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Weltweit werden jeden Tag 137 Frauen von einem Familienmitglied oder (Ex-)Partner getötet, schätzen die Vereinten Nationen, rund 60 Prozent aller getöteten Frauen weltweit. Foto von mir.

Zu viele Tote

In Magdeburg sind die Nebenkläger*innen im Prozess gegen den Halle-Attentäter von der Urteilsbegründung enttäuscht, in Frankfurt wird ein Femizid als „Totschlag“ verharmlost, mindestens 19 Frauen sind im Mittelmeer ertrunken und in Österreich scheinen die Menschen endgültig verrückt geworden zu sein. Der Wochenrückblick aus feministischer Perspektive. #KW52

Montag, 21. Dezember  
In Magdeburg fiel am Montag das Urteil gegen den rechtsextremen Attentäter, der vor über einem Jahr in Halle zwei Menschen tötete, nachdem er – zum Glück erfolglos – versucht hatte in die Synagoge einzudringen. Das Gericht verhängte die Höchststrafe gegen den 28-Jährigen: lebenslange Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung wegen zweifachen Mordes, mehrfachen Mordversuches sowie Volksverhetzung. Das Oberlandesgericht Naumburg stellte die besondere Schwere der Schuld fest.

Während sich Politiker*innen angesichts des Urteils selbst auf die Schulter klopfen, mahnen zivilgesellschaftliche Initiativen an, dass rechtsextreme Gewalt, Antisemitismus und Rassismus weiterhin Alltag in Deutschland sind. Reiner Haseloff, Sachsen-Anhalts Ministerpräsident, ignoriert die bittere Realität, wenn er erklärt, „alle Formen von Antisemitismus, Rassismus und Hass“ hätten in Deutschland „keinen Platz, werden konsequent verfolgt und ziehen deutliche Strafen nach sich“. Denn viel zu oft ist das Gegenteil der Fall. Die Deutsche Welle sprach mit vier Menschen aus Halle, die „nicht täglich aber immer“ Rassismus, Antisemitismus und rechten Hass erleben.

Die Kritik am Verhalten der Polizei im Zusammenhang mit dem Attentat von Jom Kippur 2019 ist mit dem Urteil gegen den Täter noch nicht vom Tisch. Im Untersuchungsausschuss des Landtags kamen Überlebende zu Wort, die der Polizei schwere Vorwürfe machen. „Sie sahen uns nicht als die Opfer, die wir waren“, sagte der Berliner Rabbi Jeremy Borovitz. Die Beamt*innen hätten die Überlebenden behandelt wie Verdächtige. „Ich hatte gerade den schlimmsten Tag meines Lebens erlebt und ich hätte mir gewünscht, dass sie das gesehen hätten“, sagte Borovitz. Ein Vorwurf, den auch die Opfer des NSU den Ermittlungsbehörden machen.

In einer Pressekonferenz der Nebenkläger*innen nannte eine Sprecherin die Urteilsbegründung „mutlos, harmlos und extrem entpolitisierend“. Das OLG hätte die Chance, „den gesellschaftlichen Kontext dieser Tat“, die „Kontinuitäten von Antisemitismus und Rassismus in unserer Gesellschaft zu benennen, aufzuzeigen und in Beziehung zu dieser Tat zu setzen (…) in den Wind geschlagen.“ Der Täter sei als „Einzeltäter“ abgetan worden.

„Wir haben eine Urteilsbegründung gehört, die und das muss ich in aller Deutlichkeit sagen, die Betroffenen in ihrer Kritik an der Polizei, wie sie sich verhalten hat an dem Tag wie sie ihre Gefühle als traumatisierte Personen missachtet hat, wie sie ihre religiösen Gefühle missachtet hat und wie sie die Personen danach behandelt haben, wie schlecht sie die Ermittlungen geführt haben, all das weggewischt hat und die Betroffenen aufgefordert hat zu einem Perspektivwechsel. Das ist – mit Verlaub gesagt – das frechste, was ich jemals von einem Staatsschutzsenat gehört habe.“

Rechtsanwältin Kristin Pietrzyk, Vertreterin der Nebenklage

Auch am Montag
In Ebersbach (Baden-Württemberg) ist Shadid N., Imam aus Pakistan, von zwei maskierten Männern totgeschlagen worden. Der 26-Jährige war mit seiner Frau beim Spazierengehen angegriffen worden. Er starb nach massiver Gewalteinwirkung gegen den Kopf noch am Tatort. Die Polizei ermittelt „in alle Richtungen“. Ich nehme diesen grausamen Vorfall in den Wochenrückblick auf, da er meiner Meinung nach in den bundesweiten Medien viel zu wenig Beachtung fand.

