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Polizeigewalt ist in Berlin Alltag

Der Staat als übergriffiger Gewalttäter

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Berlins neues Polizeigesetz ist die logische Konsequenz einer herrschenden Klassenpolitik, die ihr „Sicherheitsversprechen“ auf Disziplinierung, Repression und Aufrüstung aufbaut, statt auf Fürsorge und Armutsbekämpfung.

Berlin hat ein neues Polizeigesetz. Die Novelle des „Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes“ (ASOG) passierte ohne viel Medienrummel am 4. Dezember das Parlament. „Es gehe nicht um einen übergriffigen Staat, sondern um den Schutz vor übergriffigen Gewalttätern“, heißt es in der kurzen Pressemitteilung der Senatskanzlei. Eine unaufgeforderte Klarstellung, von der die Regierenden selbst wissen, dass sie Bullshit ist. Denn wenn das ASOG eins ist, dann übergriffig. Hier ein Auszug aus den neuen Befugnissen, die die Berliner Polizei erhalten hat:

  • An sogenannten „kriminalitätsbelasteten Orte“ dürfen nicht nur weiterhin „anlasslose Kontrollen“ (auch bekannt als racial profiling) durchgeführt werden, sondern auch umfassende Videoüberwachungsmaßnahmen sowie die Auswertung des Videomaterials mit Künstlicher Intelligenz. Das gilt auch für Veranstaltungen (wie beispielsweise Demonstrationen).
  • Die Polizei darf für die Installierung von sogenannten Staatstrojanern, also Überwachungssoftware, jetzt heimlich private Wohnungen betreten.
  • Für den biometrischen Abgleich von Fotos dürfen künftig alle Aufnahmen verwendet werden, auch solche, die ohne Wissen und Einverständnis der betroffenen Person aufgenommen wurden. Die Polizei darf also beispielsweise Pressefotos von Demonstrationen durch eine KI-Software laufen lassen, um Informationen über die abgebildeten Personen zu erhalten.
  • Die Polizei darf eine biometrische Datenbank aufbauen, in der Fotos, Videos und Tonaufnahmen gespeichert werden, die zum Beispiel einfach aus sozialen Netzwerken kopiert werden. „Durch den Aufbau einer Datenbank, um biometrische Daten vorzuhalten, wären Grundrechte von Millionen, wenn nicht Milliarden von unbeteiligten Personen betroffen, die keinen Anlass für polizeiliche Überwachung gegeben haben“, erklärt David Werdermann von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) in einer Stellungnahme.
  • Die „Funkzellenabfrage“, also die Überwachung von Bewegungsdaten von Menschen, die ein Handy benutzen, darf künftig auch präventiv erfolgen und nicht erst nachdem (vermeintlich) eine Straftat stattgefunden hat. Das bedeutet, dass künftig theoretisch Jede*r in den polizeilichen Datenbanken landen kann, weil er*sie zum Beispiel an einer Demonstration teilgenommen hat. Die erhobenen Daten dürfen zudem dazu genutzt werden, eine KI zu trainieren. „Durch die Verknüpfung der erhobenen Daten mit automatisierten Analyseplattformen lassen sich detaillierte Bewegungsprofile erstellen. Dies ermöglicht Rückschlüsse auf politische Aktivitäten, soziale Beziehungen und persönliche Gewohnheiten der Betroffenen“, erklärt Berlins Datenschutzbeauftragte in einer Stellungnahme.

Martin Schwarzbeck, Autor bei Netzpolitik.org, fasst es so zusammen: ASOG „erlaubt so ziemlich alles, was an digitaler Überwachung möglich ist: Verhaltensscanner, Gesichtersuche, Palantir-artige Datenanalysen, Staatstrojaner“.

Die Law and Order Ultras von CDU und SPD haben ein Gesetz verabschiedet, über das sich die faschistischen Führer*innen der Zukunft bereits heute die Hände reiben. Denn der kommende Faschismus braucht vor allem eins: die Polizei. Sie war und ist die entscheidende Institution zur Aufrechterhaltung von Macht.

