der Entmenschlichung zu widersetzen. Es heißt, einer Weltordnung, die auf Dominanz, Konkurrenz und Ausgrenzung beruht, aktiv Gemeinschaft, Solidarität und Inklusivität entgegenzusetzen.
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