Dienstag, 22. Dezember
Ein Gerichtsurteil am Dienstag machte weit weniger Schlagzeilen. Das Landgericht Frankfurt verurteilte einen 43-Jährigen wegen Totschlags an seiner 24-jährigen Ex-Freundin. Der Täter hatte am 20. Oktober 2019 die Frau mit 33 Messerstichen vor einem Supermarkt „regelrecht abgeschlachtet“, wie die Frankfurter Rundschau schreibt. Für das Gericht nur „Totschlag“, weil die Tat vor Zeug*innen stattfand und der Täter sein Opfer von vorne angegriffen hatte. „Sie sind ganz knapp an den Mordmerkmalen vorbeigesegelt“, sagte der Vorsitzende Richter Jörn Immerschmitt in seiner Urteilsbegründung. Ich weiß gar nicht, wie ich sachliche Worte finden soll für diese widerwärtige Form der Verharmlosung eines grausamen Femizids. Der Richter gibt der Getöteten eine Mitschuld, sie habe „eine tragisch-fatale Fehleinschätzung“ getroffen, als sie die wiederholte Drohung ihres Ex-Freundes nicht ernstgenommen habe. Dieser hatte ihr am Tatabend erneut mit Suizid gedroht, sollte sie ihm nicht verzeihen und zu ihm zurückkehren. Daraufhin hatte die Krankenschwester ihm sarkastisch geantwortet, sie müsse ihm dann wohl ein Messer besorgen. Obwohl die 24-Jährige arg- und wehrlos gewesen sei, bewertete der Richter die Gewalttat nicht als Mord. Der Täter habe spontan „aus Frust und Wut“ gehandelt.

Der Femizid ist das grausame Ende einer Beziehung voller Gewalt. Immer wieder hatte der Täter seine damalige Partnerin verprügelt, ihr anschließend mit Suizid gedroht, sollte sie ihn verlassen. Als sie sich endlich getrennt hatte, stalkte er sie, lauerte ihr immer wieder auf. So auch am Tatabend. Dass das Gericht die Tat nicht als Mord wertet, zeugt von den tiefverwurzelten patriarchalen Denkmustern der beteiligten Richter*innen. Hier keinen niederen Beweggrund zu erkennen, das toxische Besitzdenken des Täters zu verkennen, stattdessen von „Frust und Wut“ zu sprechen, lässt ein gewisses Maß an Verständnis für das Handeln des Täters erkennen. Das Strafmaß: 12 Jahre Haft.

Mittwoch, 23. Dezember
Im Neuen Deutschland ist unter der Überschrift „Pandemie der Femizide“ ein Artikel über den Zusammenhang zwischen der Corona-Krise und der Gewalt gegen Frauen und Mädchen erschienen. Das deutsche Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ verzeichnete seit dem Beginn der Pandemie einen Anstieg der Beratungen um 20 Prozent. Beim Opferhilfeverein „Weißer Ring“ haben sich in den ersten zehn Monaten 2020 gut zehn Prozent mehr Betroffene von häuslicher Gewalt, Sexualdelikten und Körperverletzung gemeldet, als im Vorjahreszeitraum.

Weltweit werden jeden Tag 137 Frauen von einem Familienmitglied oder (Ex-)Partner getötet, schätzen die Vereinten Nationen, rund 60 Prozent aller getöteten Frauen weltweit. Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sorgen häufig für eine Verschärfung der Situation. Lockdowns und Ausgangssperren zwingen die Menschen, in ihren Wohnungen zu bleiben. Betroffene von häuslicher Gewalt haben weniger Möglichkeiten auszuweichen, viele Hilfs- und Beratungsangebote können nicht wie gewohnt arbeiten. Auch die soziale Kontrolle fehlt häufig, sichtbare Verletzungen von Gewaltopfern werden von niemandem gesehen.

Aber Frauen sind nicht nur von einem Anstieg häuslicher Gewalt betroffen. Sie leiden auch generell stärker unter den Auswirkungen der Corona-Pandemie, wie das Neue Deutschland aufzeigt: 70 Prozent des Pflegepersonals weltweit ist weiblich. Gleichzeitig leisten Frauen überproportional viel unbezahlte Care-Arbeit im Familienkreis. Unter anderem aufgrund von Schulschließungen hat die häusliche Arbeit zugenommen. Gleichzeitig kam es besonders in Branchen mit hohem Frauenanteil in der Arbeiter*innenschaft zu Entlassungen, wie Gastronomie, Tourismus, Einzelhandel und Hotellerie. Atypisch beschäftigte Arbeiterinnen in Europa haben allein im ersten Monat der Pandemie 70 Prozent ihres Einkommens verloren. Prognosen der UN gehen davon aus, dass sich der Gender Poverty Gap infolge der Pandemie weiter vergrößern werden. Darüber hinaus ist die gynäkologische Versorgung teilweise eingeschränkt. Insbesondere der Zugang zu sicheren Abtreibungen hat sich während der Pandemie deutlich verschlechtert. Die Vereinten Nationen schätzen, dass es in Folge der Corona-Krise zu Krise zu sieben Millionen ungewollten Schwangerschaften kommt.

Donnerstag, 24. Dezember
Vor der Küste Tunesiens ist ein Boot mit 37 Menschen an Bord gesunken. Mindestens 20 Menschen sind ertrunken, darunter 19 Frauen, vier davon schwanger. Wie ein Sprecher des tunesischen Verteidigungsministeriums mitteilte, habe es sich um Geflüchtete aus Ländern südlich der Sahara gehandelt. 13 Menschen wurden am Tag nach dem Unglück noch vermisst.