Es folgt ein minikurzer historischer Abriss (mit Engels-Zitat!)

Während bis zur Gründung des deutschen Kaiserreichs vor allem das Militär die Macht der Herrschenden stützte und beschützte, gewann ab 1871 zunehmend die Polizei an Bedeutung. Bereits 1848 wurde auf Anordnung von Friedrich Wilhelm IV. die erste bewaffnete bürgerliche Polizei gegründet, der direkte Vorläufer der heutigen Schutzpolizeien, also der uniformierte, öffentlich sichtbare Teil der deutschen Landespolizeien.

Wie Friedrich Engels in „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ schrieb, braucht der Staat diese „besondre, öffentliche Gewalt“, die über die bewaffnete Polizei hinaus „auch aus sachlichen Anhängseln, Gefängnissen und Zwangsanstalten aller Art“ bestehe. Der Law-and-Order-Apparat hat die Funktion, den Staat zu schützen, der wie Engels sagt, nötig wurde, um den Kampf der „Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen“ zu „dämpfen“ und „innerhalb der Schranken der ‚Ordnung‘“ zu halten.

Nach dem ersten Weltkrieg wurde in fast allen Teilen der Weimarer Republik die Sicherheitspolizei (SiPo) eingesetzt, eine paramilitärische Polizeieinheit, die unter anderem zur Niederschlagung von (kommunistischen) Aufständen eingesetzt wurde (sogenannter „Polizeikampf“). Bereits 1920 wurde die SiPo auf Druck Frankreichs weitegehend wieder aufgelöst und die Kräfte in die Schutz- und Ordnungspolizeien der Länder integriert.

Während des Nationalsozialismus sollte die Ordnungspolizei als Gegengewicht zur Gestapo das freundliche Gesicht des NS-Staates repräsentieren. Jedoch war „sie massiv in die Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes eingebunden“, wie es Historiker Florian Dierl in „Ordnung und Vernichtung – Die Polizei im NS-Staat.“ beschreibt. Die Polizei nahm „wichtige Funktionen bei der Verfolgungspolitik gegen Juden, ›Asoziale‹ oder Sinti und Roma wahr, z.B. wenn sie Überwachungsarbeiten leisteten, Kontrollen oder Verhaftungen durchführten und anschließend die Opfer an die Gestapo und die Konzentrationslager überstellten“.

Im Rahmen der Nürnberger Prozesse wurde nur die Gestapo zur „verbrecherischen Organisation“ erklärt, der übrige Polizeiapparat war davon ausgenommen, obwohl er „an unzähligen Verbrechen beteiligt gewesen war und hunderttausendfach gemordet hatte. Dies wurde verschwiegen, vertuscht und verharmlost“, schreibt Carsten Dams in einem Beitrag für die Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb). Eine „Entnazifizierung“ fand, zumindest in der BRD, nicht statt. Einige Polizeikarrieren gingen nahtlos weiter und neueingestellte Kräfte waren zuvor in der Wehrmacht ideologisch gefestigt worden. Eine Traditionslinie, die bis heute spürbar ist. „Polizistinnen und Polizisten haben überdurchschnittlich häufig rechte Weltbilder“, erklärt der Philosoph Daniel Loick, und Rafael Behr von der Akademie der Polizei in Hamburg gibt ihm recht.

Nicht Polizist*innen sind das Problem, die Polizei selbst ist es

Doch es ist nicht die individuelle Einstellung der Beamten, die die Polizei zu einem Organ autoritärer Gewalt machen. Umgekehrt ist es richtig: Die Institution selbst ist strukturell autoritär; ein qua Funktion gewaltbereites Instrument des Machterhalts der herrschenden Klasse. Die Vorstellung, ein paar mehr linke Cops könnten die Strukturen reformieren, zeugt von einem mangelnden Systemverständnis.

Die Funktion der Polizei war und ist, die öffentliche Ordnung zu schützen, je nach politischen Machtverhältnissen eben auch die der faschistischen Vernichtung. Dass bis heute viele Leute glauben, die Polizei sei dafür da, Menschen zu schützen, ist das Ergebnis einer ziemlich erfolgreichen Imagekampagne, auch bezeichnet als „Copaganda“. Damit ist die kulturelle Hegemonie gemeint, die schon kleinsten Kindern (Stichwort „Paw Patrol“) eintrichtert, die Polizei sei „Freund und Helfer“. (Übrigens ein Slogan, der von Heinrich Himmler großgemacht wurde, just sayin‘.) Von lustigen Tiktoks mit tanzenden Polizisten über Serien wie „Brooklyn Nine-Nine“ oder „Großstadtrevier“ bis hin zu großangelegten Kampagnen für mehr „Diversity“ bei der Polizei – in das positive Bild der Institution wird viel investiert. Dazu kommen individuelle Erfahrungen („zu mir waren die Beamten immer freundlich“) und persönliche Beziehungen („meine Cousine ist bei den Bullen und super lieb“). Kein Wunder, dass die Mehrheit kein grundsätzliches Problem mit der Staatsgewalt hat, greift diese doch in allererster Linie diejenigen an, die entweder Sauberkeit und Ordnung, das sogenannte „Stadtbild“, stören (obdachlose und/oder drogengebrauchende Menschen, Menschen ohne geregelten Aufenthalt, Sexarbeiter*innen, migrantisierte Jugendliche und andere vermeintliche Delinquent*innen) oder der herrschenden Klasse gefährlich werden könnten (Antikapitalist*innen und Antifaschist*innen). Wer nicht in eine dieser Kategorien fällt, hinterfragt selten weder die Mittel noch die Berechtigung der Polizei als Institution und sieht in der Staatsgewalt eine legitime Form der Ordnungsmacht. Eine Sichtweise, die nur selten durch „Einzelfälle“ (wie das Niederschießen eines 12-jährigen Mädchens in ihrem Zuhause) kurzfristig erschüttert wird.

Sicherheit für wen?

„Die Mehrheit der Menschen kann sich mit der polizeilichen Perspektive identifizieren, denn sie kann sich in der Welt, die die Polizei schützt, zu Hause fühlen.“ (Daniel Loick in „Kritik der Polizei“, 2018)

Für wen bedeutet die Polizei Sicherheit? Und für wen nicht? Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass die Option, die Polizei zu rufen, um eigene Interessen durchzusetzen, ein Privileg der ohnehin Privilegierten ist. So kann ein Filialleiter einen hungrigen „Ladendieb“ den Cops ausliefern, während ein Mensch ohne Papiere eine Gewalttat nicht anzeigen kann, ohne anschließend den Abschiebebehörden überstellt zu werden.

Doch ich möchte gar nicht so sehr auf die individuellen Perspektiven eingehen, sondern das gesellschaftliche Verständnis von Sicherheit betrachten. So wird oft mit einem „gefühlten“ Sicherheitsbegriff hantiert, der die schiere Präsenz von nicht-weißen Menschen oder sichtbarer Armut, zu Faktoren der „Unsicherheit“ erklärt (siehe z.B. die polizeiliche Kategorie der „kriminalitätsbelasteten Orte“). Wenn Politiker*innen von „Sicherheit“ sprechen, meinen sie selten Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe, noch seltener Schutz vor Armut und Wohnungslosigkeit. „Sicherheit“ meint meist „Innere Sicherheit“ bzw. „Nationale Sicherheit“, also der angebliche „Schutz“ vor Kriminalität, vor terroristischer oder „extremistischer“ Bedrohung innerer und äußerer Feinde, durch Überwachung, Polizeieinsätze, Grenzabschottung und militärische Aufrüstung.