Die Kampagne #LeaveNoOneBehind widmete sich am Heiligen Abend der angeblichen „Willkommenskultur“ in Deutschland. Zwei Minuten und 45 Sekunden, die sich heute Jede*r nehmen sollte, um diesen kurzen Clip zu schauen:

Wenn ich noch an den Weihnachtsmann glauben würde, hätte ich dieses Jahr nur zwei Wünsche: Die Evakuierung aller Flüchtlingslager und den Rücktritt Horst Seehofers.

Freitag, 25. Dezember
Berlin hat angekündigt, ab dem neuen Jahr eine zentrale Datenbank für Wohnungslosen-Unterkünfte zu führen. Wie Stefan Strauß, Sprecher der Sozialverwaltung für Soziales erklärte, soll diese Datenbank wie ein Hotelbuchungssystem funktionieren. „Ziel ist es, die Lebenssituation wohnungsloser Menschen in unserer Stadt deutlich zu verbessern – unabhängig von Status und Herkunft“, so Strauß. Was sich vielleicht auf den ersten Blick wie eine gute Nachricht liest, ist in Wahrheit ein Armutszeugnis des Senats. Denn der Umgang mit obdach- und wohnungslosen Menschen folgt von vorneherein einer falschen Prämisse. Das Ziel müsste sein, den Menschen bezahlbare Wohnungen zur Verfügung zu stellen und nicht, sie in Sammel- und Massenunterkünften notdürftig unterzubringen. Die angekündigte Datenbank ist zudem nicht wirklich neu. Es existierte bereits ein zentrales Vermittlungssystem, die sogenannte Berliner Unterbringungsleitstelle (BUL). Diese wird jetzt reformiert und an aktuelle Standards der IT-Sicherheit angepasst. Ein großer Wurf zugunsten der geschätzten 47.000 wohnungslosen Menschen in Berlin sieht anders aus. Auch die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen kritisiert den Senat:

Schon Anfang November meldete sich die Initiative mit einer Pressemitteilung zu Wort, in der sie verschiedene Forderungen an die verantwortliche Politik richtete. Die Wohnungslosigkeit wird in Zukunft noch zunehmen, befürchtet die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen: „Seit Jahren steigen die Mieten stärker als die Löhne, Einkommen und Sozialleistungen. Dadurch kommen immer mehr Menschen in die Notlage, ihre Miete nicht mehr bezahlen zu können und ihre Wohnung zu verlieren.“

Samstag, 26. Dezember
Zum 2. Weihnachtsfeiertag, von dem keine*r weiß, warum es ihn gibt, hier eine kurze Liste der Tweets des Tages.

Sonntag, 27. Dezember
Während ich mich noch über den heutigen Impfstart freue, trendet auf Twitter #Oesterreich. Das kann nichts Gutes bedeuten, denke ich mir, klicke aber trotzdem drauf und lese fassungslos von dichtem Gedränge vor den Skiliften, überfüllten Rodelbergen und Verkehrschaos in Österreichs Skigebieten. Wie der Österreichische Rundfunk berichtete kündigte das Skigebiet Bodental bereits gestern Abend eine Straßensperre an, weil massenhaft Autos „kreuz und quer“ parkten, sodass Feuerwehr und Rettungswagen nicht mehr durchkamen.

Ich erwarte die Grenzschließung noch im Laufe des Tages. Die Ignoranz der Menschen scheint wirklich grenzenlos. In Österreich liegt die 7-Tage-Inzidenz aktuell bei 146. 5.881 Menschen sind in Folge einer Corona-Infektion verstorben. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl sind das deutlich mehr als in Deutschland. 653 Todesfälle pro eine Millionen Einwohner*innen sind es in Österreich, in Deutschland 357.

Das war der letzte Wochenrückblick in diesem Jahr. Der nächste kommt am 3. Januar.

https://twitter.com/_nasir_ahmad_/status/1342781499456761857?s=20

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. Bert Kaesser

    Ich danke Dir, liebe Pfefferhäsin, für Deine wöchentlichen Beiträge, die mich immer wieder über Themen informieren, die ansonsten nicht in mein Blickfeld gelangten. Gleichwohl fällt es mir oft sehr schwer, das, was Du schreibst, zu Ende zu lesen, weil mir übel wird, wenn ich solche unfassbaren Urteilsbegründungen lesen muss oder Berichte über das widerwärtige Verhalten meiner „Geschlechtsgenossen“.
    Ich wünsche Dir für das neue Jahr Gesundheit und Schaffenskraft für Dein politisches Engagement und uns allen Erfolg im Kampf gegen das Patriarchat mit all seinen menschenfeindlichen Auswirkungen. Glück auf!

    1. Ulla

      Danke, lieber „Bert“, Kommentare wie dieser freuen mich so sehr und motivieren mich zum Weitermachen! Es ist ja leider eher nicht zu erwarten, dass dieses Aufmerksammachen nicht mehr gebraucht würde.

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