„Polizeikampf“ gegen die Armen statt Bekämpfung der Armut

Das „Sicherheitsversprechen“ des Staates, das mittels Polizei und Bundeswehr eingelöst werden soll, schafft indes keine Sicherheit für die Menschen. Es sichert – wie gesagt – die Aufrechterhaltung der Ordnung. Während die soziale Sicherheit durch wachsende Armut zunehmend erodiert, investiert der Staat Milliarden, um gegen potenzielle Aufstände gerüstet zu sein. Der „Polizeikampf“ ist keineswegs nur ein historisches Konzept; klassenkämpferische Bewegungen niederzuschlagen ist bis heute eine der Kernaufgaben der Staatsgewalt im Kapitalismus.

In Zeiten des massiven Sozialabbaus, der steigenden Mieten und Lebensmittelpreise, wachsender Armut und Verelendung ist der massive Ausbau der Polizei, sowohl personell, im Budget als auch in ihren Befugnissen kein Zufall, sondern vor allem konsequent in der Logik der herrschenden Klasse. Denn die Staatsgewalt erfüllt hier eine Doppelfunktion: Sie überwacht, verfolgt und drangsaliert die Delinquent*innen und schützt das Eigentum der Vermögenden. Eine Polizei, die leerstehende Gebäude schützt, während die Zahl der Wohnungslosen immer weiter steigt, schützt nicht die Menschen, sie schützt das Kapital.

Gleichzeitig werden zunehmend gewaltvollere staatliche Disziplinierungsmaßnahmen gegen arme Menschen auf den Weg gebracht (von Komplettkürzung der Grundsicherung bis hin zur Zwangsarbeit für Geflüchtete), dazu massenweise Abschiebungen, Gewalt gegen Schutzsuchende an den Außengrenzen und Repression gegen politischen Protest. Alles Maßnahmen, die nur mittels staatlicher Gewalt durchsetzbar sind, mit einer Polizei, die sich selbst kontrolliert (lol) und einem Militär, das sein Personal wiederum vor allem aus der Klasse der finanziell Abgehängten speisen wird. Win-Win für die Herrschenden, Lose-Lose für alle anderen.

Die staatliche Aufgabe muss Fürsorge sein, nicht Repression

Wie sehr Sozialabbau und Ausbau des Polizeiapparats zusammenhängen, hat diese Woche das „Justice Collective“ anschaulich am Beispiel Berlins dargelegt. In einem 65 Seiten langen Bericht legen Lara Möller, Anthony Obst und Mitali Nagrecha dar, wie die „öffentlichen Gelder, die Berlin in die Polizei steckt, nicht dem Gemeinwohl dienen, sondern ihm schaden“. Sie fassen dafür Zahlen zusammen, die normalerweise kaum zugänglich sind und sich in schwer durchschaubaren Haushaltsdokumenten verstecken. Dem Bericht zufolge übersteigt der Berliner Polizeietat „nicht nur das gesamte Budget für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung, sondern ist auch mehr als doppelt so groß wie das Budget für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt“. Zwischen 2010 und 2027 ist das Budget für die Polizei in Berlin um 75 Prozent gestiegen (S.13f.) bei gleichzeitiger Kürzung im Bereich Soziales, Bildung und Kultur. Das „Justice Collective“ macht ganz konkrete Vorschläge zur Umverteilung der Ausgaben, um „damit soziale Strukturen zu stärken, die durch jahrelange Sparpolitik geschwächt oder handlungsunfähig gemacht wurden“, stellt aber auch klar, dass es mehr braucht als eine Umstrukturierung des Haushalts:

„Es braucht systemische Veränderungen, die ein verlässliches Bleiberecht garantieren, soziale Absicherung ohne Sanktionen ermöglichen, den Zugang zu Wohnraum demokratisieren und Ressourcen so verteilen, dass Sicherheit auf materieller Versorgung, Fürsorge und Gerechtigkeit beruht statt auf Strafe.“

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